Entscheidungsstichwort (Thema)
Witwenbeihilfe. schädigungsbedingte Minderung der Witwenversorgung. Zweckbestimmung allgemeiner Verwaltungsrichtlinien
Leitsatz (amtlich)
Die zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs "nicht unerhebliche Beeinträchtigung der Hinterbliebenenversorgung" (§ 48 Abs 1 S 1 BVG) vom BMA herausgegebenen Richtwerte (Rundschreiben vom 16.3.1984 BArbBl 1984, Nr 5, 63) sind im allgemeinen nicht zu beanstanden (Fortführung von BSG 16.3.1982 9a/9 RV 28/81 = BSGE 53, 169, 171 = SozR 3100 § 48 Nr 8 und BSG 7.12.1983 9a RV 46/82).
Orientierungssatz
1. Das Tatbestandsmerkmal der "entsprechenden Erwerbstätigkeit" in § 48 Abs 1 S 1 BVG umfaßt jene Tätigkeit, die der Beschädigte ohne die Schädigungsfolgen wahrscheinlich ausgeübt hätte (vgl BSG vom 14.6.1978 9 RV 54/77 = SozR 3100 § 48 Nr 4).
2. Beihilfe ist nach § 48 BVG an Hinterbliebene nur zu gewähren, wenn die wirtschaftliche Situation der Hinterbliebenen durch die Schädigung maßgeblich beeinträchtigt worden ist. Der wirtschaftliche Schaden, der sich erst nach dem Tode des Beschädigten auswirkt, muß also Folge der schädigungsbedingten beruflichen Behinderung sein. Eine solche Ursachenverknüpfung (vgl hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 7.12.1983 9a RV 46/82 bezieht sich auf die gesamten wirtschaftlichen Auswirkungen, die auf die schädigungsbedingte berufliche Entwicklung des Beschädigten zurückzuführen sind (vgl BSG vom 16.3.1982 9a/9 RV 28/81 = BSGE 53, 169 = SozR 3100 § 48 Nr 8). Es ist damit unvereinbar, einen oder mehrere Berufsabschnitte auszuklammern.
3. Zur Zweckbestimmung allgemeiner Verwaltungsrichtlinien (hier insbesondere des Rundschreibens des BMA vom 16.3.1984 BArbBl 1984, Nr 5, 63).
Normenkette
BVG § 48 Abs 1 S 1 Fassung: 1975-12-18
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 17.05.1983; Aktenzeichen L 15 V 63/82) |
SG Bayreuth (Entscheidung vom 19.01.1982; Aktenzeichen S 8 V 274/80) |
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Witwenbeihilfe nach § 48 Abs 1 Satz 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Ihr im Jahre 1979 verstorbener Ehemann (Verstorbener) bezog zu Lebzeiten Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 vH. Sein Tod war nicht durch Schädigungsfolgen verursacht.
Die Klägerin macht zur Begründung ihres Versorgungsantrages geltend, der Verstorbene habe infolge der Unterschenkelamputation als Schuhmachermeister und Eigentümer einer kleinen Landwirtschaft Einkommenseinbußen hinnehmen müssen. Wegen der schlechten Geschäftslage sei er gezwungen gewesen, einen Berufswechsel vorzunehmen. Die Schädigungsfolgen hätten ihn aber gehindert, die schon 1960 angestrebte Beschäftigung als Betonarbeiter auszuüben; er habe von 1968 an lediglich gewöhnliche Lagerarbeiten verrichten können und sei aus schädigungsbedingten Gründen außerstande gewesen, Aufstiegschancen zu nutzen.
