Leitsatz (amtlich)

Ein nichteheliches Kind hat selbst dann einen Anspruch auf Unfallversicherungswaisenrente nach dem Tod seines leiblichen Vaters, wenn es vorher von einem Dritten an Kindes Statt angenommen worden war.

 

Normenkette

RVO § 583 Abs. 5 Nr. 5 Fassung: 1963-04-30, § 595 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. August 1969 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die ... 1952 geborene Klägerin ist ein nichteheliches Kind des Kranführers W B. Dieser erkannte am 29. Mai 1952 vor dem Amtsgericht Osnabrück seine Vaterschaft an und verpflichtete sich zur Zahlung von Unterhalt. Wegen der Folgen eines am 25. November 1948 erlittenen Unfalls bezog er Unfallentschädigung. Die ihm für die Klägerin bewilligte Kinderzulage wurde zunächst dem Jugendamt O und später den Adoptiveltern der Klägerin, einer Schwester ihrer Mutter und deren Ehemann, überwiesen, welche am 28. Januar 1955 die Klägerin als eheliches Kind angenommen hatten. Der Kindesannahmevertrag wurde am 9. April 1955 durch das Amtsgericht Osnabrück bestätigt.

Am 2. August 1966 ist der leibliche Vater der Klägerin an den Folgen seines Arbeitsunfalls gestorben. Durch Bescheide vom 15. Juli 1966 bewilligte die Beklagte seiner Witwe und seinen beiden ehelichen Kindern sowie einem weiteren nichtehelichen Kind Hinterbliebenenentschädigung. Dagegen lehnte sie durch gesonderten Bescheid von demselben Tag es ab, der Klägerin Waisenrente zu gewähren, weil die Klägerin durch die Annahme an Kindes Statt die rechtliche Stellung eines ehelichen Kindes ihrer Adoptiveltern erlangt und damit rechtlich die Eigenschaft eines Kindes seiner leiblichen Eltern verloren habe; solange das Adoptionsverhältnis nicht aufgelöst sei und somit die Rechte und Pflichten der leiblichen Eltern nicht wieder aufgelebt seien, sei eine Waisenrente nach dem Tod des natürlichen Vaters nicht zu gewähren.

Hiergegen hat die Klägerin beim Sozialgericht (SG) Osnabrück Klage mit dem Hinweis erhoben, daß ihr die Landesversicherungsanstalt H Halbwaisenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung ihres verstorbenen leiblichen Vaters gewähre. Durch Urteil vom 20. März 1968 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides verurteilt, der Klägerin Halbwaisenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) zu gewähren.

Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat durch Urteil vom 19. August 1969 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:

Die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) über die Unterhaltspflicht der leiblichen Eltern eines Kindes bei dessen Annahme an Kindes Statt durch dritte Personen regelten allein Rechte und Pflichten nach bürgerlichem Recht zwischen Kind und Eltern, seien jedoch ohne Einfluß auf die dem öffentlichen Recht angehörenden Rechte des Kindes gegen den Träger der gesetzlichen UV. Nach § 595 der Reichsversicherungsordnung (RVO) erhalte jedes Kind eines durch einen Arbeitsunfall verstorbenen Versicherten bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres eine Waisenrente. Als Kind gelte nach § 583 Abs. 5 Nr. 5 RVO auch das nichteheliche Kind eines Versicherten, dessen Vaterschaft festgestellt sei. Dies liege hier vor. Weitere Voraussetzungen enthalte das Gesetz nicht. Der Anspruch auf Waisenrente nach dieser Vorschrift sei sonach nicht vom Bestehen eines Unterhaltsanspruchs des Kindes gegen seinen Erzeuger oder von der Regelung des Sorgerechts des Kindes abhängig. Schon das Reichsversicherungsamt (RVA) habe entschieden, daß die Annahme an Kindes Statt auf einen bestehenden Waisenrentenanspruch ohne Einfluß sei.

Das LSG hat die Revision im Hinblick darauf zugelassen, daß § 2 Abs. 1 Satz 2 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) insoweit eine andere Regelung enthalte.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet:

Die in § 2 Abs. 1 Satz 2 BKGG getroffene Regelung müsse auch für die gesetzliche UV Geltung beanspruchen, weil man sonst beispielsweise bei mehrmaliger Adoption eines Kindes zu unmöglichen Ergebnissen gelange. Ferner sei wesentlich, daß die Waisenrente Unterhaltsersatzfunktion habe. Wer sich adoptieren lasse, habe jedoch gegenüber seinen leiblichen oder bisherigen Adoptiveltern keinen Anspruch auf Unterhalt mehr. Die Adoptiveltern der Klägerin gewährten dieser einen völlig ausreichenden Unterhalt, so daß deren leiblicher Vater seitdem nicht mehr unterhaltspflichtig gewesen sei. Dies habe jedoch zur Folge, daß der Klägerin ein Anspruch auf Waisenrente nicht zustehe.

Die Klägerin hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beklagte beantragt,

die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist nicht begründet.

Die vom Berufungsgericht seiner Entscheidung auch zugrunde gelegte Rechtsprechung des RVA (AN 1918, 170; 1931, 469; 1929, 367; EuM 41, 47; 51, 35) betrifft die Frage, ob eine laufende Waisenrente oder eine bereits gewährte Kinderzulage durch eine spätere Adoption oder Ehelichkeitserklärung eines Kindes wegfällt. Dies hat das RVA mit der Begründung verneint, daß das 3. Buch der RVO keine entsprechende Vorschrift enthalte. In der vorliegenden Sache ist indessen darüber zu entscheiden, ob ein nichteheliches Kind nach dem Tod seines leiblichen Vaters Anspruch auf Waisenrente hat, obwohl es bereits vorher von dritten Personen adoptiert worden ist und damit nach § 1757 BGB im Verhältnis gegenüber den Annehmenden die rechtliche Stellung eines ehelichen Kindes erlangt hat.

Die Gewährung der Waisenrente setzt voraus, daß die Klägerin trotz ihrer Annahme an Kindes Statt das Kind ihres leiblichen Vaters im Sinne der §§ 595 Abs. 1, 583 Abs. 5 Nr. 5 RVO geblieben ist. Dies ist entgegen der Meinung der Beklagten, die sich wohl auf Krüger (BG 1963, 460, 463) stützt, zu bejahen. § 583 Abs. 5 RVO greift, soweit dies für den vorliegenden Rechtsstreit in Frage kommt (Nr. 4, 5), auf Rechtsbegriffe des bürgerlichen Rechts zurück. Diese sind daher für die Rechtsanwendung dieser Vorschrift insoweit maßgeblich (BSG 12, 147; 29, 32).

Durch die Annahme an Kindes Statt wird ein Kind nicht in den Familienverband des Annehmenden aufgenommen; deren Rechtswirkungen erstrecken sich nicht auf die Verwandten des Annehmenden (§ 1763 BGB). Die Rechte und Pflichten des Kindes zu seinen leiblichen Verwandten werden durch eine Adoption im allgemeinen nicht berührt (§ 1764 BGB). Seine rechtlichen Beziehungen zu seinen leiblichen Eltern werden dadurch zwar gemindert (vgl. § 1765 Abs. 1 BGB), aber nicht gelöst (Staudinger, Kommentar zum BGB, 10./11. Auflage, 1969, Randnr. 2 zu § 1757). Es behält also, wenn auch mit Einschränkungen, seine bisherige rechtliche Stellung als eines ehelichen oder nichtehelichen Kindes. Deshalb bleibt auch die Unterhaltspflicht der leiblichen Eltern gegenüber ihrem Kind bestehen; sie tritt im Verhältnis zu den Annehmenden lediglich zurück. § 1766 Abs. 1 BGB in der Fassung vor dem Inkrafttreten des Gesetzes über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder vom 19. August 1969 wie die jetzt geltende Fassung dieser Vorschrift, wonach der Annehmende vor den leiblichen Verwandten des Kindes unterhaltspflichtig ist und dies, solange nach § 1589 Abs. 2 BGB aF ein nichteheliches Kind und dessen Erzeuger als nicht miteinander verwandt galten, nach § 1766 Abs. 1 Satz 2 BGB aF auch im Verhältnis zum Erzeuger des Kindes klargestellt war, regeln nur das Rangverhältnis zwischen mehreren Verpflichteten (Staudinger, aaO, Randnr. 2 zu § 1764 BGB; Soergel/Siebert, Kommentar zum BGB, 9. Aufl., Randnr. 2 zu § 1766 BGB). Die Klägerin ist also, obwohl sie in ihrem dritten Lebensjahr von ihrer Tante und deren Ehemann an Kindes Statt angenommen worden ist, das Kind ihres leiblichen Vaters mit der Folge geblieben, daß dieser nach wie vor Anspruch auf Kinderzulage (§ 585 RVO) und die Klägerin eine Anwartschaft auf Waisenrente nach seinem Tod hatte, daß ihre Adoption aber auch möglicherweise zusätzliche Anspruchsgründe geschaffen hatte wie einen Anspruch auf Kinderzulage zu einer etwaigen Unfallrente ihrer Adoptiveltern oder einen Anspruch auf Waisenrente nach deren Tod (Koch/Hartmann, Kommentar zum AVG, Stand: Juni 1970, Band IV, Anm. IV zu § 39 AVG; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand: 1. September 1970, Band III, S. 690 n; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Stand: April 1970, Anm. 28 zu § 583 RVO, S. 498; Strecker, SozVers. 1964, 246, 247; Moll, SozVers. 1969, 244, 245). § 595 Abs. 3 RVO, welcher von einer solchen möglichen Häufung von Waisenrentenansprüchen ausgeht, schafft indessen insofern einen gewissen Ausgleich, als bei Anspruchskonkurrenz nur eine einzige Waisenrente gewährt werden darf.

Der Gesetzgeber der RVO hat damit einen anderen Weg gewählt als der des Kindergeldrechts; § 2 Abs. 1 Satz 2 BKGG bewirkt für diesen Bereich, daß das Verhältnis des Kindes zu seinen leiblichen Eltern durch die Annahme an Kindes Statt als gelöst gilt (Wickenhagen/Krebs, Kommentar zum BKGG, Stand: Juni 1967, Randnr. 12 zu § 2). Diese besondere Regelung beruht, wie der 7. Senat des Bundessozialgerichts im Urteil vom 20. November 1970 (SozR Nr. 8 zu § 2 BKGG) näher ausgeführt hat, auf der Erwägung, daß mit dem Kindergeld die Allgemeinheit einen Beitrag zu der durch Pflege und Erziehung von zwei oder mehr Kindern entstehenden Familienlast leisten soll, durch die Annahme an Kindes Statt aber die durch das Kind verursachte Familienlast im allgemeinen von den leiblichen Eltern auf die Adoptiveltern übergeht.

Da die Klägerin trotz Annahme an Kindes Statt die rechtliche Stellung eines nichtehelichen Kindes nicht verloren hat, kommt dem Hinweis der Revision, die Klägerin sei von ihren Adoptiveltern ausreichend unterhalten worden, so daß ihr leiblicher Vater nicht zum Unterhalt verpflichtet gewesen sei, keine rechtliche Bedeutung zu. Dies steht - ungeachtet der Unterhaltsersatzfunktion der Hinterbliebenenrentenansprüche nach der RVO (BVerfG 17, 1, 10; 28, 324, 348; BSG 12, 147, 148) - der Anspruchsberechtigung der Klägerin nicht entgegen. Die Ansprüche der Hinterbliebenen hängen nicht stets vom tatsächlichen Bestehen der Unterhaltsvoraussetzungen nach dem bürgerlichen Recht im Einzelfall ab (BSG 23, 166, 167; Moll, aaO, S. 245).

Da der Anspruch der Klägerin auf Halbwaisenrente nach dem Tod ihres leiblichen Vaters bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres, das die Klägerin inzwischen erreicht hat, sonach zu Recht bestanden hat, war die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 292

NJW 1971, 1824

MDR 1971, 791

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