Entscheidungsstichwort (Thema)

Vertretertätigkeit

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Ausschlußgrund für Selbständige ist auch im Rahmen des AVG § 25 Abs 2 zu beachten. Die Einreihung in die Selbständigen fordert nach AVAVG § 75 Abs 3 ein gewisses Mindestmaß an Umfang und Arbeitszeit.

Die Tatbestandsmerkmale des AVAVG § 76 Abs 1 werden vom Begriff der Arbeitslosigkeit in AVG § 25 Abs 2 miterfaßt.

 

Normenkette

AVG § 25 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1248 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVAVG § 75 Abs. 3 Fassung: 1957-04-03, § 76 Abs. 1 Fassung: 1957-04-03

 

Tenor

Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 31. Mai 1961 wird aufgehoben; der Rechtsstreit wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die im August 1899 geborene, seit November 1926 verheiratete Klägerin begehrt ab August 1959 das vorzeitige Altersruhegeld wegen Arbeitslosigkeit nach § 25 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Sie war von 1916 bis 1927 berufstätig und versorgt seitdem - abgesehen von einer nochmaligen Berufstätigkeit in den Jahren 1940 und 1941 - allein ihren ehelichen Haushalt (Ehemann und drei in den Jahren 1927 bis 1930 geborene, inzwischen verheiratete Töchter). Im Juli 1958 meldete sie sich beim Arbeitsamt (ArbA) als arbeitslos; ein Jahr später beantragte sie das vorzeitige Altersruhegeld. Die Beklagte lehnte die Gewährung ab, weil die Klägerin nicht arbeitslos sei. Die Klage und Berufung der Klägerin hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) führte dazu aus, zur Auslegung des Begriffes Arbeitslosigkeit i. S. des § 25 Abs. 2 AVG sei das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) heranzuziehen; es seien aber auch Besonderheiten der gesetzlichen Rentenversicherung zu berücksichtigen. Nach § 75 AVAVG komme es darauf an, ob die Klägerin als Arbeitnehmerin vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis stehe und nicht als Selbständige erwerbstätig sei; sie dürfe ferner an der Arbeitsaufnahme nicht durch anderweite Bindungen gehindert und müsse arbeitsfähig sowie arbeitswillig sein. Insoweit hielt das LSG zunächst die selbständige Vertretertätigkeit der Klägerin, die sie seit 1953 für eine Firma ausübt (Belieferung von Seifengeschäften mit einer Bohnermasse), für unschädlich, weil diese Tätigkeit für einen Gewerbetreibenden keine Lebensgrundlage bilden könne; es bejahte sodann neben der Arbeitsfähigkeit den Arbeitswillen, für den mehrere Arbeitsbemühungen und der verständliche Wunsch sprächen, das geringfügige Einkommen des - seit 1945 als Hilfsarbeiter tätigen - Mannes zu erhöhen; im weiteren schloß das LSG Hindernisse an der Arbeitsaufnahme durch sonstige Bindungen (Führung des ehelichen Haushalts) aus; es meinte aber, die Klägerin stehe nicht nur vorübergehend in keinem Arbeitsverhältnis, sie sei vielmehr schon seit langem für immer aus dem Arbeitsleben ausgeschieden; dem Wesen der Sozialversicherung entsprechend seien zwar auch die Personen noch als arbeitslos i. S. des § 25 AVG anzusehen, die aus zwingenden Gründen künftig genötigt seien, den Lebensunterhalt durch eine Arbeitnehmertätigkeit sicherzustellen; für die Klägerin bestehe indessen kein solch unabweisbarer Zwang, da der Familienunterhalt, wenn auch in bescheidenem Rahmen, durch das Arbeitseinkommen des Mannes von wöchentlich 101,20 DM gesichert sei.

Mit der - zugelassenen - Revision beantragt die Klägerin,

die "Vorentscheidungen" aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung des vorzeitigen Altersruhegeldes von August 1959 an zu verurteilen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Sie rügte sachlich-rechtlich eine Verletzung des § 25 Abs. 2 AVG und verfahrensrechtlich die Nichtausübung des richterlichen Fragerechts wegen ihrer Beweggründe für eine Arbeitsaufnahme.