Das Versorgungsamt lehnte mit Bescheid vom 22. Februar 1980 den Rentenantrag mit der Begründung ab, der Verstorbene habe nicht durch Schädigungsfolgen bedingt, sondern ausschließlich aus konjunkturellen und strukturellen Gründen einen anderen Beruf ergriffen; dort sei er übertariflich entlohnt worden.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG und die Verwaltungsbescheide aufgehoben und den Beklagten dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin Witwenbeihilfe ab 1. Oktober 1979 zu gewähren. Es hat hierzu ua ausgeführt: Der Verstorbene habe jedenfalls in der Zeit vom 1. September 1968 bis 12. September 1979 einen schädigungsbedingten Einkommensverlust hinnehmen müssen; er hätte ohne die Schädigungsfolgen eine besser bezahlte Beschäftigung entweder als Bauarbeiter oder in der Industrie gefunden. Daraus resultiere eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung in der Hinterbliebenenversorgung. Die monatliche Hinterbliebenenrente hätte ohne Schädigungsfolgen im Jahre 1980 nicht 406,40 DM, sondern 442,17 DM betragen. Bei einer monatlichen Rentendifferenz von 36,-- DM errechne sich eine prozentuale Rentenminderung von 8,1 vH. Da die gesetzlichen Voraussetzungen allein schon bei Beachtung des Zeitraums vom 1. Januar 1968 an gegeben seien, könne ungeprüft bleiben, ob auch für die vorhergegangenen Zeitabschnitte der freiwilligen Beitragsentrichtung (17. April 1944 bis 31. Dezember 1955) und der Pflichtbeitragsleistung zur Handwerkerversicherung (1. Januar 1955 bis 31. Dezember 1968) eine schädigungsbedingte Beeinflussung des Versicherungsverlaufs festzustellen sei.
Der Beklagte hat die - vom LSG zugelassene - Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 48 Abs 1 Satz 1 BVG. Der unbestimmte Rechtsbegriff der "nicht unerheblichen Beeinträchtigung der Hinterbliebenenversorgung" sei - meint der Beklagte - bei einer schädigungsbedingten Minderung der Witwenversorgung von 8,1 % nicht erfüllt.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten hat insoweit Erfolg, als das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen ist. Die bisher vom Berufungsgericht festgestellten Tatsachen reichen nicht aus, um abschließend über den Klageanspruch zu entscheiden.
Der Anspruch der Klägerin, der hier allein auf Gewährung von Witwenbeihilfe gerichtet ist, weil Schädigungsfolgen den Tod des Verstorbenen nicht bewirkt hatten, ist nach § 48 Abs 1 Satz 1 BVG idF des Art 2 § 1 Nr 5 des Gesetzes zur Verbesserung der Haushaltsstruktur im Geltungsbereich des Arbeitsförderungsgesetzes und des Bundesversorgungsgesetzes vom 18. Dezember 1975 (BGBl I 3113) -HStruktG-AFG- (Art 2 § 2 Abs 3, Art 5 § 1) zu beurteilen. Danach ist einer Witwe Beihilfe zu gewähren, wenn ihr schwerbeschädigter Ehemann (= MdE um mindestens 50 vH: § 31 Abs 3 Satz 1 BVG) durch die Folgen der Schädigung gehindert war, eine entsprechende Erwerbstätigkeit in vollem Umfange auszuüben, und wenn dadurch die Versorgung der Witwe nicht unerheblich beeinträchtigt worden ist.
Das LSG ist bei der Bestimmung der "entsprechenden Erwerbstätigkeit" davon ausgegangen, daß der Verstorbene jedenfalls in der Zeit vom 1. September 1968 bis 12. September 1979 ohne die Schädigungsfolgen eine besser entlohnte Beschäftigung als Bauarbeiter oder in der Industrie ausgeübt hätte. Daraus hat es in bezug auf die im Jahre 1980 gewährte monatliche Hinterbliebenenrente von 406,-- DM einen schädigungsbedingten Einkommensverlust von 8,1 % im Monat (= 36,-- DM) errechnet. Allein die Höhe dieser Einkommenseinbuße rechtfertigt es bei dem gegenwärtigen Sachstand nicht, das in § 48 Abs 1 Satz 1 BVG enthaltene weitere Anspruchserfordernis einer "nicht unerheblichen Beeinträchtigung der Hinterbliebenenversorgung" zu bejahen. Zur Feststellung dieser Tatbestandsvoraussetzung ist noch aufzuklären, ob und gegebenenfalls in welchem Umfange die Schädigungsfolgen eine berufliche Beeinträchtigung schon vor dem 1. September 1968 bewirkt haben. Anhaltspunkte dafür lassen sich dem Sachvortrag der Klägerin entnehmen und ergeben sich gegebenenfalls aus dem vorhandenen Versicherungsverlauf.
Das Tatbestandsmerkmal der "entsprechenden Erwerbstätigkeit" umfaßt jene Tätigkeit, die der Beschädigte ohne die Schädigungsfolgen wahrscheinlich ausgeübt hätte (BSG SozR 3100 § 48 Nr 4). Diese Auslegung entspricht der mit der Neugestaltung der Beihilfevorschriften bewirkten entschädigungsrechtlichen Ausrichtung der Versorgung (Trometer, VdK-Mitteilungen 1976, 493 f). Beihilfe ist nach § 48 BVG an Hinterbliebene nur noch zu gewähren, wenn die wirtschaftliche Situation der Hinterbliebenen durch die Schädigung maßgeblich beeinträchtigt worden ist. Der wirtschaftliche Schaden, der sich erst nach dem Tode des Beschädigten auswirkt, muß also Folge der schädigungsbedingten beruflichen Behinderung sein. Eine solche Ursachenverknüpfung (vgl hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 7. Dezember 1983 - 9a RV 46/82 -, zur Veröffentlichung bestimmt) bezieht sich auf die gesamten wirtschaftlichen Auswirkungen, die auf die schädigungsbedingte berufliche Entwicklung des Beschädigten zurückzuführen sind (BSGE 53, 169 = SozR 3100 § 48 Nr 8). Es ist damit unvereinbar, einen oder mehrere Berufsabschnitte - wie geschehen - auszuklammern. Das folgt auch aus der hier anzustellenden Schadensermittlung. Danach sind die der Klägerin nach dem Tode ihres Ehemannes gewährten Versorgungseinkünfte dem jeweiligen Einkommen gegenüberzustellen, das sie als Witwe erzielen würde, falls der Verstorbene seinen Beruf in vollem Umfange hätte ausüben können.
Nachdem auf diese Weise die schädigungsbedingte berufliche Entwicklung festgestellt ist, wird das Berufungsgericht zu prüfen haben, ob dadurch die Hinterbliebenenversorgung "nicht unerheblich beeinträchtigt" worden ist. Es hat zutreffend erkannt, daß dieser unbestimmte Rechtsbegriff nicht nach dem bisher von der Versorgungsverwaltung festgelegten Maßstab eine Einkommensminderung um 15 % bestimmt werden kann. Das entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats (BSGE 53 aaO; Urteil vom 7. Dezember 1983 aaO). Danach muß die Lücke zwischen der tatsächlichen Hinterbliebenenversorgung und der wahrscheinlich ohne die Schädigungsfolgen erzielbaren im Einzelfall unter Berücksichtigung der Höhe der gesamten Versorgung betrachtet werden. Bei einer geringen Versorgung ist sowohl der nominelle Betrag als auch die Relation kleiner anzusetzen als bei mittleren oder gar höheren Hinterbliebeneneinkünften. Wird - wie hier - eine kleinere Witwenrente bezogen, kann schon ein geringerer Minderbetrag, der einem niedrigeren als bisher um 15 % festgelegten Prozentsatz entspricht, erheblich im Rechtssinne sein. Entscheidend kommt es bei dieser Beurteilung darauf an, ob der Unterschiedsbetrag im Verhältnis zur Höhe der Hinterbliebenenrente die Lebensführung nachhaltig einschränkt (Urteil des Senats vom 7. Dezember 1983 aaO).
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) hat nunmehr unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die ständige Rechtsprechung des Senats mit Rundschreiben vom 16. März 1984 (BArBl 1984/5/63) seine bisherige Auslegung des Begriffs "nicht unerheblich" aufgegeben. Er hat den Ländern empfohlen, von einem zwischen 10 bis 15 gestaffelten Prozentsatz als Richtwert auszugehen, der der jeweiligen Einkommensgruppe zugeordnet ist. Als Obergrenze dient dabei die durchschnittlich erzielte Witwenrente, die bei 33 vH von einem Zwölftel des zuletzt bekanntgegebenen Bruttojahresarbeitsentgelts aller Versicherten liegt, als Untergrenze eine unter 25 vH verbliebene Hinterbliebenenversorgung. Dementsprechend ist die rechtlich relevante Einbuße, die sich aus dem Verhältnis der Hinterbliebenenversorgung zu der Versorgung ergibt, die ohne die Schädigung erreicht worden wäre, zwischen 15 und 10 vH abgestuft. Eine Minderung um weniger als 10 vH bewertet der BMA als nicht mehr berücksichtigungsfähigen Bagatellschaden, der mit der beabsichtigten entschädigungsrechtlichen Ausgestaltung des § 48 BVG mit dem HStrukt-AFG unvereinbar sei. Es bestehen keine Bedenken, auf diese Verwaltungsrichtlinien in den Grundzügen abzuheben.
Zwar widerstreitet eine so gedachte abstrakte ziffernmäßige Festlegung der Einzelfallgerechtigkeit, die es tunlichst zu wahren gilt. Andererseits läßt sich nicht verkennen, daß auch den Erfordernissen der Massenverwaltung Rechnung zu tragen ist. Einem oftmals schwierigen und zeitraubenden Gesetzesvollzug steht das Interesse des anspruch- bzw ratsuchenden Bürgers auf schnellstmögliche, aber auch gesetzesgemäße Abwicklung gegenüber. Demzufolge muß es das Bestreben der Verwaltung sein, die anstehenden Fälle ohne größeren Verwaltungsaufwand zeitgerecht und gleichmäßig abzuwickeln. Diesem Zweck dienen allgemein Verwaltungsanweisungen, die in mehr oder minder pauschalierender Form Hinweise geben, wie nach Ansicht der Exekutive das Gesetz auszulegen und wie im einzelnen zu verfahren ist. Der Senat vermag sich diesen Erkenntnissen nicht zu verschließen. Er hat es deshalb zum Zwecke einer möglichen Vereinfachung für erlaubt angesehen (vgl Urteil vom 7. Dezember 1983 aaO), für verschiedene Einkommensgruppen in bestimmten Grenzen jeweils einen einheitlichen Prozentsatz als Richtwert festzulegen, wenn dabei die von ihm entwickelten Beurteilungsgrundsätze beachtet werden. Die nunmehr ergangenen Verwaltungsrichtlinien halten sich daran. Sie dienen der praktischen Handhabung und tragen gleichzeitig dem Gebot der Gleichbehandlung Rechnung (BVerwGE 57, 204, 213). Die darin angeführten Richtwerte können allerdings, wie die Wortwahl selbst verdeutlicht, nicht als absolute Größe verstanden werden. Sie sind lediglich Anhaltspunkte, wie im allgemeinen bzw in der Regel das Gesetz zu handhaben ist. Sie ermöglichen infolgedessen noch eine im Einzelfall gebotene individuelle Beurteilung. Von daher gesehen erscheint es nicht angängig, Beihilfen schon bei geringfügigen Abweichungen von den den Einkommensgruppen zugeordneten Prozentsätzen zu versagen. Die Zubilligung einer gewissen Spannbreite nach oben und unten und damit eine gewisse Großzügigkeit, wie sie auch vom Bundesverwaltungsgericht gefordert wird (BVerwGE aaO), ist unumgänglich.
Das Berufungsgericht wird deshalb unter Beachtung der dargelegten Gesichtspunkte festzustellen haben, ob eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung der Hinterbliebenenversorgung vorliegt. Die Verwaltungsrichtlinien können dabei als wertvolle Entscheidungshilfe dienen. Sie entbehren jedoch der Rechtsbindung (BSG SozR 3100 § 36 Nr 2). Demzufolge ist auch mißverständlich, wenn zuweilen judiziert wird, die Verwaltungsvorschriften seien bloß zu beachten, soweit sie mit dem Gesetz übereinstimmten (BSG SozR Nr 18 zu § 35 BVG; SozR 3100 § 35 Nr 8; BSGE 35, 173, 174 = SozR Nr 1 zu § 37 BVG). Das mag für Fälle der der Verwaltung eingeräumten Ermessensausübung gelten (BSG SozR Nr 42 zu § 30 BVG; SozR 3900 § 35 Nr 1), dagegen nicht bei einer verwaltungsinternen Gesetzesinterpretation. Hier will die genannte Formulierung lediglich besagen, daß die richterliche Normauslegung ein mit den Verwaltungsrichtlinien identisches Ergebnis gezeigt hat. Deren unmittelbare Anwendung kann also nicht gemeint sein.
Das Berufungsgericht hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen