Leitsatz (amtlich)
Für die Frage, ob eine wesentliche Änderung der Verhältnisse die Rentenentziehung rechtfertigt, ist von den Verhältnissen zur Zeit der Rentenbewilligung auch dann auszugehen, wenn die Rente während ihres Laufes bereits entzogen war, der Entziehungsbescheid aber im Laufe des anschließenden Gerichtsverfahrens von dem Versicherungsträger zurückgenommen worden ist (Fortentwicklung BSG 1958-06-03 4 RJ 15/57 = BSGE 7, 215-218).
Normenkette
RVO § 1293 Abs. 1 Fassung: 1934-05-17
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. Mai 1957 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Die Beklagte gewährte mit Bescheid vom 27. September 1950 der Klägerin ab 1. Juli 1950 Invalidenrente. Durch einen weiteren Bescheid vom 1. Dezember 1952 entzog sie ihr diese Rente mit Ablauf des Monats Dezember 1952, weil die Klägerin in der Lage sei, leichte Arbeiten vorwiegend im Sitzen zu verrichten. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Berufung ein. Nachdem das Oberversicherungsamt (OVA.) ein Gutachten eingeholt hatte, das keine Besserung des Gesamtbefindens feststellte, erklärte sich die Beklagte durch Schriftsatz vom 26. September 1953 zur Weiterzahlung der Rente seit dem Tage der Entziehung (1. Januar 1953) bereit; die Klägerin nahm daraufhin ihre Berufung zurück. Mit Bescheid vom 28. Juni 1954 entzog die Beklagte, gestützt auf ein neues Gutachten, die Rente abermals, weil die Klägerin wieder leichte bis mittelschwere Arbeiten in geschlossenen Räumen vorwiegend sitzend verrichten könne. Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG.) hat nach Anforderung weiterer Gutachten durch Urteil vom 29. Mai 1956 der Klage auf Weiterzahlung der Rente stattgegeben, während das Landessozialgericht (LSG.) unter Zulassung der Revision durch Urteil vom 22. Mai 1957 die Klage abgewiesen hat. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Beklagte sei nach § 1293 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a. F. in Verbindung mit Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 3 auch ohne Vorliegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse zur Entziehung der Rente berechtigt gewesen, weil die Klägerin nicht mehr invalide sei. Sie sei schon zur Zeit der erneuten Rentenbewilligung im Prozeßvergleich, auf die es hier allein ankomme, nicht invalide gewesen, weil eine aktive Lungentuberkulose und ein Herzmuskelschaden damals schon nicht mehr vorhanden gewesen seien. Der Klägerin müßten alle leichten bis mittelschweren Arbeiten, vorwiegend im Sitzen, bei Vermeidung von Nässe und Kälte und staubreicher Luft zugemutet werden. Entsprechende Arbeitsplätze könne sie als Küchenhilfe oder sonstige Hilfsarbeiterin in gewerblichen Betrieben in S und H, die mit üblichen Verkehrsmitteln täglich zu erreichen seien, finden. Auch sei die Klägerin nach § 1246 RVO n. F. nicht als berufsunfähig anzusehen.
Gegen das am 16. Juni 1957 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 12. Juli 1957 Revision eingelegt und sie am 6. August 1957 begründet. Sie trägt vor, die Beklagte habe ihre Rentenentziehung auf § 1293 Abs. 1 RVO a. F. gestützt, daher habe das LSG. nicht Abs. 2 dieser Vorschrift anwenden dürfen. Einer Entziehung der Rente ohne wesentliche Änderung der Verhältnisse stehe auch der Prozeßvergleich entgegen, es verstoße gegen Treu und Glauben, wenn die Beklagte ihr die Rente entziehe, ohne daß sich der Zustand geändert habe.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG. Niedersachsen vom 22. Mai 1957 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG. Braunschweig vom 29. Mai 1956 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, ein auf § 1293 Abs. 1 RVO a. F. gestützter Bescheid könne nach § 1293 Abs. 2 RVO a. F. begründet sein.
II.
