Leitsatz (amtlich)

Im Falle der Entziehung der Rente nach RVO § 1293 Abs 1 aF ist bei der Beurteilung der Invalidität eines vor Eintritt des Versicherungsfalles als Bäckergehilfe tätig gewesenen Versicherten als "bisheriger Beruf" im Sinne des RVO § 1254 aF die versicherungspflichtige Beschäftigung als Bäckergehilfe auch dann zu Grunde zu legen, wenn der Versicherte nach Bewilligung der Invalidenrente die Meisterprüfung abgelegt hat.

Neue Kenntnisse und Fähigkeiten, die der Bezieher einer Invalidenrente - etwa durch weitere Ausbildung zum Meister - erworben hat, können unter dem Gesichtspunkt einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse die Entziehung der Rente nach RVO § 1293 Abs 1 aF rechtfertigen.

Einem gelernten Facharbeiter können grundsätzlich nicht Tätigkeiten eines ungelernten Arbeiters zugemutet werden. Auf die Tätigkeit eines angelernten Arbeiters kann er verwiesen werden, sofern sich diese nach ihrer sozialen Bewertung aus dem Kreise einfacher angelernter Tätigkeiten heraushebt und der eines Facharbeiters nahekommt.

 

Normenkette

RVO § 1293 Abs. 1 Fassung: 1934-05-17, § 1254 Fassung: 1949-06-17

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. Dezember 1955 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Der 1920 geborene Kläger war bis zu seiner Einberufung zur Wehrmacht Bäckergehilfe und gehörte der Invalidenversicherung an. 1942 wurde er als Soldat verwundet. Als Folge dieser Verwundung besteht bei ihm Beckenhochstand rechts, totale Versteifung des linken Hüftgelenks und teilweise Versteifung des linken Knie- und Sprunggelenks nebst Ödemen am linken Unterschenkel. Er bezieht deshalb eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 70 v. H. Mit Bescheid vom 4. Dezember 1943 bewilligte ihm die Beklagte die Invalidenrente vom 1. März 1942 an. Im Dezember 1948 entzog sie ihm diese, erklärte sich jedoch, nachdem der Kläger gegen den ablehnenden Bescheid Berufung eingelegt hatte, bereit, die Rente vom Entziehungszeitpunkt an weiterzugewähren. Ein Bescheid in diesem Sinne erging am 5. Januar 1950. Seit Januar 1952 ist der Kläger, der im Jahre 1948 die Meisterprüfung abgelegt hat, im elterlichen Geschäft als Meister tätig. Mit Bescheid vom 4. Mai 1953 entzog ihm die Beklagte die Rente mit Ablauf des Monats Mai 1953 mit der Begründung, der Kläger sei zwar noch in seiner Erwerbsfähigkeit beschränkt, sei aber in der Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in seinem Beruf als Bäcker das gesetzliche Lohndrittel zu verdienen. Die Klage blieb erfolglos (Urteil des Sozialgerichts - SG. - vom 31.3.1954). Dagegen hat das Landessozialgericht (LSG.) - unter Zulassung der Revision - durch Urteil vom 19. Dezember 1955 die Beklagte zur Weiterzahlung der Rente verurteilt. Zur Begründung hat es ausgeführt, gegenüber der erneuten Rentenbewilligung im Jahre 1950 sei im Jahre 1953 keine wesentliche Änderung in den Verhältnissen des Klägers eingetreten; eine Gewöhnung und Anpassung dürfe nicht berücksichtigt werden, weil diese bereits bei der Weitergewährung der Rente im Jahre 1950 eingetreten gewesen sei. Der Kläger leide an einer Ödemgeschwürsbildung mit Rückfällen, die auch auf die Einwirkungen der Hitze zurückzuführen seien; er könne deshalb nicht auf seinen Beruf als Bäcker, aber auch nicht auf andere Berufe, die Gehen, Tragen, Stehen und Bücken erforderten, in lohnabhängiger Arbeit verwiesen werden. Eine im Sitzen ausführbare industrielle Anlerntätigkeit, die er nach seinem körperlichen Zustand wohl leisten könne, sei dem Kläger nicht zumutbar, weil er den Meistertitel erworben habe und die Verweisung auf eine ganz untergeordnete Tätigkeit mit einem sozialen Abstieg verbunden wäre. Die Stelle eines aufsichtführenden Meisters in einer Brot- oder Keksfabrik könne der Kläger ebenfalls nicht ausfüllen, weil er hier seine Arbeit im Stehen und Gehen verrichten und auch zuweilen selbst zufassen müsse; überdies sei er gerade in einem solchen Betrieb der für sein Geschwürsleiden unerträglichen Hitzeentwicklung ausgesetzt. Eine Verweisung auf auswärtige Tätigkeiten scheide aus, weil der Kläger seinen ganzen Lebenskreis und die ihm verbliebene Arbeitskraft darauf abgestellt habe, dereinst den väterlichen Betrieb selbst leitend zu übernehmen.

Gegen das am 29. Februar 1956 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 26. März 1956 Revision eingelegt und sie am 23. April 1956 begründet. Sie trägt vor, bei der Prüfung, ob eine Änderung oder eine Gewöhnung eingetreten sei, dürfe der Zustand von 1953 nicht mit dem von 1950 verglichen werden, weil dem Kläger damals keine neue Rente bewilligt, ihm vielmehr vor Rechtskraft des Entziehungsbescheides die Rente rückwirkend weiterbewilligt worden sei. Es komme deshalb auf den Vergleich mit dem Zustand bei der Rentenbewilligung im Jahre 1943 an. Auf die Meisterprüfung dürfe keine Rücksicht genommen werden, da der Kläger diese erst nach seiner Verwundung abgelegt habe. Maßgebend sei vielmehr die Tätigkeit als Bäckergehilfe, für die die Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden seien. Der Kläger könne daher auch auf eine abhängige Beschäftigung verwiesen werden. Auch eine auswärtige Tätigkeit sei ihm zumutbar, weil er günstiger als ein Oberschenkelamputierter gestellt sei. Die Tatsache, daß er mit dem Familienbetrieb verwachsen sei, dürfe nicht zu seinen Gunsten berücksichtigt werden, weil sonst in derartigen Fällen das Risiko für den Versicherungsträger erheblich größer sei als in den Fällen, in denen keine derartigen Bindungen gegeben seien.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Bayerischen LSG. vom 19. März 1955 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG. Augsburg vom 31. März 1954 zurückzuweisen.

Der Kläger bittet um

Zurückweisung der Revision.

II.

Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige, auch form- und fristgerecht eingelegte Revision ist begründet, weil das LSG. aus unzutreffenden rechtlichen Erwägungen Fortdauer der Invalidität angenommen hat.

Über die Rechtmäßigkeit des vor Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) ergangenen Entziehungsbescheides ist nach altem Recht (§§ 1293, 1254 der Reichsversicherungsordnung - RVO - a. F.) zu entscheiden (SozR. RVO § 1293 a. F. Bl. Aa 4 Nr. 5). Nach der von der Beklagten angewandten Vorschrift des § 1293 Abs. 1 RVO a. F. wird die Invalidenrente entzogen, wenn der Versicherte infolge einer wesentlichen Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr invalide ist. Bei der Prüfung der Frage, ob eine derartige Änderung eingetreten ist, hat es das LSG. zu Unrecht auf den Zeitpunkt der "Wiedergewährung" der Rente im Jahre 1950 abgestellt. Es hat dabei übersehen, daß die Wiedergewährung der Rente eine rechtskräftige Entziehung voraussetzt. Der Entziehungsbescheid vom 1. Dezember 1948 ist aber nicht rechtskräftig geworden; denn die Beklagte hat sich, nachdem der Kläger gegen den Bescheid Berufung eingelegt hatte, bereit erklärt, die Rente vom Entziehungsdatum an weiterzugewähren. Da hiernach eine rechtskräftige Entziehung der Rente nicht vorlag und die Rente dem Kläger durch den Bescheid vom 5. Januar 1950 nicht erneut bewilligt wurde, kommt es für die Frage, ob eine wesentliche Änderung im Sinne des § 1293 Abs. 1 RVO a. F. eingetreten ist, nicht auf den Zeitpunkt des Bescheides vom 5. Januar 1950 an. Bei der Prüfung, ob eine wesentliche Änderung eingetreten ist, sind vielmehr die Verhältnisse des Versicherten im Jahre 1943 denen des Jahres 1953 gegenüberzustellen (vgl. BSG. 7 S. 215). Eine etwa vor 1950 eingetretene Änderung der Verhältnisse, also auch eine seit der Rentenbewilligung im Jahre 1943 eingetretene Anpassung an die bestehenden Leiden ist daher von Bedeutung.

