Leitsatz (amtlich)
Der Senat hält an seiner Rechtsprechung, (BSGE 12, 226), wonach der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung steht, wer infolge Minderung seines Leistungsvermögens zwar in mehr als geringfügigem Umfange, nicht aber für die übliche Dauer der Arbeitszeit beschäftigt werden kann (AVAVG § 76 Abs 1 Nr 2), jedenfalls für die Zeit bis 1957 fest, weil für diese Zeit noch nicht gesagt werden kann, daß Halbtagsbeschäftigungen schon so verbreitet waren, daß man sie ohne Prüfung als üblich ansehen konnte, (Festhaltung BSG 1960-06-28 7 RAr 16/59 = BSGE 12, 226).
Normenkette
AVAVG § 76 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1957-04-03
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 17. Januar 1961 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der im Jahre 1900 geborene Kläger ist gelernter Schmied und war bis 1939 (Einberufung zur Wehrmacht) als Schmiedemeister tätig. Nach Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft war er beim Bahnbetriebswerk G vom 11. März 1947 bis zum 3. Dezember 1954 als Schlosser und Schmied, vom 1. Januar 1955 als Wagenschlosser auf dem Verschiebebahnhof und von Oktober 1955 bis zum 11. Dezember 1956 als Wagenputzer beschäftigt. Vom 12. Dezember 1956 an war er wegen Herzbeschwerden arbeitsunfähig krank. Er wurde zum 1. Januar 1957 entlassen. Seit dem 19. August 1957 bezieht er Rente wegen Berufsunfähigkeit und Zusatzrente von der Bundesbahnversicherungsanstalt.
Am 27. August 1957 meldete sich der Kläger beim Arbeitsamt (ArbA) arbeitslos und stellte Antrag auf Arbeitslosengeld (Alg), wobei er angab, er könne wegen seines Gesundheitszustandes zwar nicht mehr seine schwere Berufsarbeit ausüben, sei aber in der Lage, leichte Arbeit zu verrichten, z. B. eine Tätigkeit als Bote. Der Arbeitsamtsarzt stellte bei dem Kläger Herzmuskelschwäche stärkeren Grades und Brustkorbstarre sowie Atemnot und Blaufärbung der Lippen (Cyanose) bereits in Ruhe fest und hielt ihn nicht mehr für geeignet, eine Arbeitnehmertätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuführen. Auf Grund dieses Befundes lehnte das ArbA durch Bescheid vom 18. September 1957 den Antrag des Klägers ab; sein Widerspruch wurde durch Bescheid vom 12. November 1957 zurückgewiesen. Im Laufe des Klageverfahrens wurde der Kläger durch den Facharzt für innere Krankheiten Dr. S in G untersucht. Dieser hielt ihn für eine nennenswerte körperliche und geistige Tätigkeit nicht mehr für verwendbar, zumal eine solche Tätigkeit seine Gesundheit weiter gefährden könne. Das Sozialgericht (SG) wies daraufhin durch Urteil vom 28. April 1959 die Klage ab, weil der Kläger aus gesundheitlichen Gründen der Arbeitsvermittlung nicht mehr zur Verfügung stehe. Gegen dieses Urteil legte der Kläger Berufung ein und behauptete, noch zu leichten Arbeiten im Sitzen imstande zu sein. Er wies eine Bescheinigung des praktischen Arztes Dr. S vom 19. September 1957 vor, der ihn bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30-40 v. H. noch für eine solche Tätigkeit für fähig hielt. Weiterhin berief sich der Kläger darauf, daß er seit dem 6. November 1959 bei einem Filmunternehmen in Göttingen als Pendler der Wochenschau täglich etwa 6 Stunden beschäftigt sei. Er habe an 5 Tagen in der Woche die Wochenschau in einem Koffer, der etwa 10 Pfund wiege, zu den einzelnen Vorstellungen der zugehörigen Filmtheater zu bringen, und zwar von 13.30 Uhr ab bis 20.30 Uhr. Durch Urteil vom 17. Januar 1961 hob das Landessozialgericht (LSG) das SG-Urteil