Leitsatz (redaktionell)
Leistungen der Arbeitslosenversicherung dürfen an einen jahrzehntelangen Beitragszahler nach seiner Pensionierung bzw der Anerkennung seiner Berufsunfähigkeit nicht allein deswegen bewilligt werden, weil er nach ärztlicher Auffassung wöchentlich noch mehr als 24 Stunden einer leichten Beschäftigung nachzugehen vermag. Voraussetzung ist vielmehr, daß auch entsprechende geeignete Arbeitsplätze, erreichbar für den Antragsteller, zur Zeit seiner Arbeitslosmeldung in nennenswertem Umfang vorhanden sind.
Normenkette
AVAVG § 76 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1957-04-03
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 17. Januar 1961 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I. Der 1899 geborene Kläger war seit 1922 Bediensteter der Reichsbahn, anschließend bis Oktober 1957 der Deutschen Bundesbahn. Bereits von Februar 1957 ab bezog er Rente wegen Berufsunfähigkeit sowie Zusatzrente von der Bundesbahnversicherungsanstalt. Am 11. Oktober 1957 meldete sich der Kläger arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld (Alg). Nach Untersuchung durch den Arzt des Arbeitsamts wurde sein Begehren abgelehnt, weil das Leistungsvermögen nicht ausreiche, um eine Arbeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts auszuüben. Der Widerspruch blieb erfolglos. Im Klagewege hob das Sozialgericht (SG) die entgegenstehenden Bescheide der Beklagten auf und verurteilte sie, "dem Kläger Alg für 156 Tage ab Arbeitslosmeldung unter Beachtung der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen" (Urteil vom 25. November 1959). Das Landessozialgericht (LSG), das die Berufung der Beklagten zurückwies, bestätigte diese Entscheidung: Da der Kläger nach den Feststellungen der ärztlichen Gutachter in der Lage sei, eine leichte Beschäftigung von mehr als 24 Stunden wöchentlich, möglicherweise sogar noch mehr, zu übernehmen, stehe er der Arbeitsvermittlung zur Verfügung. In allen Fällen nur zeitlicher Einschränkung der Verfügbarkeit entfalle die besondere Prüfung, ob insoweit geeignete Arbeitsplätze auf dem in Betracht kommenden Arbeitsmarkt vorhanden seien (Urteil vom 17. Januar 1961).
Revision wurde zugelassen.
II. Die Beklagte legte gegen das am 25. April 1961 zugestellte Urteil am 18. Mai Revision ein und begründete sie - nach Fristverlängerung gemäß § 164 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) - am 22. Juli 1961. Die vom LSG vertretene Auffassung, daß auch bei Personen mit eingeschränktem Leistungsvermögen eine Beschäftigung von nicht nur geringfügigen Umfang ohne Rücksicht auf die Üblichkeit zur Bejahung der Verfügbarkeit ausreiche, sei nicht durch § 76 Abs. 1 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) gedeckt und halte sich in Gegensatz zu der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), das wiederholt (vgl. BSG 11, 16; 12, 226 ua) entschieden habe, daß der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stehe, wer infolge der Minderung seines Leistungsvermögens zwar in mehr als geringfügigem Umfang, aber nicht für die übliche Dauer der Arbeitszeit beschäftigt werden könne. Die Ausnahmeregelung des § 76 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG sei auf Personen, die wegen eingeschränkten Leistungsvermögens seitlich nur begrenzt arbeiten könnten, nicht anwendbar. Von diesen würden die üblichen Bedingungen hinsichtlich der Dauer der Arbeitszeit nur erfüllt, wenn auf dem für den Arbeitslosen in Betracht kommenden Arbeitsmarkt geeignete Arbeitsplätze für eine zeitlich begrenzte Tätigkeit in nennenswertem Umfang vorhanden seien. Eine andere Auslegung verstoße zudem gegen § 36 AVAVG, demzufolge die Vermittlung in Arbeit den Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung vorgehe. Bei richtiger Anwendung des § 76 Abs. 1 AVAVG hätte das LSG feststellen müssen, für welche Arbeitsverrichtungen sowie für welche Arbeitszeit der Kläger seinem Leistungsvermögen nach tatsächlich noch verfügbar war und ob auf den für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarkt überhaupt Teilarbeitsplätze der erstrebten Art in nennenswerter Zahl vorhanden seien.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie des Urteils des SG Hildesheim vom 25. November 1959 die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Er könne nach dem Gutachten von Dr. S leichte Arbeiten von 30 bis 40 Stunden wöchentlich und sogar darüber ausüben. Diese Zeitdauer liege jedenfalls über der Geringfügigkeitsgrenze des für die Versicherungspflicht maßgebenden § 66 AVAVG. Es sei undenkbar, daß der Gesetzgeber eine Beschäftigung der Versicherungspflicht unterwerfe, die keine solche unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes darstelle. Mithin sei der Kläger verfügbar. Unerheblich bleibe, ob für ihn geeignete Arbeitsplätze in nennenswertem Umfang vorhanden waren, da diese Frage allein die Lage des Arbeitsmarkts betreffe. Durch § 36 AVAVG werde nicht festgelegt, daß der Anspruch auf Leistungen entfalle, weil entsprechende Arbeitsplätze fehlten.
III. Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision ist zulässig und auch begründet.
Infolge der Neufassung des AVAVG ist mit Wirkung vom 1. April 1957 an durch § 74 die Verfügbarkeit für die Arbeitsvermittlung zu einer selbständigen Voraussetzung des Anspruchs auf Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe (Alhi) geworden. Damit ist zugleich der Grundsatz des § 36 AVAVG berücksichtigt, daß die Vermittlung in Arbeit diesen Leistungen vorgeht. Verfügbar ist mithin nur, wer für eine Vermittlung als Arbeitnehmer in Betracht kommt (§ 76 Abs. 1 AVAVG). Alg und Alhi dürfen einem Arbeitslosen nur gewährt werden, falls er der Vermittlung zur Verfügung steht und seine Arbeitslosigkeit lediglich mangels offener Arbeitsstellen nicht beendet werden kann. Dieser muß zudem - unbeschadet der sonstigen gesetzlichen Voraussetzungen - nach seinem Leistungsvermögen imstande sein, die arbeitsrechtlichen Verpflichtungen aus einem unter den üblichen Bedingungen eingegangenen Beschäftigungsverhältnis zu erfüllen.
Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 30. Oktober 1959 (BSG 11, 16) ausgeführt, daß das Leistungsvermögen des Arbeitslosen sich in der Regel auch auf die übliche Dauer der Arbeitszeit und auf ihre Verteilung erstrecken muß. Eine Übung sei anzunehmen, wenn Arbeitsverhältnisse unter diesen Bedingungen in nennenswertem Umfang eingegangen zu werden pflegen. Wenn auch die "Lage des Arbeitsmarktes" bei der Prüfung, ob der Arbeitslose ihm zur Verfügung stehe, unbeachtet bleiben müsse, so könne doch dessen strukturelle oder sonstige Entwicklung beachtlich sein. Denn es sei Tatsache, daß die fortschreitende Mechanisierung der Arbeit bis zur Automatisierung eine wesentliche Änderung zahlreicher Arbeitsverrichtungen mit sich bringe, wie auch die Erschöpfung der Arbeitskraftreserven durch die Vollbeschäftigung dazu zwinge, auf Arbeitskräfte zurückzugreifen, die nicht mehr voll dem Arbeitsmarkt zur Verfügung ständen, und zu einer Umgestaltung der Arbeitsbedingungen führe.
Der Senat hat ferner in seinem Urteil vom 28. Juni 1960 (BSG 12, 226) dargelegt, daß ein jedes der drei wesentlichen Merkmale der Verfügbarkeit nach § 76 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 AVAVG (ernstliche Arbeitsbereitschaft, ausreichendes Leistungsvermögen, Unbehindertheit durch sonstige Umstände) in Zusammenhang mit dem Erfordernis stehe, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben. Sei das Leistungsvermögen beeinträchtigt, so werde der Arbeitslose für die Arbeitsvermittlung folglich nur verfügbar, solange er diesen üblichen Bedingungen entsprechen könne. Hierzu müßten Ermittlungen angestellt und tatsächliche Feststellungen getroffen werden.
Von dieser ständigen Rechtsprechung abzugehen, besteht derzeit kein begründeter Anlaß.
IV. Im Gegensatz zu § 76 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG, wonach es für die dort bezeichneten Personen genügt, wenn sie eine Beschäftigung von mehr als geringfügigem Umfang annehmen können, ohne daß jeweils zu prüfen ist, ob derartige Beschäftigungen auch üblich sind (vgl. Urteile des Senats vom 3.7.1962 - 7 RAr 45/62 und 60/61 -), enthält Abs. 1 Nr. 2 nicht die Bezugnahme auf die Geringfügigkeitsgrenze des § 66 AVAVG. Deswegen durfte sich das LSG im vorliegenden Falle nicht damit begnügen, unter Zugrundelegung der ärztlichen Gutachten, insbesondere desjenigen von Dr. med. Sander, davon auszugehen, der Kläger sei im Zeitpunkt seiner Arbeitslosmeldung in der Lage gewesen, eine leichte Beschäftigung - wie zB die eines Pförtner - von mehr als 24 Stunden in der Woche auszuüben, und im übrigen dahinstehen zu lassen, ob er darüber hinaus vielleicht sogar 40 Stunden wöchentlich oder mehr habe arbeiten können. Das LSG hätte vielmehr, um den § 76 Abs. 1 Nr. 2 AVAVG zutreffend anzuwenden, feststellen müssen, ob der Kläger nach seinem Leistungsvermögen imstande ist, die Verpflichtungen aus einem unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes eingegangenen Arbeitsverhältnis zu erfüllen. Hierzu war des näheren zu ermitteln, welche Arbeitsverrichtungen sowie welche Arbeitszeiten für den Kläger tatsächlich in Betracht kommen. Hätten die einschlägigen Feststellungen ergeben, daß dieser seines eingeschränkten Leistungsvermögens wegen zwar in mehr als geringfügigem Umfang, nicht aber für die übliche Dauer der Arbeitszeit beschäftigt werden kann, so müßte das LSG weiter prüfen, ob entsprechende (geeignete) Arbeitsstellen auf dem für den Kläger in Frage kommenden Teil des Arbeitsmarktes Ende Oktober 1957 in nennenswertem Umfange vorhanden waren.
V. Weil die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen fehlen, konnte der Senat nicht selbst darüber entscheiden, ob der Kläger im Zeitpunkt seiner Arbeitslosmeldung der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stand.
Die Sache war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 SGG).
Dem LSG bleibt auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens überlassen.
Fundstellen