Das LSG. hat - von der Revision nicht angefochten - festgestellt, der Kläger könne u. a. wegen der Geschwürsbildung mit Rückfallgefahr nicht mehr als Bäcker tätig sein. Des weiteren hat das LSG. bei der Prüfung, auf welche Tätigkeiten der Kläger verwiesen werden könne, die Auffassung vertreten, er sei nach seinem körperlichen Zustand wohl imstande, eine im Sitzen ausführbare Anlerntätigkeit in einem Industriebetrieb zu verrichten, könne aber nach Ablegung der Meisterprüfung wegen des damit verbundenen sozialen Abstiegs nicht auf eine ganz untergeordnete Tätigkeit verwiesen werden. Eine auswärtige Beschäftigung könne ihm wegen der jahrelangen Tätigkeit im elterlichen Betrieb, den er einmal selbst leitend übernehmen wolle, nicht zugemutet werden. Wenn das LSG. mit dieser Begründung den Kläger noch als invalide angesehen hat, so kann ihm nicht in vollem Umfange beigepflichtet werden. Da der Kläger seine Beiträge zur Invalidenversicherung als Bäckergehilfe und nicht als Bäckermeister entrichtet hat, ist auch im Falle der Entziehung der Rente bei der Beurteilung der Invalidität grundsätzlich von der versicherungspflichtigen Beschäftigung als dem "bisherigen Beruf" im Sinne des § 1254 RVO a. F. und nicht von einer anderen vorher oder nachher ausgeübten Tätigkeit auszugehen (vgl. BSG. 7 S. 66). Die Ablegung der Meisterprüfung schließt daher nicht aus, den Kläger auf eine Beschäftigung in abhängiger Stellung zu verweisen. Auf der anderen Seite ist dem LSG. zuzugeben, daß dem Kläger, der als gelernter Bäcker zu dem Kreise der Facharbeiter gehört, nicht jede untergeordnete Tätigkeit zugemutet werden kann, sondern nur eine solche, die in ihrer Bedeutung und in ihren Anforderungen der eines gelernten Facharbeiters nahesteht. Eine Verweisung auf die Tätigkeit eines ungelernten Arbeiters, etwa eine rein mechanisch ausgeübte Tätigkeit im Sitzen oder die eines Pförtners, Hausdieners oder dergleichen wäre mit Rücksicht auf seine handwerkliche Ausbildung grundsätzlich nicht zumutbar; eine angelernte Tätigkeit in einem Industriebetrieb erscheint dagegen nicht ohne weiteres ausgeschlossen. Das LSG. hätte prüfen müssen, ob der Kläger unter Berücksichtigung seiner Kenntnisse und Fähigkeiten nicht in der Lage ist, in einem Industriebetrieb eine Tätigkeit zu verrichten, die sich nach ihrer sozialen Bewertung - etwa wegen ihrer Verantwortung - aus dem Kreis einfacher angelernter Tätigkeiten heraushebt und der eines Facharbeiters nahekommt. In Betracht kommen könnte z. B. die Tätigkeit eines Lager- oder Magazinverwalters, eines Materialausgebers oder eine ähnliche Beschäftigung. Der Kläger muß sich auch, soweit insbesondere sein Gesundheitszustand dem nicht entgegensteht, grundsätzlich auf eine auswärtige Beschäftigung verweisen lassen. Denn der Umstand, daß er seit Jahren im elterlichen Betrieb gearbeitet hat und daß er diesen später übernehmen will, schließt eine solche Verweisung nicht aus; der Kläger wäre andernfalls gegenüber anderen Versicherten ungerechtfertigt bevorzugt.

Das angefochtene Urteil muß daher wegen fehlerhafter Rechtsanwendung aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverwiesen werden, weil die Sache zu einer abschließenden Entscheidung des Senats noch nicht genügend geklärt ist (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Bei seiner neuen Entscheidung wird das LSG. festzustellen haben, welche Arbeiten der Kläger im elterlichen Betrieb ohne fremde Mithilfe und ohne auf Kosten seiner Gesundheit zu arbeiten, nach Art und Umfang tatsächlich verrichtet und welche Arbeiten er deshalb auch in einem anderen Betrieb verrichten kann. Dabei dürfen die Kenntnisse und Fähigkeiten, die er im Zusammenhang mit der Ablegung der Meisterprüfung erworben hat, nicht unbeachtet bleiben. Es wird weiter darauf ankommen, ob am Wohnort oder in der näheren Umgebung geeignete Arbeitsplätze für den Kläger vorhanden sind. Dies wird gegebenenfalls im Benehmen mit der Arbeitsbehörde geprüft werden müssen. Sollten solche Arbeitsplätze nicht vorhanden sein, so wird das LSG. feststellen müssen, ob es etwa in der weiteren Umgebung des Wohnortes des Klägers für ihn geeignete Arbeitsplätze gibt, die er ohne Nachteil für seinen Gesundheitszustand mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen kann. Auch eine Wohnsitzverlegung wäre unter Umständen zumutbar. Die Entscheidung darüber wird im wesentlichen davon abhängen, ob der Kläger bei seinem Gesundheitszustand auf eine Betreuung durch Familienangehörige angewiesen ist und ob ihm bei seinem Familienstand eine Beschäftigung außerhalb des Wohnorts seiner Familie zugemutet werden kann.

Vom 1. Januar 1957 an sind bei der Beurteilung des vom Kläger erhobenen Rentenanspruchs die Vorschriften des ArVNG anzuwenden.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil des LSG. überlassen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2340642

BSGE, 123

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