Entscheidungsstichwort (Thema)

Entziehung einer Berufsunfähigkeitsrente wegen Änderung der Verhältnisse. Nachschieben von Gründen. Rechtmäßigkeit der Entziehung auch ohne Änderung der Verhältnisse

 

Orientierungssatz

Eine Berufsunfähigkeitsrente, die zunächst wegen einer Änderung der Verhältnisse zu Unrecht entzogen worden war, kann nachträglich gemäß § 1293 Abs 2 RVO auch ohne Feststellung einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen entzogen werden, wenn eine neue Prüfung ergibt, daß der Kläger nicht berufsunfähig und invalide war.

 

Normenkette

AVG § 42; RVO § 1293 Abs. 1-2; SVD 3 Nr. 1 Fassung: 1945-10-14

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 18.12.1957)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18 . Dezember 1957 wird aufgehoben .

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen .

Von Rechts wegen .

 

Gründe

I .

Nach einem Bescheid der Landesversicherungsanstalt Westfalen , die damals die Aufgaben der Rentenversicherung der Angestellten wahrnahm , bezog der Kläger vom 1 . November 1950 an eine Rente (Ruhegeld) aus den Beiträgen , die er bis dahin zur Rentenversicherung der Angestellten und zur Rentenversicherung der Arbeiter geleistet hatte . Zum Ablauf des Monats Januar 1954 entzog ihm die Landesversicherungsanstalt die Rente mit der Begründung , nach dem Ergebnis der angestellten Ermittlungen habe sich sein Befinden gegenüber dem Zustand bei der Rentenbewilligung gebessert , er könne deshalb nicht mehr als berufsunfähig und invalide angesehen werden (Bescheid vom 16 . 1 . 1954) . Die Beteiligten streiten darüber , ob dem Kläger die Rente über den 31 . Januar 1954 hinaus zu zahlen ist .

Das vom Kläger angerufene Sozialgericht änderte den Entziehungsbescheid teilweise ab ; es verurteilte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA . ) , die auf Grund des Errichtungsgesetzes . ( ErrGes . ) vom 7 . August 1953 (BGBl . I S . 857) an die Stelle der Landesversicherungsanstalt als Beklagte in den Rechtsstreit eingetreten war , dem Kläger die Rente vom 1 . Januar 1955 an wieder zu zahlen ; im übrigen wies es die Klage ab (Urteil vom 19 . 7 . 1955) . Gegen dieses Urteil legten die Beklagte Berufung und der Kläger (unselbständige) Anschlußberufung ein . Im Laufe des Berufungsverfahrens erklärte die Beklagte , sie stütze die Entziehung der Rente auch auf § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) a . F . in Verbindung mit § 1293 Abs . 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a . F . und Ziff . 1 der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr . 3 . Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen wies die Berufung der Beklagten zurück ; auf die Anschlußberufung des Klägers hob es den Entziehungsbescheid in vollem Umfange auf und sprach dem Kläger die Rente auch für die Zeit bis zum 1 . Januar 1955 zu : Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse des Klägers gegenüber dem bei der Rentenbewilligung bestehenden Zustand habe im Zeitpunkt der Entziehung der Rente nicht vorgelegen . Weder habe sich sein Zustand in medizinischer Hinsicht gebessert noch habe er neue Fähigkeiten auf beruflichem Gebiet erworben . Die Voraussetzungen für die Entziehung der Rente nach § 1293 Abs . 1 RVO hätten daher nicht vorgelegen . Mit ihrer nachträglichen Berufung auf § 1293 Abs . 2 RVO könne die Beklagte nicht gehört werden ; bei der Entziehung der Rente nach dieser Vorschrift handele es sich um eine Ermessensentscheidung , die vom Gericht erst nach der Durchführung eines Vorverfahrens beurteilt werden könne . Die Berücksichtigung des nachträglichen Vorbringens der Beklagten würde für den Kläger eine unzulässige Verschlechterung seiner prozeßrechtlichen Lage bedeuten (Urteil vom 18 . 12 . 1957) .

Das Landessozialgericht ließ die Revision zu . Gegen das ihr am 17 . März 1958 zugestellte Urteil legte die Beklagte am 16 . April 1958 Revision ein mit dem Antrag ,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und unter teilweiser Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts die Klage abzuweisen .

