Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 20. Dezember 1995 hinsichtlich des Leistungszeitraums vom 1. Februar 1994 ab aufgehoben. Insoweit wird die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bremen vom 31. Januar 1995 zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger ein Zehntel seiner außergerichtlichen Kosten aller drei Rechtszüge zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger macht die Verfassungswidrigkeit der Neuregelung des § 1 Abs 3 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) idF des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (1. SKWPG) vom 21. Dezember 1993 (BGBl I 2353) geltend.
Der 1952 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger, syrisch-orthodoxer Christ, verheiratet, vollschichtig erwerbstätig und Vater von neun Kindern, die zwischen 1975 und 1992 geboren sind; er bezieht für sich und seine Familie ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Er suchte mit seiner Familie im September 1980 um politisches Asyl in der Bundesrepublik Deutschland nach. Im November 1988 wurde ihm eine befristete und später weiter verlängerte Aufenthaltserlaubnis (alten Rechts) auf der Grundlage eines Bleiberechtserlasses für türkische Staatsangehörige christlichen Glaubens erteilt, die danach in eine Aufenthaltsbefugnis (neuen Rechts) umgewandelt und mehrfach verlängert worden ist.
Seit Februar 1988 bezog der Kläger laufend Kindergeld (Kg) und Kg-Zuschlag bis zum 31. Dezember 1993, zuletzt Kg in Höhe von 1.860,– DM monatlich. Mit Bescheid vom 19. Januar 1994 hob die Beklagte mit Ablauf des Monats Dezember 1993 die Bewilligung des Kg wegen Änderung des BKGG gemäß § 48 Abs 1 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) auf, weil der Kläger eine gültige Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis nicht besitze. Der Widerspruch des Klägers und seine Klage blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 8. April 1994; Gerichtsbescheid des Sozialgerichts ≪SG≫ Bremen vom 31. Januar 1995). Diese Entscheidungen hat das Landessozialgericht (LSG) Bremen mit Urteil vom 20. Dezember 1995 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab Januar 1994 Kg weiterzuzahlen. Zur Begründung führt das LSG im wesentlichen aus, der Anspruch des Klägers auf Kg für Januar 1994 folge bereits daraus, daß die Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X für die rückwirkende Aufhebung der durch Verwaltungsakt mit Dauerwirkung erfolgten Kg-Bewilligung nicht gegeben seien. Im übrigen bestehe bei verfassungskonformer Auslegung der Gesetzesänderungen der Anspruch des Klägers auf Kg nach der früheren Gesetzeslage weiter. Soweit ein Gesetz seine Anwendung auf Tatbestände, die ganz oder teilweise vor seinem Inkrafttreten verwirklicht worden seien (unechte Rückwirkung), nicht in Übergangsvorschriften regele, bedürfe es zum intertemporalen Geltungswillen der Auslegung. Jedenfalls bei Fehlen anderer Anhaltspunkte in den Gesetzesmaterialien könne bei verfassungskonformer Auslegung nicht angenommen werden, daß der Gesetzgeber die Anwendung der Neuregelung auf bereits laufende Leistungsfälle habe ausdehnen wollen, ohne insoweit die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung des Vertrauensschutzes gegenüber dem Gesetzeszweck vorzunehmen. Dem Ziel der Haushaltskonsolidierung und Einsparung öffentlicher Ausgaben gehe das schützenswerte Vertrauen des Klägers vor, der nicht mit einer Leistungsaufhebung ohne sachgerechten Grund habe rechnen müssen. Für seinen Personenkreis der bleibeberechtigten Ausländer mit langjährigem berechtigten Aufenthalt biete die Orientierung des Kg-Rechts an dem Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis keinen solchen Grund. Gerade die Gründe für das Scheitern seines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis eigneten sich nicht als Abgrenzungsgrund, weil sonst die besonders Bedürftigen in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise belastet würden.
Mit ihrer Revision, die sie auf den Teil des angefochtenen Urteils beschränkt hat, der den Kg-Anspruch des Klägers vom 1. Februar 1994 ab betrifft, trägt die Beklagte vor, das Urteil des LSG verstoße gegen § 1 Abs 3 BKGG in der vom 1. Januar 1994 bis 31. Dezember 1995 gültigen Fassung. Der erkennende Senat habe ua mit Urteilen vom 31. Oktober 1995 die Verfassungsmäßigkeit dieser Norm auch für Einzelfälle bejaht, in denen die Aufenthaltsbefugnis aufgrund eines Bleiberechtserlasses erteilt worden sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 20. Dezember 1995 hinsichtlich des Leistungszeitraums vom 1. Februar 1994 ab aufzuheben und insoweit die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bremen vom 31. Januar 1995 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt – unter näherer Begründung –,
die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 20. Dezember 1995 zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist begründet.