und die Bescheide des ArbA auf und verurteilte die Beklagte, an den Kläger vom 27. August 1957 ab für 156 Tage Alg zu zahlen. Das LSG war der Ansicht, daß der Kläger eine leichte Beschäftigung von mehr als 24 Stunden wöchentlich übernehmen könne und damit der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehe. Zwar habe das Bundessozialgericht (BSG) in BSG 11, 16 und 12, 126 ausgesprochen, daß ein Arbeitsloser, der z. B. wegen häuslicher Bindungen nur für eine wöchentliche Arbeitszeit von 30 Stunden verfügbar sei, Unterstützung erhalten könne, während dem Arbeitslosen, der körperlich nicht länger als 30 Stunden zu arbeiten in der Lage sei, dessen Leistungsvermögen also eingeschränkt sei, die Unterstützung zu versagen sei. Dabei sei doch die eine Arbeitskraft nicht wertvoller als die andere. Der Gesetzgeber habe nicht beabsichtigt, den nach seinem Leistungsvermögen behinderten Arbeitslosen durch § 76 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) schlechter zu stellen als nach bisherigem Recht. Nach dem Wortlaut des § 76 i. V. m. § 66 AVAVG stehe zeitlich auch derjenige Arbeitslose der Arbeitsvermittlung zur Verfügung, der nicht voll, aber immerhin oberhalb der Geringfügigkeitsgrenze arbeiten könne. § 76 Abs. 1 lasse somit erkennen, daß die üblichen Bedingungen, vom Umfang her gesehen, stets erfüllt seien, wenn die Grenze der Geringfügigkeit überschritten werde. Hieraus ergebe sich, daß in allen Fällen, in denen nur eine zeitliche Einschränkung der Verfügbarkeit bestehe, die besondere Prüfung, ob auch geeignete Arbeitsplätze auf dem in Betracht kommenden Arbeitsmarkt für eine zeitlich begrenzte Tätigkeit vorhanden seien, entfalle. Wenn der Gesetzgeber in § 87 Abs. 5 AVAVG (Rentenbezieher) Vorschriften über die Dauer des Anspruchs auf Alg für derart in ihrem Leistungsvermögen eingeschränkte Arbeitslose getroffen habe, müsse er davon ausgegangen sein, daß sogar Arbeitslose, die erwerbsunfähig i. S. des § 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) seien, die Voraussetzungen zum Bezug von Alg dem Grunde nach erfüllten, d. h. nach ihrem Leistungsvermögen noch imstande seien, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben. Die Gesetzessystematik zwinge daher dazu, die von einem erwerbsunfähigen arbeitslosen Rentenbezieher noch zu verrichtenden Tätigkeiten als den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts entsprechend anzusehen. Für diese Auslegung des § 76 Abs. 1 sprächen auch praktische Erwägungen. In allen Fällen, in denen die Verfügbarkeit des Arbeitslosen zeitlich eingeschränkt sei, brauche dann nicht geprüft zu worden, ob auch geeignete Arbeitsplätze für eine solche zeitlich eingeschränkte Tätigkeit vorhanden seien. Es genüge, wenn sich der Arbeitslose zu einer zeitlich über die Geringfügigkeit hinausgehenden Arbeit zur Verfügung stelle. Hierdurch werde es dem ArbA sowie dem Gericht ermöglicht, in kurzer Zeit über die Sache zu entscheiden. Folge man dagegen der Auslegung des BSG, so müsse in jedem einzelnen Falle geprüft werden, ob in der Zeit, in der sich der Arbeitslose arbeitslos melde, Arbeitsverhältnisse in den Beschäftigungen, für die der Arbeitslose bei verständiger Würdigung des Einzelfalls in Betracht komme, mit einer beschränkten Arbeitszeit in nennenswertem Umfang eingegangen zu werden pflegten. Der Zweck des AVAVG, schnellstens klare Verhältnisse zu schaffen, könne bei solch schwierigen, zeitraubenden und unzuverlässigen Ermittlungen nicht erreicht werden. Das LSG ließ die Revision zu.