Sie begründete die Revision am 14 . Mai 1958 : Gerügt werde die fehlerhafte Anwendung der §§ 78 und 79 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) . Das Landessozialgericht hätte den Entziehungsbescheid auch unter dem Gesichtspunkt des § 1293 Abs . 2 RVO nachprüfen müssen . Danach hätte sich ergeben , daß der Kläger zur Zeit der Entziehung der Rente nicht berufsunfähig und invalide war . Das Vorverfahren sei eine verzichtbare Prozeßvoraussetzung . Die Begründung des Entziehungsbescheides mit § 1293 Abs . 2 RVO sei in der mündlichen Verhandlung beim Landessozialgericht vorgetragen worden , in der der Kläger vertreten gewesen sei . Dieser habe die Möglichkeit gehabt , das Fehlen des Vorverfahrens zu rügen , was er nicht getan habe . Durch das Nachschieben einer anderen Begründung habe sich der Entziehungsbescheid in seinem Wesen nicht verändert .

Der Kläger (Revisionsbeklagte) beantragte unter Bezugnahme auf die Gründe des angefochtenen Urteils die Zurückweisung der Revision .

II.

Die Revision der Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt und rechtzeitig begründet worden , sie ist statthaft , weil das Landessozialgericht sie zugelassen hat (§ 162 Abs . 1 Nr . 1 SGG) ; das Rechtsmittel ist auch begründet .

Der vom Kläger angegriffene Bescheid ist vor dem Inkrafttreten der Gesetze zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherungen vom 23 . Februar 1957 (BGBl . I S . 45 ff . ) ergangen . Ob die darin ausgesprochene Entziehung der Rente rechtmäßig ist oder ob der Kläger die Rente auch über den Entziehungstermin hinaus beanspruchen kann , ist - soweit die Zeit bis zum 31 . Dezember 1956 in Betracht kommt - nach dem früheren Recht zu beurteilen (§§ 42 , 27 AVG a . F .; §§ 1293 , 1254 RVO a . F . ) . Soweit es sich um den Rentenanspruch des Klägers für die Zeit seit dem 1 . Januar 1957 handelt , sind dagegen die Vorschriften der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze maßgebend (§ 23 Abs . 2 AVG n . F ., § 1246 Abs . 2 RVO n . F . - vgl . BSG . im SozR . Aa Nr . 5 zu § 1293 RVO a . F . ) .

Nach dem Recht , das im Jahre 1954 in der britischen Zone galt , war die Entziehung einer Rente zulässig , wenn der Berechtigte infolge einer wesentlichen Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig und invalide war (§ 42 AVG a . F ., § 1293 Abs . 1 RVO a . F . ) ; sie war vorübergehend auch ohne Feststellung einer solchen Änderung zulässig , wenn eine erneute Prüfung ergab , daß Berufsunfähigkeit und Invalidität nicht vorlagen (§ 42 AVG a . F ., § 1293 Abs . 2 RVO a . F ., SVD Nr . 3 Ziff . 1 - vgl . BSG . 2 S . 188) . Das Landessozialgericht hat festgestellt , daß eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen des Klägers seit der Rentengewährung nicht eingetreten sei . An diese auf tatsächlichem Gebiet liegende Feststellung , gegen welche die Beklagte keine Revisionsgründe vorgebracht hat , ist das Revisionsgericht gebunden (§ 163 SGG) . Die Entziehung des Ruhegeldes kann daher nicht auf § 1293 Abs . 1 RVO gestützt werden ; der Entziehungsbescheid vom 16 . Januar 1954 , der ausschließlich vom Eintritt einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen des Klägers ausging , ist daher mit dieser Begründung nicht zu Recht ergangen .

Für die Rechtmäßigkeit der Rentenentziehung hat sich jedoch die Beklagte im Laufe des Berufungsverfahrens auch auf § 1293 Abs . 2 RVO berufen . Sie hat damit neue Rechtsgründe geltend gemacht , mit deren Hilfe sie den Bescheid vom 16 . Januar 1954 trotz der ihm beigegebenen unzutreffenden Begründung nachträglich aufrechterhalten will . Dies ist grundsätzlich zulässig ; der Versicherungsträger ist nicht an die Begründung gebunden , die er seinem Bescheid gegeben hat (BSG . 3 S . 209/216 und 7 S . 8/12) . Auch das Gericht muß im Rahmen der ihm obliegenden Rechtsfindung prüfen , ob ein Bescheid , der eine unzutreffende Begründung enthält , auf andere rechtliche Vorschriften gestützt werden kann . Die Berücksichtigung von neuen Rechtsgründen ist nur insoweit ausgeschlossen , als der ursprüngliche Bescheid durch die andere Begründung nach Voraussetzungen , Inhalt und Wirkungen etwas wesentlich anderes und damit in seinem Wesen verändert wird . Letzteres ist hier nicht der Fall . Auch mit dem neuen Rechtsgrund ist der angefochtene Bescheid ein Entziehungsbescheid geblieben . Für die Entziehung der Rente ist sowohl nach Abs . 1 wie auch nach Abs . 2 des § 1293 RVO das Nichtvorliegen von Berufsunfähigkeit und Invalidität vorausgesetzt . Die Erleichterung der einen Vorschrift gegenüber der anderen , die in dem Wegfall der Feststellung einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen des Berechtigten liegt , ändert den Bescheid weder in seinem Inhalt noch in seinen Wirkungen . Durch die nachträgliche andere Begründung wird daher kein anders-artiger Bescheid geschaffen , sondern nur der bereits ergangene Bescheid auf eine andere rechtliche Grundlage gestellt . Dies ist rechtlich zulässig .