Die Beklagte beantragte,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Beide Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden §§ 124 Abs. 2, 153, 165 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

II

Die Revision der Klägerin ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG); sie ist auch begründet und führt hier zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.

Die Auslegung des Begriffs der Arbeitslosigkeit in § 25 Abs. 2 AVG, wie sie das LSG vorgenommen hat, entspricht nur zum Teil dem Gesetz. Zutreffend ist zwar die Heranziehung des § 75 AVAVG gewesen; soweit das LSG dabei jedoch eine Arbeitslosigkeit nach Abs. 1 verneint hat, kann der Senat dem nicht folgen; soweit das LSG die Arbeitslosigkeit nicht - gemäß Abs. 3 dieser Vorschrift - wegen der Vertretertätigkeit der Klägerin ausgeschlossen hat, ist dem nur im Ergebnis beizutreten.

Nach § 75 Abs. 1 AVAVG ist arbeitslos, wer berufsmäßig in der Hauptsache als Arbeitnehmer tätig zu sein pflegt, aber vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht (und - was hier außer Betracht bleiben kann - nicht im Betrieb eines Angehörigen mithilft). Das LSG meint, die Klägerin habe von Juli 1958 bis August 1959 (in ihrem 60. Lebensjahr) nicht nur vorübergehend in keinem Arbeitsverhältnis gestanden, weil sie seit langem aus dem Arbeitsleben ausgeschieden war. Damit kann die Anwendbarkeit des § 75 Abs. 1 AVAVG nicht verneint werden. Die Voraussetzungen des Abs. 1 kann auch erfüllen, wer seit langer Zeit dem Kreis der berufsmäßigen Arbeitnehmer nicht mehr angehört hat, jedoch wieder - wie es die Klägerin nach den bindenden Feststellungen des LSG beabsichtigte - abhängige Arbeit aufnehmen will; in diesem Falle ist eine erneute Arbeitnehmertätigkeit nicht erforderlich, um eine Arbeitslosigkeit i. S. des § 75 Abs. 1 AVAVG zu begründen; dazu genügt der Entschluß, nunmehr wieder unselbständige Tätigkeiten verrichten zu wollen. Das hat der Senat in seinem Urteil vom 18. Februar 1964 (BSG 20, 190) in Anlehnung an die frühere Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) entschieden und näher begründet; dort ist auch dargelegt, daß ein solcher Entschluß nicht nur die Eigenschaft "berufsmäßig als Arbeitnehmer tätig zu sein" begründet (erste Voraussetzung des Abs. 1), sondern zugleich bewirkt, daß der Versicherte "vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht" (zweite Voraussetzung). An dieser Auslegung des § 75 Abs. 1 AVAVG hat der Senat in späteren Urteilen (u. a. vom 16. April 1964: SozR Nr. 21 zu § 1248 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) festgehalten; er tut dies auch im vorliegenden Rechtsstreit. Entgegen der Auffassung des LSG war sonach eine Arbeitslosigkeit i. S. des § 75 Abs. 1 AVAVG gegeben; es bedurfte nicht der Überlegung, ob Besonderheiten der Rentenversicherung das Fehlen der Voraussetzungen des § 75 Abs. 1 AVAVG ausgleichen können; in diesem Zusammenhang kommt es daher nicht darauf an, ob die Klägerin zur Arbeitsaufnahme gezwungen war; die einschlägigen Ausführungen des LSG und der Revisionsbegründung - einschließlich der verfahrensrechtlichen Rüge - sind insoweit ohne Bedeutung.