Die durch die Zulassung statthafte, auch form- und fristgerecht eingelegte Revision ist nicht begründet, weil die Beklagte wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse nach § 1293 Abs. 1 RVO a. F. zur Entziehung der Rente berechtigt war.
Die Beklagte hat ihren Entziehungsbescheid mit einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse begründet, während das LSG. das Vorliegen einer solchen Änderung verneint, jedoch die Berechtigung der Rentenentziehung aus § 1293 Abs. 2 RVO a. F. herleitet. Dabei geht jedoch das LSG. von falschen rechtlichen Voraussetzungen aus, indem es bei der Prüfung der Frage, ob eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten ist, die Verhältnisse zur Zeit der Entziehung im Juni 1954 denen im Zeitpunkt der Bereiterklärung zur Weiterzahlung der Rente im September 1953 gegenüberstellt. Es hat dabei übersehen, daß 1953 keine rechtskräftige Entziehung der Rente und keine erneute Bewilligung stattgefunden haben, sondern daß die Beklagte vor Rechtskraft ihres ablehnenden Bescheides sich wieder bereit erklärt hat, die Rente vom Entziehungszeitpunkt an - also ohne Unterbrechung - weiterzuzahlen, nachdem ein vom OVA. eingeholtes Gutachten ergeben hatte, daß keine Besserung des Gesamtbefindens vorgelegen hat. In derartigen Fällen kommt es aber bei der Prüfung, ob eine wesentliche Änderung der Verhältnisse vorliegt, auf den Zeitpunkt der ursprünglichen Bewilligung an, ein erfolgloses Rentenentziehungsverfahren bleibt unberücksichtigt (vgl. BSG. 7 S. 215; in gleichem Sinne hat bereits der erkennende Senat mit Urteil vom 17.11.1959 - 3 RJ 81/56 - entschieden).
Die sonach vorzunehmende Prüfung der Verhältnisse zur Zeit der Bewilligung der Rente im Jahre 1950 und zur Zeit des Entziehungsbescheides vom Juni 1954 hat aber nach den von der Revision nicht angegriffenen und daher für das Bundessozialgericht (BSG.) bindenden Feststellungen des LSG. das Vorliegen einer wesentlichen Änderung ergeben. Während 1950 neben weiteren Krankheitserscheinungen noch eine aktive Lungentuberkulose mit positivem Bazillenbefund und eine Herzmuskelschwäche bestanden haben, waren schon 1953 die aktive Lungentuberkulose und der Herzmuskelschaden nicht mehr vorhanden. Dies ist auch durch weitere Untersuchungen in den folgenden Jahren bestätigt worden, wie das LSG. weiter unangefochten festgestellt hat. So haben die Schichtaufnahmen des Brustkorbes keine weiteren Schattenbildungen und keine Aufhellungsräume mehr ergeben, statt dessen kamen kleine scharf abgegrenzte Fleckschatten zur Darstellung; auch im Magenspülwasser waren keine Tuberkulosebazillen mehr vorhanden. Diese Feststellungen des LSG. ergeben bedenkenfrei eine wesentliche Änderung der Verhältnisse.
Weiter hat das LSG. auch ohne Rechtsirrtum angenommen, die Klägerin sei zur Zeit der Rentenentziehung nicht mehr als invalide und seit dem 1. Januar 1957 auch nicht als berufsunfähig anzusehen. Wenn es hierzu ausführt, die Klägerin sei in der Lage, alle leichten bis mittelschweren Arbeiten vorwiegend im Sitzen bei Meidung von Nässe und Kälte und staubreicher Luft auszuführen, entsprechende Arbeitsplätze als Küchenhilfe und Hilfsarbeiterin in gewerblichen Betrieben seien in den Städten S und H, die mit üblichen Verkehrsmitteln täglich zu erreichen seien, vorhanden, so hat es damit auch bedenkenfrei festgestellt, daß die Klägerin nicht mehr invalide oder berufsunfähig ist.
Ihre Revision war daher mit der Kostenfolge aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes zurückzuweisen.
Fundstellen