Infolge der neuen Bescheidbegründung hat sich für den Kläger die Rechtfertigung seines Klagebegehrens auch nicht schwieriger gestaltet . Insbesondere trifft es nicht zu , daß eine auf § 1293 Abs . 2 RVO gestützte Rentenentziehung vor der Erhebung der Klage in einem Widerspruchsverfahren nachgeprüft werden muß . Der Senat hat diese Frage in einem ähnlich liegenden Rechtsstreit - unter Aufgabe seiner in einem früheren Urteil (BSG . 2 S . 188/195) beiläufig geäußerten Ansicht - verneint (Urteil vom 29 . 7 . 1958 - 1 RA 68/57 - , vgl . auch BSG . im SozR . Aa Nr . 7 zu § 1293 RVO a . F . ) ; er hält auch im vorliegenden Rechtsstreit daran fest , daß die Entziehung der Rente nach § 1293 Abs . 2 RVO in Verbindung mit Ziff . 1 der SVD Nr . 3 nicht im Ermessen des Versicherungsträger steht und keines Vorverfahrens bedarf . Die Rente des Klägers mußte vielmehr entzogen werden , sobald feststand , daß er nicht berufsunfähig und nicht invalide war . Für die Anfechtung des Entziehungsbescheids gilt auch in diesem Falle nichts anderes als bei der Rentenentziehung nach § 1293 Abs . 1 RVO . Es bedeutet deshalb auch keine unzulässige Schlechterstellung des Klägers im Prozeß , daß die Beklagte die Rentenentziehung erst im Laufe des Berufungsverfahrens auf den neuen Rechtsgrund gestützt hat .

Danach war aber die Entziehung der Rente des Klägers unter den Voraussetzungen des § 1293 Abs . 2 RVO gerechtfertigt , die Rente also auch ohne Feststellung einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen zu entziehen , wenn eine neue Prüfung ergab , daß der Kläger nicht berufsunfähig und invalide war . Das Landessozialgericht hätte dem hierauf gerichteten Vorbringen der Beklagten nachgehen und die Rechtmäßigkeit der Rentenentziehung auch unter diesem Gesichtspunkt nachprüfen müssen . Weil es die Nachprüfung zu Unrecht unterließ , muß das angefochtene Urteil aufgehoben werden . Eine Entscheidung des Rechtsstreits durch den Senat (§ 170 Abs . 2 Satz 1 SGG) ist indessen nicht möglich . Hierfür reichen die Feststellungen , die bisher über die Erwerbsfähigkeit des Klägers getroffen wurden , nicht aus . Das Landessozialgericht hat sich im angefochtenen Urteil - nachdem es die Anwendbarkeit des § 1293 Abs . 2 RVO verneint hatte - mit der Feststellung begnügt , die Verhältnisse des Klägers hätten sich seit der Rentenbewilligung nicht geändert . Diese Feststellung reicht zwar für die Entscheidung des Landessozialgerichts von dessen Rechtsstandpunkt , nicht dagegen für die vom Senat für richtig gehaltene Entscheidung aus . Denn damit ist noch nicht die Frage beantwortet , ob bei dem Kläger - wie die Beklagte geltend macht - zur Zeit der Rentenentziehung und darüber hinaus während des ganzen Verlaufs des Rechtsstreits Berufsunfähigkeit und Invalidität nicht vorlagen . Auf die Beantwortung dieser Frage kommt es aber für den vorliegenden Rechtsstreit entscheidend an , sie bedarf noch der weiteren Klärung in tatsächlicher Hinsicht . Aus diesem Grunde muß der Rechtsstreit an das Landessozialgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden (§ 170 Abs . 2 Satz 2 SGG) .

Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits bleibt dem abschließenden Urteil des Landessozialgerichts vorbehalten .

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324380

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