Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorzeitiges Altersruhegeld. Arbeitslosigkeit

 

Orientierungssatz

Von einer ernstlichen Arbeitsbereitschaft einer Versicherten für den allgemeinen Arbeitsmarkt kann nur dann gesprochen werden, wenn der Rentenbewerber sich fortlaufend um eine Arbeitnehmertätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes bemüht, aber trotz aller Anstrengungen und trotz günstiger Konjunkturlage keine Arbeit gefunden hat. Die Arbeitslosmeldung allein läßt auf die Ernstlichkeit der Arbeitsbereitschaft noch nicht schließen (vgl BSG 1964-02-18 11/1 RA 239/60 = BSGE 20, 190).

 

Normenkette

AVG § 25 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVAVG § 76 Abs. 1 Nr. 1; RVO § 1248 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 12.02.1963)

SG Berlin (Entscheidung vom 18.10.1961)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 12. Februar 1963 aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Die Klägerin, geboren am 16. August 1900, war von 1930 bis 1950 - zuletzt als Verwaltungsangestellte beim Bezirksamt M - erwerbstätig. Im November 1951 heiratete sie und zog im Dezember 1951 nach Berlin (West). Sie bezog vom 2. Januar bis zum 11. Juli 1952 Arbeitslosenunterstützung. In der folgenden Zeit war sie nicht mehr erwerbstätig. Am 13. Juli 1959 ließ sich die Klägerin wieder als Arbeitsuchende beim Arbeitsamt registrieren und kam allmonatlich ihrer Meldepflicht nach.

Die Klägerin hat eine Versicherungszeit von über 180 Monaten in den Rentenversicherungen der Arbeiter und der Angestellten sowie in der Sozialversicherung im sowjetischen Sektor Berlins zurückgelegt.

Im August 1960 beantragte die Klägerin, ihr das vorzeitige Altersruhegeld wegen einjähriger Arbeitslosigkeit zu gewähren. Die Beklagte lehnte diesen Rentenantrag mit Bescheid vom 8. Dezember 1960 ab, weil die Klägerin nicht arbeitslos sei; sie sei bereits mit ihrer Verheiratung im Jahre 1951 aus dem Arbeitsleben ausgeschieden.

Mit der Klage machte die Klägerin geltend, sie habe sich nach ihrem Umzug nach Westberlin vergeblich bemüht, in der Westberliner Verwaltung unterzukommen; später habe sie ihre Bemühungen, einen Arbeitsplatz zu erlangen, wegen der ungünstigen Arbeitsmarktlage für ältere Angestellte eingestellt; sie habe sich dann im Juli 1959 wieder beim Arbeitsamt gemeldet, eine Arbeit sei ihr jedoch nicht vermittelt worden; auch ihre eigene Arbeitssuche sei erfolglos gewesen.

Das Sozialgericht (SG) Berlin verurteilte die Beklagte, der Klägerin das vorzeitige Altersruhegeld ab 1. August 1960 zu gewähren (Urteil vom 18. Oktober 1961).

Die Berufung der Beklagten wies das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 12. Februar 1963 zurück: Für die Auslegung des Begriffs Arbeitslosigkeit im Sinne des § 25 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) sei zwar § 75 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) maßgebend; es komme jedoch nicht darauf an, ob bei dem Versicherten "eine zum Leistungsbezug nach dem AVAVG berechtigende Arbeitslosigkeit vorliege oder nicht". Die Klägerin sei mindestens seit ihrer Meldung beim Arbeitsamt im Jahre 1959 wieder als Arbeitnehmerin anzusehen, sie habe durch eigene Bemühungen um die Erlangung eines Arbeitsplatzes und durch die Meldung beim Arbeitsamt dargetan, daß sie in den Kreis der Arbeitnehmer zurückgekehrt sei.

Das LSG ließ die Revision zu.

Das Urteil des LSG wurde der Beklagten am 27. März 1963 zugestellt. Die Beklagte legte am 10. April 1963 Revision ein, sie beantragte,

das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 12. Februar 1963 und das Urteil des Sozialgerichts vom 18. Oktober 1961 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Sie begründete die Revision am 30. April 1963. Sie rügte, das LSG habe § 25 Abs. 2 AVG unrichtig angewandt; es habe den Begriff der Arbeitslosigkeit im Sinne dieser Vorschrift verkannt. Das LSG habe ferner, soweit es zum Ergebnis gekommen sei, die Klägerin sei arbeitslos gewesen, diese Schlußfolgerung gezogen, ohne die hierfür erforderlichen rechtserheblichen Tatsachen festgestellt zu haben; es habe die "objektive und subjektive Verfügbarkeit" der Klägerin für den allgemeinen Arbeitsmarkt (§ 76 Abs. 1 AVAVG) nicht als dargetan ansehen dürfen. Das LSG habe insoweit die Verfahrensvorschriften der §§ 103 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verletzt.

Die Klägerin beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

II.

Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG); sie ist auch begründet.

Nach § 25 Abs. 2 AVG erhalten das (vorzeitige) Altersruhegeld Versicherte, die eine Versicherungszeit von 180 Monaten zurückgelegt und das 60. Lebensjahr vollendet haben - was beides bei der Klägerin zutrifft - und außerdem seit mindestens einem Jahr ununterbrochen arbeitslos sind. Für die Schlußfolgerung, die Klägerin sei am 1. August 1960 seit mindestens einem Jahr ununterbrochen arbeitslos gewesen, reichen die tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht aus.

Das LSG hat für die Beurteilung der Frage, ob die Klägerin seit Juli 1959 arbeitslos gewesen ist, nur § 75 AVAVG (in der seit April 1957 geltenden Fassung) herangezogen; es hat geprüft, ob die Klägerin "berufsmäßig in der Hauptsache als Arbeitnehmer tätig zu sein pflegt, aber vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht" (§ 75 Abs. 1 AVAVG). Soweit das LSG dies bejaht hat, ist seine Entscheidung nicht zu beanstanden. Wie der erkennende Senat bereits in mehreren Urteilen - im Anschluß an das Urteil des 12. Senats vom 28. Februar 1963, BSG 18, 287 - dargelegt hat, kann die Eigenschaft "berufsmäßig als Arbeitnehmer tätig zu sein" (§ 75 Abs. 1 AVAVG) schon durch den Entschluß zur Aufnahme oder Wiederaufnahme abhängiger Arbeit begründet werden. Die vorherige Ausübung einer Arbeitnehmertätigkeit ist dazu nicht erforderlich. Deshalb gehört auch ein Versicherter, der - wie die Klägerin - mehrere Jahre aus dem Arbeitsleben ausgeschieden war, jedenfalls dann zum "Kreis der berufsmäßigen Arbeitnehmer" im Sinne des § 75 Abs. 1 AVAVG, wenn er sich entschließt, wieder eine abhängige Arbeit auszuüben. Arbeitslosigkeit im Sinne des § 25 Abs. 2 AVG setzt - entgegen der Auffassung der Beklagten - auch nicht voraus, daß der Versicherte einen Anspruch auf Leistungen nach dem AVAVG hat (vgl. die Urteile des Senats vom 18. Februar 1964, BSG 20, 190, 193) und vom 4. Februar 1965, 11/1 RA 142/63 und 11/1 RA 220/63. Wie aber das Bundessozialgericht (BSG) in diesen Urteilen ebenfalls ausgeführt hat, schließt der Begriff Arbeitslosigkeit im Sinne des § 25 Abs. 2 AVG grundsätzlich auch die Tatbestandsmerkmale des § 76 AVAVG ein; ein "vorzeitiges" Altersruhegeld wegen Arbeitslosigkeit steht ebenso wie das Arbeitslosengeld und die Unterstützung (Arbeitslosenhilfe) nur den Versicherten zu, die trotz ihrer Beschäftigungslosigkeit

1. ernstlich bereit,

2. ungeachtet der Lage des Arbeitsmarktes nach ihrem Leistungsvermögen imstande sowie

3. nicht durch sonstige Umstände ... gehindert sind,

eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben, und nach der im Arbeitsleben herrschenden Verkehrsauffassung für eine Vermittlung als Arbeitnehmer in Betracht kommen (§ 76 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 AVAVG).