Die Vertretertätigkeit der Klägerin konnte, wie das LSG richtig anerkannt hatte, die Arbeitslosigkeit i. S. des § 75 Abs. 1 AVAVG nicht ausschließen. Dies wäre nur der Fall gewesen, wenn die Klägerin aufgrund der Tätigkeit zu den Selbständigen i. S. des § 75 Abs. 3 AVAVG zählen würde. Nach Satz 1 dieser Vorschrift (deren Satz 2 hier nicht anwendbar ist), gelten Selbständige ohne Rücksicht auf ihr Einkommen nicht als arbeitslos. Dieser Ausschlußgrund ist auch im Rahmen des § 25 Abs. 2 AVG zu beachten (Urteil des 1. Senats des BSG vom 18. September 1963 - 1 RA 191/60 -). Eine Selbständigkeit kann allerdings nicht, wie es das LSG getan hat, deswegen verneint werden, weil die Tätigkeit für einen Gewerbetreibenden keine Lebensgrundlage zu bilden vermag (BSG 14, 224; 16, 56; 18, 215). Gleichwohl fordert die Einreihung in die Selbständigen nach § 75 Abs. 3 AVAVG ein gewisses Mindestmaß an Umfang und Arbeitszeit (BSG 14, 224, 226). Dieses "Mindestmaß" ist hier - im Gegensatz zu dem Fall des 1. Senats vom 18. September 1963 - nicht erreicht worden. Das LSG hat die Angaben der Klägerin über ihre Vertretertätigkeit erkennbar für glaubhaft erachtet; danach hat sie eine einzige Firma in F "vertreten", d. h. für diese seit 1953 Seifengeschäfte zum Vertrieb einer Bohnermasse aufgesucht, anfangs 20 die Woche, zuletzt noch 10-11; ihr Verdienst (Überschuß der Verkaufspreise gegenüber den Einkaufspreisen) hatte seinen Höchststand im Jahre 1955 mit 253,08 DM; er betrug im Jahre 1958 114,38 DM, 1959 27,86 DM und 1960 51,90 DM. Dieser Sachverhalt - insbesondere der sehr geringe Verdienst - ergibt das völlig unerhebliche Ausmaß der Vertretertätigkeit in den Jahren 1958 und 1959, aber auch in der übrigen Zeit. Aufgrund dieser Tätigkeit hat die Klägerin daher nicht den Selbstständigen des § 75 Abs. 3 Satz 1 AVAVG zugeordnet werden dürfen; ebensowenig ist dadurch der beabsichtigten unselbständigen Tätigkeit das Hauptgewicht genommen worden (vgl. § 75 Abs. 1 AVAVG: "in der Hauptsache als Arbeitnehmer ").

Mit den sonstigen Tatbestandsmerkmalen, die das LSG noch zur Annahme einer Arbeitslosigkeit i. S. des § 25 Abs. 2 AVG gefordert hat, ist es diesem Rechtsbegriff ebenfalls nicht gerecht geworden. Die Darlegungen des LSG deuten zwar darauf hin, daß es dabei an die Tatbestandsmerkmale des § 76 Abs. 1 AVAVG gedacht hat, die nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. die Urteile des Senats in BSG 20, 190 und SozR Nr. 21 zu § 1248 RVO) vom Begriff der Arbeitslosigkeit in § 25 Abs. 2 AVG miterfaßt werden. Nach § 76 Abs. 1 AVAVG kommt es jedoch entscheidend darauf an, ob die Klägerin (in ihrem 60. Lebensjahr) eine Beschäftigung "unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes" hat ausüben wollen und können (Nr. 1 bis 3). Darüber fehlen im angefochtenen Urteil ausreichende Feststellungen; aus ihm läßt sich nur ersehen, daß sich die Klägerin - möglicherweise neben anderen Beschäftigungen - um eine Tätigkeit als Verkäuferin und Bürokraft (Kontoristin) beworben hat. Der allgemeine Arbeitsmarkt umfaßt indessen alle Tätigkeiten, für die jemand ohne Einschränkung auf seinen (früheren) Beruf bei verständiger Würdigung des Einzelfalles in Betracht kommt, bei einer Frau also grundsätzlich auch Tätigkeiten in gewerblichen Berufen, fremden Haushalten, Krankenhäusern, Küchenbetrieben usw.; eine Arbeitsbereitschaft, die von vornherein auf bestimmte berufliche Tätigkeiten eingeschränkt ist, genügt in aller Regel nicht, um die subjektive und objektive Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt anzunehmen.

Diese Rechtsfehler bei der Auslegung und Anwendung der §§ 75 und 76 AVAVG nötigen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zugleich zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG (§ 170 Abs. 2 SGG), da der vom LSG festgestellte Sachverhalt kein abschließendes Urteil in der Sache gestattet und das Revisionsgericht die noch erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht nachholen kann.