Dem Kläger steht aufgrund der Neuregelung des § 1 Abs 3 BKGG durch das 1. SKWPG, die am 1. Januar 1994 in Kraft getreten ist, für den Zeitraum ab Februar 1994 kein Kg mehr zu. Wie der erkennende Senat bereits grundsätzlich entschieden hat (Urteil vom 31. Oktober 1995, SozR 3-5870 § 1 Nr 6), besteht – und das gilt auch im vorliegenden Fall – aus verfassungsrechtlichen Gründen kein Anlaß, das Verfahren auszusetzen, um diese Vorschrift gemäß Art 100 Grundgesetz (GG) dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vorzulegen. Die zitierte Neuregelung des § 1 Abs 3 BKGG setzt für den Kg-Anspruch eines Ausländers voraus, daß dieser im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung (§ 27 Ausländergesetz ≪AuslG≫ 1990 ≪Art 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990, BGBl I 1354≫) oder Aufenthaltserlaubnis (§ 15 AuslG 1990) ist. Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger nicht, der sich – lediglich – auf der Grundlage einer Aufenthaltsbefugnis (§ 30 AuslG 1990) in Deutschland aufhält.
Entgegen der Ansicht des LSG läßt sich ein Kg-Anspruch des Klägers auch nicht in verfassungskonformer Rechtsauslegung daraus herleiten, daß ein fortwirkender Anspruch nach dem alten Kg-Recht die Anwendung der oben zitierten Neufassung verdrängt. Wie das LSG zutreffend feststellt, sind die Regelungen des 1. SKWPG nach dessen Art 14 (mit hier nicht einschlägigen Ausnahmen) am 1. Januar 1994 in Kraft getreten, ohne daß besondere Übergangsvorschriften dem völligen Wegfall des Kg in den Fällen des § 1 Abs 3 BKGG entgegenstünden. Anders als für bestimmte Neuregelungen im Recht des Erziehungsgeldes (hierzu BSG vom 22. Februar 1995, SozR 3-7833 § 1 Nr 15, sowie vom 6. September 1995, SozR 3-7833 § 1 Nr 16) kann daraus nicht gefolgert werden, die Gesetzesänderung erfasse nur Kinder, die nach dem Inkrafttreten einer den Kreis der Anspruchsberechtigten einschränkenden Neuregelung geboren wurden. Zum einen kann aus dem Schweigen des Gesetzgebers hier nicht geschlossen werden, er habe die Frage einer Übergangsregelung übersehen. Denn für andere durch das 1. SKWPG getroffene Neuregelungen des BKGG hat er – in Form des § 44g BKGG – in der Tat eine Übergangsregelung geschaffen. Daher gilt hier die allgemeine Regel, daß neues Recht unmittelbar mit seinem Inkrafttreten wirksam wird (vgl Kopp, Grundsätze des intertemporalen Verwaltungsrechts, SGb 1993, 593, 595 ff; vgl Senatsurteil vom 31. Oktober 1995 aaO S 17 f). Aus dem Fehlen weiterer Anhaltspunkte in den Gesetzesmaterialien kann angesichts der Zielsetzung der gesetzlichen Neuregelung jedenfalls nicht überzeugend darauf geschlossen werden, daß der Gesetzgeber die Anwendung auf bereits laufende Leistungsfälle ausschließen wollte.
Diese Neuregelung erweist sich auch im vorliegenden Rechtsstreit als verfassungsgemäß (hierzu wiederum eingehend Senatsurteil vom 31. Oktober 1995 aaO S 18 ff). Deshalb ist eine verfassungskonforme Anwendung des Übergangsrechts mit dem vom LSG erstrebten Ziel nicht geboten. Anders wäre dies nur dann, wenn der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte und der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen sowie deren Sinn und Zweck mehrere Deutungen zuließen, von denen jedenfalls eine zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führte (BVerfGE 88, 145, 166 mwN). Der Kläger hat nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen Anspruch auf Kg für den fraglichen Zeitraum. Weder ist die fragliche Neufassung des § 1 Abs 3 Satz 1 BKGG als solche in ihrer Anwendung auf den Kläger verfassungswidrig (dazu 1.), noch ist zu beanstanden, daß der Gesetzgeber keine Besitzstandsregelung (dazu 2.) zugunsten des Klägers getroffen hat.
1. Die Regelung des § 1 Abs 3 BKGG idF des 1. SKWPG verstößt jedenfalls insoweit nicht gegen das GG, als der Kläger hiervon betroffen ist.
Der Gesetzgeber war nicht nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG verpflichtet, dem Kläger ebenso Kg zu gewähren wie jenen Ausländern, die über eine Aufenthaltsberechtigung oder -erlaubnis verfügen. Mit der Neuregelung bezweckte der Gesetzgeber, den Kg-Anspruch auf solche Ausländer zu begrenzen, von denen zu erwarten ist, daß sie auf Dauer in Deutschland bleiben werden; dies sei allein bei denjenigen der Fall, die im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder -erlaubnis sind (BT-Drucks 12/5502 S 44 zu Art 5, zu Nr 1).