Die Beklagte legte gegen das ihr am 27. April 1961 zugestellte Urteil am 18. Mai 1961 Revision ein und begründete sie nach Fristverlängerung (§ 164 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) am 24. Juli 1961. Sie rügt Verstöße gegen die §§ 103, 128 SGG und §§ 58, 76 Abs. 1 AVAVG und trägt vor, aus den ärztlichen Gutachten ergebe sich nicht, daß der Kläger zu mehr als halbtägiger Beschäftigung in der Lage gewesen sei. Bei der Beschäftigung als Bote handele es sich um eine typische Invalidentätigkeit; es könne deshalb durch sie nicht die Verfügbarkeit des Klägers dargetan werden, zumal diese Arbeit im Wohnbereich des Klägers einmalig sei. Bei Personen, die wegen ihres Gesundheitszustandes keine Vollarbeit verrichten könnten, genüge es nicht, daß sie zu mehr als geringfügiger Beschäftigung in der Lage seien; es müsse vielmehr geprüft werden, ob derartige Verrichtungen auf dem für den Betreffenden in Frage kommenden Arbeitsmarkt auch üblich seien. Eine andere Auslegung verstoße gegen § 36 AVAVG, wonach die Vermittlung in Arbeit den Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung ergehe.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des LSG Niedersachsen vom 17. Januar 1961 die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Hildesheim vom 28. April 1959 zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er trägt vor, eine verschiedene Behandlung der durch § 76 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AVAVG erfaßten Gruppen sei nicht gerechtfertigt und vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt. Aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes sei auch nicht zu entnehmen, daß eine Verschlechterung gegenüber dem bisherigen Rechtszustand gewollt war. Personen, die wegen ihres Gesundheitszustandes nur eine Halbtagsbeschäftigung ausüben könnten, stünden ohne besondere Prüfung der Üblichkeit solcher Beschäftigungsverhältnisse der Arbeitsvermittlung zur Verfügung; sonst hätte die Vorschrift des § 87 Abs. 5 AVAVG keinen Sinn. Eine andere Auslegung würde die Arbeitsämter auch mit nicht zu bewältigenden Ermittlungen und Prüfungen im Einzelfalle belasten.
II.
Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision ist zulässig und begründet.
1. Zunächst rügt die Beklagte zu Recht eine Verletzung der §§ 103, 128 SGG. Das LSG hat aus den vorliegenden Gutachten über das Leistungsvermögen des Klägers geschlossen, daß der Kläger zur Zeit seiner Arbeitslosmeldung eine leichte Beschäftigung von mehr als 24 Stunden in der Woche übernehmen konnte. Diese Folgerung ist aber durch die Gutachten nicht gedeckt. Laut Votum des Arbeitsamtsarztes Dr. S vom 2. September 1957 war der Kläger nach seinem Leistungsvermögen nicht mehr imstande, eine Arbeitnehmertätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben; es liege bei ihm auch Arbeitsunfähigkeit i. S. der Krankenversicherung vor, und er sei weder als Metallhilfsarbeiter noch als Bote oder Pförtner zu vermitteln. Nach Meinung des beratenden Arztes Obermedizinalrat Dr. B vom 24. Oktober 1957 sprechen sowohl die vom Kläger selbst angegebenen Beschwerden als auch die erheblichen krankhaften Befunde gegen die Ausübung einer leichten körperlichen Tätigkeit und schon gar gegen eine Tätigkeit als Bote oder ähnliche Verrichtungen, da sein Luftmangel, der nach eigenen Angaben selbst bei geringen Belastungen auftrete, solche Arbeiten nicht zulasse. Eine gewisse Tätigkeit im Sitzen, aber mit Unterbrechungen, wäre noch zumutbar, wenn nicht von vornherein die notwendigen Wege bis zur Arbeitsstätte und zurück bereits eine so starke Belastung darstellten, daß er als überanstrengt anzusehen wäre. Eine mehr als 40- stündige wöchentliche Tätigkeit könne von dem Kläger nicht gefordert werden, da er selbst bei geringster körperlicher Anstrengung unter Atemnot und Schwindelgefühl leide. Diese Ansicht hat Dr. B in seinem Gutachten vom 23. Dezember 1957 nochmals bestätigt. Wenn es in den beiden Stellungnahmen heißt, daß der Kläger eine Tätigkeit von mehr als 40 Stunden nicht mehr ausüben könne, so durfte das LSG daraus noch nicht ohne weiteres schließen, daß er eine Arbeit von weniger als 40 Stunden, jedoch mehr als 24 Stunden in der Woche verrichten könne. Der Facharzt für innere Krankheiten Dr. S gelangt am 28. April 1959 zu dem Ergebnis, der Kläger sei auch jetzt für eine nennenswerte körperliche und geistige Tätigkeit nicht mehr verwendbar, besonders im Hinblick darauf, daß dies eine weitere Gefährdung seiner Gesundheit zur Folge haben könne. Seiner Ansicht nach war der Kläger ab August 1957 nicht in der Lage, Lohnarbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Das LSG führt hierzu aus, der Gutachter habe damit in dem Termin vor dem SG am 28. April 1959 sagen wollen, der Kläger käme zwar nicht mehr für eine ganztägige, wohl aber noch für eine mehr als geringfügige Lohnarbeit in Betracht. Doch ergibt sich das aus dem Gutachten nicht. Vielmehr sagt Dr. S klar und eindeutig, daß der Kläger überhaupt keine Wohnarbeit mehr leisten könne. Alle Gutachter stimmen mithin darin überein, daß er keine der üblichen Arbeitnehmertätigkeiten mehr zu verrichten vermag. Demgegenüber will die Bescheinigung des praktischen Arztes Dr. S vom 19. September 1957, er kenne den Kläger seit Jahren als Patienten, dieser sei seines Erachtens auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch zu 30-40 % erwerbsfähig, wenig besagen, weil Wortlaut und Inhalt zu unbestimmt sind. Zumindest hätte Dr. S angeben müssen, für welche Beschäftigung er den Kläger noch als verwendbar ansieht.
Die Feststellung des LSG, aus dem Gutachten ergebe sich, daß der Kläger noch für eine geringfügige Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in Betracht komme, ist deshalb unter Verletzung der §§ 103, 128 SGG zustande gekommen. Das LSG hätte die Gutachter zumindest nochmals darüber hören müssen, ob sie der Ansicht gewesen seien, der Kläger komme zwar für eine 40 stündige Arbeitnehmertätigkeit nicht mehr in Betracht, wohl aber für eine solche von über 24 Stunden. Von dieser Aufklärung durfte das LSG nicht deshalb absehen, weil der Kläger seit dem 6. November 1959 bei mehreren Filmtheatern als Pendler der Wochenschau tätig ist; denn bei jenen Verrichtungen handelt es sich nur um leichte Botengänge. Das LSG hätte deshalb klären müssen, welche Anforderungen sie an das Leistungsvermögen stellen, ob überhaupt eine reguläre Arbeitnehmertätigkeit vorliegt oder etwa eine Beschäftigung besonderer Art, die auch von jemandem ausgeübt werden kann, der wegen seines Gesundheitszustandes überhaupt zu keiner regulären Arbeit mehr fähig ist. Für das letztere spricht der dem Kläger gezahlte Lohn von unter 1,- DM die Stunde. Dieser ist so niedrig, daß darin schwerlich eine Lohnarbeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erblickt werden kann.
Unter diesen Umständen muß das Urteil des LSG schon deshalb aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden, weil die Rügen aus den §§ 103, 128 SGG durchgreifen.
2. Sollte das LSG auf Grund seiner neuen Feststellungen zu dem Ergebnis kommen, daß das Leistungsvermögen des Klägers für eine mehr als geringfügige Tätigkeit ausreicht, so hat es weiter zu prüfen, ob er eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausüben kann.
Durch § 74 AVAVG ist die Verfügbarkeit für die Arbeitsvermittlung zu einer selbständigen Anspruchsvoraussetzung für die Leistungen der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe (Alhi) gemacht worden. Damit ist dem Gedanken des § 36 AVAVG Rechnung getragen, daß die Vermittlung in Arbeit diesen Leistungen vorgeht. Verfügbar ist deshalb nur, wer für eine Vermittlung als Arbeitnehmer in Betracht kommt (§ 76 Abs. 1 AVAVG). Alg und Alhi darf nur an solche Arbeitslosen gewährt werden, die der Vermittlung zur Verfügung stehen und deren Arbeitslosigkeit lediglich, mangels offener Arbeitsstellen nicht beendet werden kann. Eigenschaften, die der Arbeitslose selbst haben muß (ernstliche Bereitschaft, Leistungsvermögen, Nichtbehindertsein), werden in Beziehung gesetzt zu Umständen, unter denen er den Gegebenheiten des Arbeitslebens gegenübergestellt wird (Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes, im Arbeitsleben herrschende Verkehrsauffassung über die Vermittlung als Arbeitnehmer). Der Arbeitslose muß also u. a. nach seinem Leistungsvermögen imstande sein, die privatrechtlichen Pflichten aus einem unter üblichen Bedingungen eingegangenen Arbeitsverhältnis zu erfüllen.
Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 30. Oktober 1959 (BSG 11, 16) dargelegt, daß das Leistungsvermögen des Arbeitslosen sich in der Regel auch auf die übliche Dauer der Arbeitszeit und auf ihre Verteilung erstrecken muß. Eine Übung sei anzunehmen, wenn Arbeitsverhältnisse unter diesen Bedingungen in nennenswertem Umfange eingegangen zu werden pflegten; es brauche nicht die Mehrzahl zu sein. Zu berücksichtigen sei, in welchem zahlenmäßigen Umfang Arbeitsverhältnisse dieser Art überhaupt vorhanden seien. Wenn auch die "Lage" des Arbeitsmarktes bei der Prüfung, ob der Arbeitslose ihm zur Verfügung stehe, unbeachtet bleiben müsse, so könne doch die strukturelle oder sonstige Entwicklung des Arbeitsmarktes beachtlich sein. Denn es sei eine Tatsache, daß die fortschreitende Mechanisierung der Arbeit bis zur Automatisierung eine wesentliche Änderung zahlreicher Arbeitsverrichtungen mit sich bringe, wie auch die Erschöpfung der Arbeitskraftreserven durch die Vollbeschäftigung die Betriebe zwinge, auf Arbeitskräfte zurückzugreifen, die nicht mehr voll dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden, und zu einer Umgestaltung der Arbeitsbedingungen führe. Unbestreitbar sei zwar grundsätzlich immer noch die 45-bis 48 stündige Arbeitszeit üblich. Aber daneben bestünden in bestimmten Berufen Arbeitsverhältnisse von zwar mehr als 24, aber weniger als 45 bis 48 Stunden.
Der Senat hat weiter in einem Urteil vom 28. Juni 1960 (BSG 12, 226) ausgeführt, alle drei Merkmale (Nr. 1 bis 3) des § 76 Abs. 1 AVAVG stünden im Zusammenhang mit dem Erfordernis, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben. Sei das Leistungsvermögen beeinträchtigt, so sei der Arbeitslose für die Arbeitsvermittlung also nur verfügbar, solange er diesen üblichen Bedingungen entsprechen könne. Hierzu müßten Ermittlungen angestellt und tatsächliche Feststellungen getroffen werden.
Im Gegensatz zu § 76 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG, wonach es für die darin genannten Personen genügt, wenn sie eine Beschäftigung von mehr als geringfügigem Umfang annehmen können, ohne daß jeweils zu prüfen ist, ob derartige Beschäftigungen auch üblich sind (vgl. Urteile des Senats vom 3. Juli 1962 - 7 RAr 45/62 und 60/61), enthält Abs. 1 Nr. 2 keine Bezugnahme auf die Geringfügigkeitsgrenze des § 66 AVAVG. Es kann nicht angenommen werden, daß der Gesetzgeber bei dieser verschiedenen Gestaltung der Nummern 2 und 3 beide Arbeitslosengruppen gleich behandelt wissen wollte. Würde man bei Leistungsgeminderten eine Beschäftigung von mehr als geringfügigem Umfang zur Bejahung der Verfügbarkeit genügen lassen ohne Rücksicht darauf, ob dies den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes entspricht, so wären diese in der Mehrzahl der Fälle nicht zu vermitteln und erhielten dennoch Alg. Damit bliebe der in § 36 AVAVG niedergelegte Grundsatz, daß die Vermittlung in Arbeit oder Berufsausbildung den Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung und Alhi vorgeht, unbeachtet. Wenn der Gesetzgeber in § 76 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG diesen Grundsatz aufgelockert und einem bestimmten Personenkreis eine Vergünstigung bezüglich der Dauer der Arbeitszeit eingeräumt hat ohne Rücksicht darauf, ob dies den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes entspricht, so wollte er damit insbesondere solchen Personen, zumal Frauen, eine bevorzugte Stellung einräumen, die an sich auf dem Arbeitsmarkt voll verwendbar sind, aber durch gewisse unverschuldete Umstände und oft nur vorübergehend die übliche Dauer der Arbeitszeit nicht einhalten können. Diese Sonderstellung darf wegen des Ausnahmecharakters der Regelung und wegen des vom Gesetzgeber selbst begrenzten Rahmens hinsichtlich des Personenkreises nicht im Wege der Analogie auf andere Gruppen ausgedehnt werden.
Die bevorzugte Behandlung von Arbeitslosen, die infolge besonderer Umstände wie tatsächlicher oder rechtlicher Bindungen keine Vollarbeit, wohl aber eine solche von mehr als geringfügigem Umfang annehmen können, rechtfertigt sich durch die Erwägung, daß der durch Nr. 2 erfaßte Personenkreis in der Regel anderweit Rente oder Sozialleistungen aus der Unfall-, Arbeiterrenten-, Angestelltenversicherung oder dergleichen bezieht und infolgedessen eines besonderen Schutzes im Falle der Arbeitslosigkeit nicht bedarf, während die in Nr. 3 genannten Personen meist keine solchen Bezüge haben, sondern von Einkünften aus einer Arbeitnehmertätigkeit abhängig bleiben. Sie sind daher im Fall der Arbeitslosigkeit in erheblich größerem Umfange als die in Nr. 2 Genannten auf Alg oder Alhi angewiesen. Diese Gruppe war schon früher gegenüber den in der Arbeitsfähigkeit Geminderten privilegiert. Bereits nach § 87 a Abs. 2 AVAVG a. F. war leistungsberechtigt, wer infolge persönlicher oder vertraglicher Bindungen wenigstens eine mehr als geringfügige Beschäftigung im Sinne des damaligen § 75 a Abs. 2 AVAVG a. F. auszuüben vermochte. Bei dieser unterschiedlichen Lage der in § 76 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 AVAVG n. F. erfaßten Personenkreise stellt es keinen Verstoß gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 des Grundgesetzes) dar, wenn in Nr. 3 auf die Prüfung verzichtet wird, ob eine Beschäftigung mehr als geringfügigen Umfangs üblich ist, nicht dagegen bei den infolge ihres Gesundheitszustandes nicht voll Arbeitsfähigen der Nr. 2. Es soll zwar nicht bestritten werden, daß im Endergebnis die Arbeitskraft des einen ebenso wertvoll ist wie die des anderen; aber der Senat ist an diese unterschiedliche Regelung des Gesetzes gebunden und daher außerstande, im Wege der Auslegung die unter Nr. 2 fallenden Arbeitslosen den unter Nr. 3 erfaßten gleichzustellen.
Dem LSG kann ferner nicht gefolgt werden, wenn es ausführt, falls man von einem Arbeitslosen fordern wollte, daß er auch zeitlich voll arbeitsfähig sein müsse, sofern auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur Vollarbeit üblich ist, wäre ein Empfänger von Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit so gut wie niemals verfügbar. Bei solchen Personen ist im Gegenteil das Leistungsvermögen in zahlreichen Fällen noch für leichte Arbeit wie als Pförtner, Bote, Wachmann, Lager- oder Werkstattschreiber ausreichend. Sie können deshalb eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch ausüben, wenn sie auch häufig nur schwer zu vermitteln sind, weil die Betriebe solche Stellen vielfach mit den leistungsgeminderten Arbeitnehmern aus den eigenen Reihen besetzen. Bei der Auslegung, die das LSG dem § 76 gibt, könnten jedoch Arbeitslose Leistungen nach dem AVAVG beziehen, die für die Übernahme solcher Tätigkeiten überhaupt nicht mehr in Betracht kommen.
Auch aus § 87 Abs. 5 AVAVG ist nichts zugunsten des Klägers herzuleiten. Danach ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld über 156 Tage hinaus während einer Zeit, für die dem Arbeitslosen ein Anspruch auf Rente wegen Erreichung des 65. Lebensjahres oder wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit aus der Rentenversicherung der Arbeiter, der Rentenversicherung der Angestellten oder der knappschaftlichen Rentenversicherung oder auf ähnliche Bezüge öffentlich-rechtlicher Art zuerkannt ist. Denn mit dieser Vorschrift ist nicht etwa gesagt, daß ein Empfänger der darin genannten Bezüge generell der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht und daß nur wegen der anderweitigen Bezüge sein Anspruch auf Alg ruht. Vielmehr wird als selbstverständlich vorausgesetzt, daß diese Personen im konkreten Falle noch für die Arbeitsvermittlung verfügbar sind; denn andernfalls hätten sie nach den §§ 74, 76 AVAVG keinen Leistungsanspruch. Das Ruhen des Anspruchs setzt begrifflich voraus, daß sonst seine Voraussetzungen erfüllt sind.
Der Senat verkennt nicht, daß insofern eine gewisse Unbilligkeit vorliegt, als jemand, der wegen verminderten Leistungsvermögens eine Beschäftigung mehr als geringfügigen Umfanges ausübt, zwar beitragspflichtig ist, aber im Falle der Arbeitslosigkeit keine Leistungen erhält, wenn derartige Beschäftigungen nicht üblich sind, obwohl der Arbeitslose wie bisher bereit und auch in der Lage ist. Aber das AVAVG kennt solche Inkongruenz an mehreren Stellen (vgl. § 75 Abs. 3 bis 5 AVAVG).
Auch kann für das in dem anhängigen Rechtsstreit maßgebende Jahr 1957/58 noch nicht davon ausgegangen werden, daß Beschäftigungen mehr als geringfügigen Umfanges (sog. Halbtagsbeschäftigungen) schon so verbreitet waren, daß man sie ohne besondere Prüfung als üblich ansehen könnte. Wohl besteht eine Entwicklung in dieser Richtung, indem im Laufe der letzten Jahre Halbtagsbeschäftigungen in größerem Umfange als früher üblich geworden sind. Jedoch waren sie 1957/58 in Göttingen noch nicht so zahlreich, daß man sie ohne weiteres als Beschäftigungen unter den üblichen Bestimmungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ansehen dürfte.
Gegen die vorstehende Auslegung des § 76 Abs. 1 Nr. 2 AVAVG kann nicht etwa eingewandt werden, daß sie praktisch nicht durchführbar sei, weil sie bei den Arbeitsämtern zu viel und unnötigen Aufwand verursache. Gewiß wäre es für die Behörden der Arbeitsverwaltung einfacher, wenn sie bei einem Leistungsvermögen zu mehr als geringfügiger Tätigkeit nicht zusätzlich zu prüfen hätten, ob derartige Beschäftigungsverhältnisse üblich sind. Jedoch sind die Dienststellen der Beklagten nicht überfordert, wenn sie hierzu Ermittlungen anzustellen haben; denn sie kennen den bezirklichen Arbeitsmarkt und die Arten der vorkommenden Beschäftigungsverhältnisse und überblicken demzufolge, ob Halbtagsbeschäftigungen in ihrem Bereich üblich sind oder nicht.
Was endlich das Argument des Klägers betrifft, das Ergebnis stelle eine vom Gesetzgeber ungewollte Verschlechterung gegenüber dem bisherigen Rechtszustand dar, so kann dahinstehen, ob dies der Fall ist. Würde die Frage bejaht, so wäre die Verschlechterung eine zwangsläufige Folge der Umstellung von dem früheren Arbeitsfähigkeitsbegriff (§ 88 AVAVG a. F.) auf die Verfügbarkeit für die Arbeitsvermittlung nach neuem Recht (§ 76 AVAVG n. F.) und müßte wie diese als vom Gesetzgeber durchaus beabsichtigt gelten.
3. Dem LSG, an das die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückgeht, bleibt auch die Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits überlassen.
Fundstellen