Bei seiner neuen Entscheidung wird das LSG nunmehr zu prüfen haben, ob die Klägerin in ihrem 60. Lebensjahr auch die Voraussetzungen des § 76 Abs. 1 AVAVG erfüllt hat. Zur näheren Erläuterung wird auf die früheren Darlegungen des erkennenden Senats (BSG 20, 190 und SozR Nr. 21 zu § 1248 RVO) verwiesen. Was insbesondere die ernstliche Arbeitsbereitschaft betrifft (§ 76 Abs. 1 Nr. 1), wird diese nur dann ausgenommen werden können, wenn die Bereitschaft der Klägerin zur Übernahme aller in Betracht kommenden Tätigkeiten durch objektive Umstände so belegt ist, daß sie keinem vernünftigen Zweifel unterliegt. Objektive Anhaltspunkte sind in erster Linie ihre gesamten Arbeitsbemühungen in ihrem 60. Lebensjahr und zusätzlich ihre damaligen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Die Meldung beim ArbA und die laufende Meldekontrolle haben dabei im vorliegenden Falle allerdings kein Gewicht; sie sind nur dann von Bedeutung, wenn sie eine Beschränkung der Arbeitsbereitschaft auf bestimmte (frühere) Berufstätigkeiten nahelegen. Die Klägerin möchte zwar, wie sich aus ihrem letzten Schriftsatz im Revisionsverfahren ergibt, durch eine ergänzende Befragung der "Sachbearbeitung des zuständigen Arbeitsamts" geklärt haben, ob sie "damals ernstlich jede andere Art von Tätigkeiten zurückgewiesen hatte, wenn ihr solche auf dem Vermittlungswege angetragen worden wären". Diese Fragestellung ist weder erforderlich noch zulässig. Es ist gerade der Sinn der bisherigen Urteile des erkennenden Senats, die nach § 76 Abs. 1 Nr. 1 AVAVG gebotene Feststellung der ernstlichen Arbeitsbereitschaft von einem Eindringen in innere Vorgänge zu lösen und allein an objektive, ohne weiteres erkennbare Gegebenheiten anzuknüpfen. Es kommt daher nicht darauf an, wie sich die Klägerin gegebenenfalls verhalten hätte, entscheidend ist allein, wie sie sich in der maßgebenden Zeit tatsächlich verhalten hat. Nur wenn die objektiven Gegebenheiten eindeutig erkennen lassen, daß sie sich im maßgebenden Zeitraum ständig um jede für sie in Betracht kommende Arbeitstätigkeit bemüht hat, jedoch trotz aller Bemühungen und trotz günstiger Konjunkturlage, insbesondere auch für die Haushaltsberufe, keine Arbeit gefunden hat, kann der Tatbestand des § 76 Abs. 1 Nr. 1 AVAVG bejaht werden. Zweifel, insbesondere auch daran, ob sie ihre Bereitschaft auf bestimmte Tätigkeiten eingeschränkt hat, gehen zu Lasten der Klägerin. Das gilt auch für die sonstigen Arbeitsbemühungen außerhalb des ArbA, auf die es entscheidend ankommen wird. Die wirtschaftlichen Verhältnisse spielen demgegenüber nur eine ergänzende Rolle. Insoweit ist, wie auch das LSG angenommen hat, erheblich, ob und inwieweit die Klägerin durch ihre wirtschaftlichen Verhältnisse zum Gelderwerb durch eine Arbeitnehmertätigkeit gezwungen worden ist. Das LSG hat das verneint; es hat dabei zwar verkannt, daß der Verdienst des Ehemannes im 60. Lebensjahr der Klägerin wöchentlich nicht 101,20 DM, sondern nach der von der Klägerin vorgelegten Bescheinigung des Arbeitgebers (vom 14. März 1961) 96,75 DM betragen hat; immerhin ist dem LSG jedoch darin zuzustimmen, daß ein wirklicher Zwang zur Aufnahme einer Arbeitnehmertätigkeit und zum Gelderwerb für die Klägerin nicht bestanden hat.

Bei der neuen Entscheidung wird das LSG auch über die außergerichtlichen Kosten im Revisionsverfahren mitzubefinden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325900

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