Das vom Gesetzgeber gewählte Unterscheidungsmerkmal und seine Zielrichtung sind mit dem Gleichheitssatz zu vereinbaren. Die Neuregelung ist auch geeignet, jenes Ziel zu erreichen. Unerheblich ist insoweit, ob der Kläger als Inhaber einer Aufenthaltsbefugnis aufgrund eines Bleiberechtserlasses ebenfalls über ein verfestigtes Aufenthaltsrecht verfügt (vgl auch dazu das Urteil des Senats vom 31. Oktober 1995 aaO).
Ebensowenig verstößt die neue Regelung gegen Art 6 Abs 1 GG. Aus dieser Vorschrift läßt sich – auch in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art 20 Abs 1 GG) – kein konkreter verfassungsrechtlicher Anspruch auf bestimmte staatliche Leistungen herleiten (s BVerfG vom 29. Mai 1990, BVerfGE 82, 60, 79 ff), solange die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein der Bürger gewährleistet sind. Diese Aufgabe aber kommt der Sozialhilfe, nicht jedoch dem Kg zu.
Das Recht auf Eigentum (Art 14 Abs 1 GG) erstreckt sich nicht auf den Anspruch auf Kg, da diese Sozialleistung in keinerlei Hinsicht aufgrund von Eigenleistungen (Beiträgen) gewährt wird (s hierzu BVerfG vom 16. Juli 1985 und 12. Februar 1986, BVerfGE 69, 272, 301 f; 72, 9, 18 f).
Im vorliegenden Fall kann ungeprüft bleiben, ob – entgegen § 1 Abs 3 BKGG nF – auch Ausländern ohne Aufenthaltserlaubnis oder -berechtigung von Verfassungs wegen Kg zwar nicht in seiner Funktion als allgemeine Sozialleistung zustehen müßte, wohl aber in seiner steuerlichen Entlastungsfunktion (hierzu BVerfG vom 29. Mai 1990, BVerfGE 82, 60, 78 f). Denn der Kläger war im streitige Zeitraum nicht einkommensteuerpflichtig (hierzu BVerfG vom 25. September 1992, BVerfGE 87, 153, 169 f), so daß bei ihm kein Raum für eine (weitere) steuerliche Entlastung bleibt.
Ebenso unerheblich ist im vorliegenden Fall die Frage, ob der Gesetzgeber insoweit verfassungsrechtliche Grenzen überschritten hat, als er mit der Einschränkung des Kg-Anspruchs für Ausländer die entsprechenden Kosten auf die kommunalen Sozialhilfeträger verlagert hat (auch dazu Urteil des Senats vom 31. Oktober 1995, aaO).
2. Die Einschränkung des anspruchsberechtigten Personenkreises durch die Neuregelung des § 1 Abs 3 BKGG begegnet auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, soweit hierdurch – wie im Falle des Klägers – laufende Ansprüche auf Kg entzogen wurden.
Als Prüfungsmaßstab kommt insoweit nur der im Rechtsstaatsprinzip (Art 20 Abs 3 GG) verankerte Vertrauensschutz in Betracht. Bei der Prüfung dieser Frage kann dahinstehen, ob einem ausländischen Kg-Bezieher ohne Aufenthaltserlaubnis- oder -berechtigung diese Sozialleistung ersatzlos zum 1. Januar 1994 entzogen werden durfte, was das LSG verneint hat. Denn der Grundsatz des Vertrauensschutzes hindert den Gesetzgeber jedenfalls nicht, eine Sozialleistung zu entziehen, wenn dieser Verlust gleichzeitig durch eine andere Sozialleistung in gleicher Höhe ersetzt wird (vgl wiederum Senatsurteil vom 31. Oktober 1995 aaO S 20 f). So aber liegt der Fall auch beim Kläger.
Nach dem Wegfall seines Kg-Anspruchs auf der einen Seite ist der ihm bzw seinen Kindern bereits zuvor zustehende Anspruch auf Sozialhilfe auf der anderen Seite nämlich im gleichen Umfang angewachsen. Die Leistungen des zuständigen Sozialhilfeträgers mußten um denselben Betrag erhöht werden. Denn Kg – und Kg-Zuschlag (§ 11a BKGG) – werden nicht neben der Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt, sondern auf diese Leistung angerechnet. Es handelt sich hierbei um anrechenbares Einkommen iS des § 76 Abs 1 BSHG (vgl Senatsurteil vom 31. Oktober 1995 aaO S 21 f mwN). Weder die tatsächlichen Feststellungen des LSG noch der Vortrag der Beteiligten bieten zudem Anhaltspunkte dafür, daß der Kg-Anspruch für den Kläger vorteilhafter war als der grundsätzlich subsidiäre (s § 2 BSHG) Sozialhilfeanspruch in entsprechender Höhe. Die vom Kläger angesprochene Nachweispflicht gegenüber dem Sozialamt besteht auch bei einer Fortzahlung von Kg, solange ergänzende Sozialhilfe beansprucht wird, wie dies beim Kläger nach den Feststellungen des LSG der Fall ist.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen