Orientierungssatz
Zur Frage der Notwendigkeit einer stationären Behandlung.
Normenkette
RVO § 184 Abs 1
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 08.06.1983; Aktenzeichen L 4 Kr 30/81) |
SG Hildesheim (Entscheidung vom 03.03.1981; Aktenzeichen S 2 Kr 40/80) |
Tatbestand
Der klagende Sozialhilfeträger verlangt Ersatz für die Kosten der stationären Behandlung der Tochter des Beigeladenen in der Zeit vom 13. Juli 1976 bis zum 17. Februar 1978 sowie vom 28. Februar 1978 bis zum 9. Oktober 1978 in Höhe von insgesamt 154.811,60 DM.
Für seine Tochter hat der Beigeladene Anspruch auf Familienkrankenhilfe gegen die Beklagte. Sie leidet an Hebephrenie, einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis. Wegen dieser Krankheit befand sie sich mit Unterbrechungen vom 11. September 1974 bis zum 28. Dezember 1982 in niedersächsischen Landeskrankenhäusern. In der hier streitigen Zeit wurde sie in der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie - Leiter Prof. Dr. S- in der Nervenklinik der Universität G stationär behandelt und am 9. Oktober 1978 ins Landeskrankenhaus G verlegt. Die Beklagte lehnte die Übernahme der vom Kläger dafür getragenen Kosten ab.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, an den Kläger 154.811,60 DM zu zahlen. Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen und ausgeführt, dem Kläger stehe der Ersatzanspruch nach § 1531 Satz 1 iVm § 1532 Reichsversicherungsordnung (RVO) zu, denn die Beklagte habe dem Beigeladenen Krankenhauspflege für seine Tochter zu gewähren. Bei der Hebephrenie habe es sich um eine Krankheit im Sinn der sozialen Krankenversicherung gehandelt, sie sei behandlungsbedürftig gewesen. Dies ergebe sich aus den Schreiben des Prof. Dr. S vom 3. September 1976 und 10. März 1977 an die Beklagte und weiteren Schreiben dieses Arztes. Dafür spreche auch der Bericht der Ärzte des Landeskrankenhauses G vom 26. Januar 1983. In diesem Landeskrankenhaus sei die Tochter des Beigeladenen vor und nach der hier streitigen Zeit mit dem Ziel behandelt worden, den ohne eine Behandlung rasch und stetig fortschreitenden Krankheitsverlauf so weit wie möglich aufzuhalten und Krankheitssymptome zu dämpfen und zu lindern. Auch die diesem Ziel dienenden Maßnahmen der Hilfskräfte seien der ärztlichen Behandlung untergeordnet gewesen. Eine ambulante Behandlung der Krankheit hätte nicht ausgereicht; es sei vielmehr medizinisch erforderlich gewesen, die besonderen Mittel eines Krankenhauses zur Krankheitsbekämpfung einzusetzen. Auch davon habe sich der Senat aufgrund der Beurteilung durch Prof. Dr. S überzeugt. Damit stimmten die Ausführungen der Ärzte des Landeskrankenhauses G überein; sie hätten zur Behandlung sozialpsychiatrische und sozialtherapeutische Maßnahmen durchgeführt. Diese Behandlungen hätten stationär erbracht werden müssen wegen der Art der Krankheit und der heftigen Krankheitserscheinungen; sie seien durch halluzinatorische, häufig auch autistische Erlebnisse bzw Verhaltensweisen gekennzeichnet gewesen, die immer wieder zu undifferenzierten Wutausbrüchen führten. In dem von der Beklagten vorgelegten Gutachten habe allerdings Dr. D ausgeführt, das Behandlungsziel hätte auch mit außerstationären Mitteln erreicht werden können, nämlich der Unterbringung in einer Pflegefamilie oder in einem Heim. Indessen könne eine Krankenkasse nicht ihre Zuständigkeit zur Krankenhausbehandlung dadurch beenden, daß sie eine andere Unterbringungsform empfehle, für die sie keine Leistungsverantwortung trage. Die Ärzte der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie hätten immer wieder mit Auftreten psychotischer Dekompensationen rechnen müssen. Wenn deshalb Prof. Dr. S hervorhebe, daß die therapeutischen Maßnahmen nur unter stationären Bedingungen möglich gewesen seien, müsse dies überzeugen.
Die Beklagte hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt, das LSG sei ihrem Beweisantrag nicht gefolgt und habe keinen unabhängigen Gutachter eingeschaltet. Vielmehr habe es sich allein auf die Angaben der behandelnden Ärzte gestützt, die Bedienstete des Klägers und befangen seien. Die Annahme der Behandlungsbedürftigkeit hätte das LSG näher begründen müssen. Zur Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung fehle es an Angaben, welche Behandlungsmaßnahmen im einzelnen durchgeführt worden sind, inwieweit sie Teil einer ärztlich kontrollierten Therapie waren und warum ihre Durchführung ambulant nicht möglich war.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 8. Juni 1983 und das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 3. März 1981 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Diesem Antrag schließt sich der Beigeladene an.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist im Sinn der Zurückverweisung der Sache an das LSG zu neuer Verhandlung und Entscheidung begründet. Anhand der Feststellungen des LSG kann nicht abschließend entschieden werden, ob dem Kläger der geltend gemachte Anspruch auf Kostenerstattung zusteht.
Grundlage des Anspruchs ist § 104 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) idF durch das Gesetz vom 4. November 1982 (BGBl I 1450). Durch dieses Gesetz ist die - vom LSG noch mit Recht angewandte - Vorschrift des § 1531 RVO mit Wirkung vom 1. Juli 1983 aufgehoben worden. Der nach § 1531 RVO erhobene Erstattungsanspruch eines Sozialleistungsträgers richtet sich nach § 104 SGB X, wenn er auch nach dem 1. Juli 1983 noch Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens ist (BSGE 56, 69 = SozR 1300 Art 2 § 21 SGB X Nr 1). Dabei handelt es sich um eine Rechtsänderung, die das Bundessozialgericht (BSG) auch dann zu berücksichtigen hat, wenn sie nach der letzten mündlichen Verhandlung des LSG eintritt. Für den Anspruch des Klägers aus § 104 SGB X kommt es darauf an, ob und in welchem Umfang der Beigeladene gegenüber der Beklagten einen Leistungsanspruch hatte. Dieser Anspruch kann sich aus § 184 RVO ergeben.
Nach § 184 RVO idF des Gesetzes vom 19. Dezember 1983 (BGBl I 1925) wird Krankenhauspflege gewährt, wenn die Aufnahme in ein Krankenhaus erforderlich ist, um die Krankheit zu erkennen oder zu behandeln oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Im angefochtenen Urteil hat das LSG keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen zur Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung getroffen. Der Anspruch aus § 184 RVO setzt voraus, daß eine medizinische Behandlung veranlaßt ist, die nur mit den besonderen Mitteln eines Krankenhauses durchgeführt werden kann. Läßt sich dagegen die medizinische Behandlung auch ambulant durchführen, so besteht kein Anspruch auf Krankenhauspflege (BSG SozR 2200 § 184 RVO Nr 11). Das LSG ist zu dem Ergebnis gekommen, die Hebephrenie der Tochter des Beigeladenen sei im Sinn der Rechtsprechung behandlungsbedürftig gewesen, und es sei medizinisch erforderlich gewesen zu ihrer Behandlung die besonderen Mittel eines Krankenhauses einzusetzen. Diese Annahme hat das LSG jedoch nicht näher durch konkrete Tatsachenfeststellungen belegt. Deshalb kann der Senat nicht abschließend entscheiden, ob das LSG die Vorschrift des § 184 RVO zutreffend ausgelegt hat oder das Urteil auf einer Verletzung dieser Vorschrift beruht. Zumindest hat das LSG den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-), was die Beklagte rügt.
Unzureichend sind insoweit die Feststellungen des LSG zur Behandlung der Tochter des Beigeladenen in den Landeskrankenhäusern. Die Ärzte dieser Krankenhäuser haben die Tochter des Beigeladenen stationär behandelt, um den fortschreitenden Krankheitsverlauf aufzuhalten und Krankheitssymptome zu dämpfen und zu lindern. Dazu haben sie, wie das LSG feststellt, sozialpsychiatrische und sozialtherapeutische Maßnahmen durchgeführt, aber auch Psychopharmaka angewendet. Diese Tatsachen betreffen einen anderen Zeitraum als den hier streitigen. Welche sozialpsychiatrischen und sozialtherapeutischen Maßnahmen in der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie durchgeführt, welche Psychopharmaka dort angewandt wurden und wann diese oder andere Maßnahmen im einzelnen durchgeführt worden sind, ist nicht festgestellt. Zur Beurteilung, ob und inwieweit die Maßnahmen geboten waren und nur in einem Krankenhaus durchgeführt werden konnten, genügt nicht der Hinweis des LSG auf die Art der Erkrankung und die heftigen Krankheitserscheinungen, ebensowenig der Hinweis auf halluzinatorische und autistische Erlebnisse sowie undifferenzierte Wutausbrüche. Keinesfalls durfte das LSG damit oder mit dem bloßen Hinweis auf die Äußerung des Prof. Dr. S die Notwendigkeit der stationären Behandlung abschließend beurteilen. Ungenügend ist auch die weitere Feststellung des LSG, in der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie sei es häufig zu heftigen aggressiven Durchbrüchen gekommen; mit psychotischen Dekompensationen hätten die Ärzte immer wieder rechnen müssen. Wenn damit begründet werden sollte, daß zur Behandlung der Klägerin die ständige Einsatzbereitschaft eines Arztes gehörte, hätte es näherer Ausführungen bedurft; dazu wäre die Feststellung erforderlich gewesen, wie oft ein solches ärztliches Eingreifen notwendig war, warum gerade ein Arzt tätig werden mußte und ob nicht im Hinblick auf die Gleichartigkeit der Vorgänge auf andere Weise Vorsorge getroffen werden konnte.
Aus diesen Gründen ist eine weitere Aufklärung des Sachverhalts notwendig.
Das LSG wird genauere Feststellungen darüber treffen müssen, unter welchen gesundheitlichen Beschwerden die Tochter des Beigeladenen in der streitigen Zeit litt (Art, Intensität, Dauer und Änderungen der Beschwerden), mit welchen Behandlungsmaßnahmen sie bekämpft wurden (Medikation, Änderung der Medikation, sonstige Behandlungsmaßnahmen der Ärzte, der ärztlichen Behandlung untergeordnete behandelnde Tätigkeit) und ob sie notwendig waren sowie inwiefern und in welcher Zeit diese Maßnahmen nur in einem Krankenhaus durchgeführt werden konnten (vgl dazu BSG SozR 2200 § 184 RVO Nrn 11 und 22).
Eine Aufnahme im Krankenhaus ist nicht notwendig, soweit die ambulante Behandlung ausgereicht hätte. In diesem Fall kann der Anspruch aus § 184 RVO nicht damit begründet werden, daß die Unterbringung des Kranken in einem Heim oder einer Pflegefamilie geboten sei, aber tatsächlich kein geeigneter Heim- oder Familienplatz zur Verfügung stehe. Es ist nicht Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung, ein derartiges Risiko zu tragen. Wenn geeignete Pflegeheime nicht zur Verfügung stehen und ein Pflegebedürftiger nur deshalb in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht wird, so hat das nicht zur Folge, daß die Krankenversicherungsträger zur Übernahme der Kosten verpflichtet sind (BSG SozR 2200 § 184 Nr 15; Urteil des Senats vom 19. März 1985 - 3 RK 15/84 -).
Abschließend wird das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen