Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensfehler. Überschreiten der Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung gem § 128 SGG. Fehlen besonderer Fachkunde in medizinischen Fragen
Orientierungssatz
Das Berufungsgericht hat die gesetzlichen Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung gem § 128 SGG überschritten, wenn es über eine ärztliche Frage entschieden hat, ohne insoweit hinreichende Äußerungen von Sachverständigen zu haben. Dem Gericht ist es verwehrt, seine eigene Auffassung in medizinischen Fragen an die Stelle der von Sachverständigen zu setzen. Dem Gericht fehlt hierzu die besondere Fachkunde.
Normenkette
SGG §§ 128, 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 12.01.1961) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle vom 12. Januar 1961 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Nach Untersuchungen und Begutachtungen durch die Ärzte der Landeskrankenanstalt Bad P... vom 2./8. April 1948, insbesondere durch den Internisten Dr. U... war durch Bescheid vom 19. Januar 1949 auf Grund der Sozialversicherungsdirektive (SVD) 27 beim Kläger als Gesundheitsschädigung Teilversteifung der linken Hüfte und des Kniegelenks durch Zertrümmerungsbruch des linken Oberschenkels, Verkürzung des Beines um 7 cm anerkannt und Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 v.H. gewährt worden. Durch den Umanerkennungsbescheid vom 13. Februar 1952 sind Schädigungsfolge und Grad der MdE ohne erneute ärztliche Untersuchung übernommen worden. Vorher hatte der Kläger mit Schreiben vom 24. August 1950 die Erhöhung der Rente wegen seiner Beschwerden durch das Hüftgelenk und den Magen beantragt. Der Vertragsarzt Dr. B... beschrieb in seinem Gutachten vom 7. April 1952 keine Änderung des Befundes, insbesondere auch nicht hinsichtlich des Magens oder einer Bronchitis. Durch Bescheid vom 16. Juni 1952 lehnte das Versorgungsamt eine Erhöhung der Rente ab, weil das Versorgungsleiden sich ausweislich des Ergebnisses der ärztlichen Untersuchung nicht verschlimmert habe; Magenbeschwerden seien schon im Jahre 1949 endgültig als Schädigungsfolgen abgelehnt worden, hieran habe sich nichts geändert. Der Einspruch mit dem unter Vorlage von ärztlichen Bescheinigungen das Bestehen einer Bronchitis als Schädigungsfolge behauptet wurde, blieb erfolglos.
Der Kläger hat Klage erhoben und zahlreiche ärztliche Bescheinigungen vorgelegt. Der Gerichtsarzt Obermedizinalrat Dr. K... führte in dem Sitzungsgutachten vom 19. Dezember 1957 aus, es sei anzunehmen, daß bei dem Kläger eine chronische Bronchitis bestehe; ihre Entstehung sei nicht durch die Lazarettzeit zu erklären, ein Zusammenhang zwischen chronischer Bronchitis und Wehrdienst sei abzulehnen. Hierauf gestützt hat das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 19. Dezember 1957 die Klage abgewiesen.
Der Kläger hat Berufung eingelegt und hat weitere ärztliche Äußerungen in Abschrift vorgelegt, insbesondere das Attest des Prof. Dr. K... vom 23. Mai 1958. Durch Urteil vom 12. Januar 1961 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat festgestellt, daß beim Kläger schon 1948 eine Bronchitis und in den Jahren 1949/1950, 1956 und 1959 Gastritiden vorgelegen haben. Sie seien aber keine Schädigungsfolgen im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Denn nach der gutachtlichen Äußerung des Dr. K... sei eine Bronchitis grundsätzlich ein anlagebedingtes Leiden. Sie sei durch schädigende Einflüsse im Sinne des § 1 BVG nicht entstanden, auch nicht mitverursacht oder dauernd verschlimmert worden, was durch die Tatsache bewiesen sei, daß das Leiden des Klägers bei der Untersuchung durch Dr. U... nicht nachweisbar gewesen sei und auch in der Folgezeit relativ lange beschwerdefreie Intervalle bestanden hätten. Gastritiden seien regelmäßig die Folge der Konstitution des Betroffenen. Sie könnten durch die Einflüsse des Wehrdienstes nur vorübergehend verschlimmert werden. Bei der Untersuchung durch Dr. U... sei ebenfalls eine Gastritis nicht erkennbar geworden.
Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,
die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Niedersachsen zurückzuverweisen.
Er rügt mit näherer Begründung eine Verletzung der §§ 103 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), weil das LSG für die ärztliche Beurteilung der Bronchitis und des Magenleidens keine hinreichende medizinische Unterlage gehabt habe.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.
Die beiden Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist zwar vom LSG nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1. Nr. 1 SGG) worden, findet aber statt, weil ein wesentlicher Mangel des Verfahrens (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) gerügt wird und vorliegt (BSG 1, 150).
Das LSG hat festgestellt, daß beim Kläger eine chronische Bronchitis und ein Magenleiden bestehen. Insoweit sind Revisionsrügen nicht geltend gemacht worden, so daß das Revisionsgericht nach § 163 SGG hieran gebunden ist. Gegen die weitere Feststellung des Berufungsgerichts, es bestehe kein ursächlicher Zusammenhang zwischen den festgestellten Gesundheitsstörungen und Einwirkungen des Kriegsdienstes (vgl. hierzu BSG 7, 288 ff., 290), hat der Kläger zu Recht die Rüge einer unzureichenden Sachaufklärung und einer Überschreitung der Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung erhoben.
Nach § 103 SGG erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Hierbei ist es an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 103 Satz 2 SGG), sondern bestimmt allein im Rahmen seines richterlichen Ermessens die Ermittlungen und Maßnahmen, die es für die Aufklärung des Sachverhalts für notwendig erachtet. Sein Ermessen wird allerdings durch die in § 103 SGG festgelegte Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts in dem für die Entscheidung erforderlichen Umfang begrenzt. Es kann dementsprechend ohne Antrag Beweise erheben oder auch von der Erhebung weiterer Beweise, die ein Beteiligter beantragt hat, absehen. Es kommt darauf an, ob es bei seiner Urteilsfällung die ihm bis dahin bekannt gewordenen Tatsachen als ausreichend ansehen durfte oder sich zu weiteren Ermittlungen hätte veranlaßt sehen müssen. Es hat daher sorgfältig zu prüfen, ob im Einzelfall eine weitere Beweiserhebung erforderlich ist (BSG 2, 236 ff, 238).
Für die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs der Bronchitis lag dem Berufungsgericht lediglich das kurze Sitzungsgutachten des Gerichtsarztes Dr. K... vor. Dieser hat die Entstehung der Bronchitis durch die Lazarettzeit ausgeschlossen und ist der Ansicht gewesen, das Chronischwerden einer Bronchitis sei immer aus der Anlage des Betroffenen abzuleiten. Zur Frage der Verschlimmerung der Bronchitis ist in diesem Gutachten nicht Stellung genommen. Der ursächliche Zusammenhang von Einwirkungen des Kriegsdienstes mit einer Gesundheitsstörung umfaßt sowohl die Entstehung als auch die Verschlimmerung (vgl. hierzu BSG 6, 87 ff, 89-90; 192-194; 7, 288 ff, 291). Dies hat das LSG zwar nicht verkannt. Seine auf das Gutachten des Vertragsarztes Dr. U... vom 8. April 1948 gestützte Entscheidung, eine dauernde Verschlimmerung sei nicht eingetreten, ist jedoch nicht frei von Rechtsirrtum. Denn einerseits hat das Berufungsgericht festgestellt, daß schon 1948 ausweislich der Befunde dieses Sachverständigen eine Bronchitis vorgelegen hat; diese Feststellung mußte es daran hindern auszuführen, die Bronchitis sei bei der Untersuchung durch den Sachverständigen nicht nachweisbar gewesen. Andererseits ist die Beurteilung der Frage, ob beschwerdefreie Intervalle bestanden haben und welche Rückschlüsse aus ihnen auf die Entwicklung des Leidens gezogen werden können, in erster Linie eine medizinische Aufgabe. Das LSG hätte sich veranlaßt sehen müssen, über diese Frage ein weiteres ärztliches Gutachten einzuholen, weil diese rein ärztliche Frage von den Sachverständigen bisher nicht hinreichend erörtert worden ist.
Das gleiche gilt hinsichtlich des Magenleidens. Insoweit lag dem Berufungsgericht die Bescheinigung des Prof. Dr. K... vom 23. Mai 1958 vor. In dieser ist der ursächliche Zusammenhang aus anderen als ärztlichen Gründen bejaht worden. Äußerungen zum ursächlichen Zusammenhang auf Grund medizinischer Erwägung sind in dieser Bescheinigung nicht enthalten. Infolgedessen durfte das LSG den Sachverhalt nicht als hinreichend geklärt ansehen, sondern mußte sich veranlaßt sehen, auch über den ursächlichen Zusammenhang des von ihm festgestellten Magenleidens mit Einwirkungen des Wehrdienstes ein weiteres ärztliches Gutachten zu erfordern. Sonach liegt eine Verletzung der Vorschrift des § 103 SGG vor.
Aber auch die weiter erhobene Rüge einer Überschreitung der Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung greift durch. Gemäß § 128 Abs. 1 SGG entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung; in seinem Urteil hat es die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Ein Mangel des Verfahrens in bezug auf die Beweiswürdigung liegt nur dann vor, wenn das Gericht die gesetzlichen Grenzen seines Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung überschritten hat; insoweit kommt insbesondere ein Verstoß gegen Erfahrungssätze des täglichen Lebens oder Denkgesetze in Betracht (BSG 2, 236, 237). Das Berufungsgericht hat hier über eine ärztliche Frage entschieden, ohne insoweit hinreichende Äußerungen von Sachverständigen zu haben. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG in SozR SGG § 128 Nr. 2 Bl. Da 1-2) ist es dem Gericht verwehrt, seine eigene Auffassung in medizinischen Fragen an die Stelle der von Sachverständigen zu setzen. Dem Gericht fehlt hierzu die besondere Fachkunde. Seine Ausführungen über den ursächlichen Zusammenhang betreffen auch nicht etwa das Abwägen zwischen verschiedenen ärztlichen Gutachten, sondern behandeln eine medizinische Fachfrage. Es ist nicht ersichtlich, woraus das Berufungsgericht seine Sachkenntnis auf diesem Gebiete geschöpft hat. Demgemäß ist auch die weiter erhobene Rüge einer Verletzung des § 128 SGG gegeben.
Da sonach die ordnungsgemäß gerügten Mängel des Verfahrens vorliegen, ist die Revision statthaft und zulässig. Sie ist auch begründet, weil die Möglichkeit besteht, daß das Urteil anders ausgefallen wäre, wenn das LSG die erforderlichen Ermittlungen angestellt hätte. Das angefochtene Urteil war mithin aufzuheben. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt von dem Ergebnis weiterer Ermittlungen ab, deren Vornahme dem Senat verwehrt ist.
Mithin war die Sache, wie geschehen, an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Da die Voraussetzungen der §§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG erfüllt waren, konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.
Fundstellen