Das LSG hat nicht näher geprüft, ob die Klägerin die Voraussetzungen des § 76 Abs. 1 AVAVG erfüllt; diese Voraussetzungen können aber nach dem gegebenen Sachverhalt nicht ohne weiteres unterstellt werden. Zwar hat kein Anhalt dafür bestanden, daß die Klägerin in ihrem Leistungsvermögen gemindert (arbeitsunfähig) gewesen ist (§ 76 Abs. 1 Nr. 2 AVAVG, vgl. auch Urt. des BSG vom 16.4.1964, SozR Nr. 22 zu § 1248 der Reichsversicherungsordnung - RVO -); jedoch hat schon Anlaß vorgelegen, der Frage nachzugehen, ob die Klägerin, die nach ihrer Heirat im Jahre 1951 nicht mehr erwerbstätig gewesen ist, durch die Führung des ehelichen Haushaltes an der Ausübung einer dauernden Beschäftigung mehr als geringfügigen Umfanges gehindert gewesen ist (§ 76 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG). Vor allem aber hat geprüft werden müssen, ob die Arbeitsbereitschaft der Klägerin sich darauf erstreckt hat, eine Beschäftigung "unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben" und ob sie zur Aufnahme einer solchen Beschäftigung "ernstlich" bereit gewesen ist (§ 76 Abs. 1 Nr. 1 AVAVG). Der allgemeine Arbeitsmarkt umfaßt fachlich alle Beschäftigungen, für die der Arbeitslose ohne Einschränkung auf seine etwa früher ausgeübten Berufe bei verständiger Würdigung des Einzelfalles in Betracht kommt (BSG 11, 16 ff), im vorliegenden Fall also nicht etwa nur eine Tätigkeit als Verwaltungsangestellte. Auf diesen Kreis von Tätigkeiten muß sich auch ein Versicherter der gesetzlichen Rentenversicherung im Rahmen des § 25 Abs. 2 AVG - ähnlich wie bei der Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit in § 24 Abs. 2 AVG - verweisen lassen; die Verweisungsmöglichkeiten sind im Recht der Rentenversicherung nur bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit (§ 23 Abs. 2 AVG) begrenzt. Die Klägerin hätte daher dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung gestanden, wenn sie sich etwa - mit oder ohne Inanspruchnahme des Arbeitsamtes - nur um eine Verwaltungstätigkeit bemüht oder ihre Arbeitsbereitschaft sonst eingeschränkt hätte.

Das LSG hat zwar die Feststellung, daß die Klägerin in den Kreis der Arbeitnehmer zurückgekehrt sei, damit begründet, daß sie sich durch eigene Initiative um Arbeit bemüht und sich beim Arbeitsamt gemeldet habe. Damit ist jedoch noch nicht dargetan, daß die Klägerin zur Ausübung einer Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ernstlich bereit gewesen ist. Die vom LSG bisher festgestellten objektiven Umstände genügen nicht, um die Ernstlichkeit der Arbeitsbereitschaft der Klägerin ausreichend zu belegen. Dazu hat es der eingehenden Prüfung der gesamten Arbeitsbemühungen der Klägerin bedurft; nur wenn diese eindeutig erkennen lassen, daß sich die Klägerin fortlaufend um eine Arbeitnehmertätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes bemüht, aber trotz aller Anstrengungen und trotz günstiger Konjunkturlage keine Arbeit gefunden hat (vgl. BSG 20, 190, 196, 197), kann von einer ernstlichen Arbeitsbereitschaft der Klägerin für den allgemeinen Arbeitsmarkt gesprochen werden. Das LSG hat sich mit allgemeinen Hinweisen auf die Arbeitsbemühungen der Klägerin und auf die Arbeitslosmeldung nicht begnügen dürfen; es hat vielmehr die Art der Arbeitsangebote der Klägerin und die Gründe des Scheiterns ihrer Arbeitsbemühungen im einzelnen untersuchen müssen. Das LSG hat bisher keine für die Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen geeigneten Beweise herangezogen. Weder die von der Klägerin überreichten Erklärungen der Frieda Krebs vom 12. Oktober 1961 und des Wilhelm Stellmacher vom 13. Oktober 1961, die überhaupt nichts über ein konkretes Arbeitsgesuch der Klägerin bei der Westberliner Verwaltung enthalten, noch das allgemein gehaltene Schreiben der Firma Herbert Schmidt vom 11. März 1959 lassen die Ernstlichkeit der Arbeitsbereitschaft der Klägerin für eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes eindeutig erkennen; auch die Arbeitslosmeldung läßt unter den gegebenen Umständen auf diese Ernstlichkeit der Arbeitsbereitschaft noch nicht schließen (BSG 20, 190, 197, sowie die zitierten Urteile des BSG vom 4. Februar 1965).

Die Beklagte hat sonach auch zu Recht gerügt, das LSG habe keine ausreichende Feststellungen über die rechtserheblichen Tatsachen getroffen, aus denen sich die Voraussetzungen des § 76 Abs. 1 AVAVG ergeben. Da der bisher festgestellte Sachverhalt die rechtlichen Schlußfolgerungen des LSG nicht trägt, ist die Revision der Beklagten begründet; das Urteil des LSG ist daher aufzuheben. Der Senat kann nicht selbst entscheiden. Die Sache ist zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325921

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