Leitsatz (amtlich)

Anwendung des RVO § 1293 Abs 2 - Treu und Glauben:

Selbst wenn sich die Beklagte bei der Entziehung der Rente nur auf den 1. Absatz der Vorschrift gestützt hat, ist das Berufungsgericht jedenfalls berechtigt, bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit des Bescheides auch den 2. Absatz dieser Vorschrift zu berücksichtigen.

Der erkennende Senat schließt sich der Rechtsauffassung an, daß die Entziehung einer Rente nach RVO § 1293 Abs 2 iVm der SVD 3 Nr 1 nicht im Ermessen des Versicherungsträgers steht.

Besondere Umstände können es notwendig machen, das Vertrauen des Versicherten in den Fortbestand des Bewilligungsbescheids ausnahmsweise gegenüber der Pflicht des Versicherungsträgers zum Entzug der Rente zu schützen.

 

Normenkette

SVD 3 Nr. 1 Fassung: 1945-10-14; RVO § 1293 Abs. 2 Fassung: 1934-05-17, Abs. 1 Fassung: 1934-05-17

 

Tenor

Die Revision des Kläger gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 15. November 1956 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger bezog von Ende 1945 bis Anfang 1955 Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit und Invalidität. Er erstrebt mit der Klage und Revision die Weitergewährung des Ruhegelds.

Der Kläger ist von Beruf Landwirt und Eigentümer einer mittleren landwirtschaftlichen Siedlungsstelle in Schleswig-Holstein. Vor und während des letzten Krieges war er unter anderem als Wirtschafter in landwirtschaftlichen Betrieben, Wehrsportführer, Arbeiter und zeitweise Angestellter im Reichsluftfahrtministerium und landwirtschaftlicher Sonderführer in Rußland und Italien tätig. Im Kriegseinsatz 1944/45 wurde er mehrfach verwundet und verlor seinen rechten Fuß. Die Landesversicherungsanstalt (LVA.) Schleswig-Holstein, die damals für ihren Bezirk die Aufgaben der Angestelltenversicherung (AV.) mit wahrnahm, erkannte wegen des Verlustes des rechten Unterschenkels und Lähmungserscheinungen im linken Fuß Berufsunfähigkeit und Invalidität an und gewährte das Ruhegeld aus der AV. und die Steigerungsbeträge aus der Invalidenversicherung. Die Beklagte als die neue Trägerin der AV. entzog das Ruhegeld im Februar 1955, nachdem sie durch zwei fachärztliche Gutachten die Überzeugung gewonnen hatte, daß der Kläger nicht mehr berufsunfähig und invalide sei. Sie stützte ihren Bescheid auf § 42 AVG a.F. in Verbindung mit § 1293 RVO a.F.. Dabei machte sie nicht kenntlich, ob sie die Entziehung mit dem Absatz 1 oder dem Absatz 2 des § 1293 RVO a.F. begründete. Als Rechtsmittel gegen den Bescheid nannte sie die Klage beim Sozialgericht (SG.) Schleswig (Bescheid vom 4.2.1955).

Das SG. Schleswig verurteilte die Beklagte, das Ruhegeld über Februar 1955 hinaus weiter zu gewähren (Urteil vom 18.5.1955). Das Landessozialgericht (LSG.) Schleswig hob auf die Berufung der Beklagten hin dieses Urteil auf und wies die Klage ab. Es stellte in tatsächlicher Hinsicht zunächst fest, daß der Kläger im Reichsluftfahrtministerium auch während seiner Tätigkeit im Angestelltenverhältnis ausschließlich körperliche Arbeiten verrichtete, weiter, daß in der Zeit nach der Rentenbewilligung eine wesentliche Änderung in seinen Verhältnissen weder durch eine Anpassung und Gewöhnung an den Zustand noch durch den Erwerb neuer Fertigkeiten noch durch eine Besserung der objektiven Befunde eingetreten ist, und schließlich, daß sich die Gesundheitsschäden, die zur Rentenbewilligung führten, nicht verändert haben. Diese Gesundheitsstörungen ergäben, daß der Kläger sowohl zur Zeit der Bewilligung des Ruhegelds als auch zur Zeit der Entziehung berufsfähig und nicht invalide gewesen sei. Sein körperlicher Zustand erlaube es ihm, entsprechend seinem Berufsweg als Wirtschafter in landwirtschaftlichen Betrieben seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Beklagte habe deshalb auf Grund des § 42 AVG a.F. in Verbindung mit § 1293 Abs. 2 RVO a.F. und der Ziff. 1 der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 3 vom 14. Oktober 1945 (Arbbl. für die brit. Zone 1947 S. 12) die Rente entziehen dürfen. Eines Vorverfahrens habe es dazu nicht bedurft (Urteil vom 15.11.1956).

Das LSG. ließ die Revision zu. Der Kläger legte gegen das ihm am 28. März 1957 zugestellte Urteil am 15. April 1957 Revision ein und begründete sie am 14. Mai 1957. Er beantragte, das Urteil des LSG. aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG. zurückzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen. Er rügte die Verletzung der §§ 27, 42 AVG a.F. in Verbindung mit § 1293 RVO a.F. sowie die unrichtige Anwendung der Rechtsgrundsätze über die Auslegung und Deutung von Bescheiden: Die Beklagte habe, wenn dies auch nicht ausdrücklich erklärt worden sei, ihren Entziehungsbescheid auf § 42 AVG a.F. in Verbindung mit § 1293 Abs. 1 - nicht Absatz 2 - RVO a.F. gestützt. Dies folge aus der Begründung des Bescheids, der Kläger sei "nicht mehr berufsunfähig", sowie daraus, daß die Beklagte in der Rechtsmittelbelehrung als Rechtsmittel die Klage und nicht den Widerspruch genannt habe. Eine Rentenentziehung auf Grund des Abs. 1 des § 1293 RVO a.F. sei aber nicht gerechtfertigt, weil in den Verhältnissen des Klägers, wie das LSG. selbst festgestellt habe, keine wesentliche Änderung eingetreten sei. Das LSG. habe nun den angefochtenen Bescheid nicht umdeuten und die Rentenentziehung mit dem Hinweis auf § 1293 Abs. 2 RVO a.F. aufrechterhalten dürfen. Eine Rentenentziehung auf Grund dieser Vorschrift stelle eine Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers dar; sie hätte vor der Erhebung der Klage durch einen Widerspruch in einem Vorverfahren nachgeprüft werden müssen. Im übrigen verstoße die Rentenentziehung nach so langer Rentengewährung auch gegen den Grundsatz von Treu und Glauben.

Die Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.

Für die Zeit bis Ende 1956 ist die Rechtmäßigkeit der Rentenentziehung nach dem damals geltenden Recht (§§ 42, 27 AVG a.F., §§ 1293, 1254 RVO a.F.) zu beurteilen. Die am 1. Januar 1957 in Kraft getretenen Neuregelungsgesetze für die Rentenversicherungen vom 23. Februar 1957 haben insoweit keine Änderungen gebracht. Für die Zeit vom 1. Januar 1957 an sind der Beurteilung der Berufsunfähigkeit dagegen die Vorschriften der Neuregelungsgesetze zugrunde zu legen (§ 23 Abs. 2 AVG n.F., § 1246 Abs. 2 RVO n.F.; vgl. BSG., SozR. § 1293 RVO a.F. Aa Nr. 5).

Nach dem 1955 in der früheren britischen Zone geltenden Recht war die Entziehung eines Ruhegelds zulässig, wenn der Berechtigte infolge einer wesentlichen Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig war (§ 1293 Abs. 1 RVO); sie war vorübergehend auch ohne die Feststellung einer solchen Änderung in den Verhältnissen zulässig, wenn eine erneute Prüfung ergab, daß Berufsunfähigkeit nicht vorlag (§ 1293 Abs. 2 RVO a.F., Ziff. 1 SVD Nr. 3; vgl. auch BSG. 2 S. 188). Die zuerst genannte Vorschrift stützt die Entziehung des Ruhegelds des Klägers nicht, weil das LSG. festgestellt hat, daß in dessen tatsächlichen gesundheitlichen Verhältnissen zwischen 1946 und 1955 keine wesentlichen Änderungen eingetreten sind. An diese Feststellung ist das Revisionsgericht gebunden (§ 163 SGG). Die Entziehung der Rente wird jedoch durch die weiter erwähnte gesetzliche Grundlage gerechtfertigt. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Fassung des Entziehungsbescheids, wie der Kläger annimmt, dafür spricht, daß sich die Beklagte bei der Entziehung nur auf den ersten Absatz der umstrittenen Vorschrift gestützt hat; selbst wenn dies so sein sollte, war das Berufungsgericht jedenfalls berechtigt, bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit des Bescheids auch den 2. Absatz dieser Vorschrift zu berücksichtigen. Darin liegt - entgegen der Meinung der Revision - kein unzulässiges Umdeuten des Entziehungsbescheids. Es ist die Aufgabe des Gerichts, das Recht zu finden und dabei zu prüfen, welche Rechtsnormen der konkrete Sachverhalt berührt. Deshalb ist es zulässig, wenn das Gericht einen angefochtenen Bescheid mit anderen gesetzlichen Vorschriften stützt, als es der Versicherungsträger getan hat, sofern weder gesetzlich etwas anderes vorgeschrieben ist noch der Bescheid dadurch in seinem Wesen verändert wird (vgl. BSG., SozR. zu § 54 SGG Da Nr. 30; Eyermann-Fröhler, VerwGerG, 2. Aufl. S. 238; Peters-Sautter-Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, § 128 Anm. 2 c). Letzteres ist nicht der Fall. Auch mit dem neuen Rechtsgrund ist der angefochtene Bescheid ein Entziehungsbescheid geblieben. Beide Rechtsvorschriften erfordern als Voraussetzung der Entziehung das Nichtvorliegen von Berufsunfähigkeit. Die Erleichterung der einen Vorschrift gegenüber der anderen - Wegfall der Feststellung einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen des Berechtigten - ändert den Bescheid weder in seinem Inhalt noch in seinen Wirkungen. Es ist auch nicht richtig, daß eine auf § 1293 Abs. 2 RVO a.F. gestützte Rentenentziehung vor der Erhebung der Klage in einem Widerspruchsverfahren nachgeprüft werden muß. Die Rechtsmittelbelehrung in dem angefochtenen Bescheid und die Durchführung des gerichtlichen Verfahrens sind insoweit nicht fehlerhaft. Das Bundessozialgericht (BSG.) hat bereits in einem anderen Verfahren entschieden, daß die Entziehung einer Rente nach § 1293 Abs. 2 in Verbindung mit der Ziff. 1 SVD Nr. 3 nicht im Ermessen des Versicherungsträgers steht und deshalb keines Vorverfahrens bedarf. Dieses Ergebnis ist aus dem Wortlaut, dem Sinn und der Entstehungsgeschichte des § 1293 RVO a.F. gewonnen worden. Der Systematik des Rechts der Rentenversicherungen widerspricht es, daß die Weitergewährung von Rentenleistungen, deren Gewährung nur von dem Vorliegen bestimmter Voraussetzungen und nicht von einem Ermessen abhängt, in das Ermessen des Versicherungsträgers gestellt wird. Hätte der Gesetzgeber etwas derartiges gewollt, so hätte er diesen abweichenden Willen deutlich zum Ausdruck bringen müssen. Aus der von ihm gewählten Fassung - "die Entziehung einer Rente ist auch... zulässig" - kann nicht auf einen solchen Willen geschlossen werden (vgl. BSG., SozR. § 1293 RVO a.F. Aa Nr. 7. Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsauffassung an. Er hält die von ihm in einem früheren Urteil - BSG. 2 S. 188/195 - beiläufig geäußerte Ansicht, auf der die damalige Entscheidung in ihrem Kern auch nicht beruht, nicht aufrecht). Das Ruhegeld des Klägers mußte deshalb entzogen werden, sobald feststand, daß er nicht berufsunfähig und nicht invalide war. Mit dieser Begründung konnte und durfte auch das Berufungsgericht die von der Beklagten ausgesprochene Rentenentziehung rechtfertigen.

In der Entziehung des Ruhegelds liegt auch kein Rechtsmißbrauch, der als Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben unzulässig wäre (BSG. 2 S. 188/196). Die Annahme des LSG., der Kläger sei berufsfähig und nicht invalide, ist nicht zu beanstanden. Die vom Berufungsgericht aus zahlreichen ärztlichen Gutachten und Berichten festgestellten Gesundheitsstörungen erlauben dem Kläger noch Arbeiten als Vorarbeiter, Wirtschafter oder Inspektor in der Landwirtschaft. Seiner Vorbildung und seinem Werdegang nach ist er zu solchen Tätigkeiten auch befähigt. Besondere Umstände, die es notwendig machten, das Vertrauen des Klägers in den Fortbestand des Bewilligungsbescheids ausnahmsweise gegenüber der Pflicht des Versicherungsträgers zum Entziehen der Rente zu schützen, sind nicht dargetan. Vielmehr sprechen die Verhältnisse im vorliegenden Fall dafür, daß der Kläger mit einer Überprüfung seiner Rentenberechtigung auch nach einer längeren Bezugszeit rechnen mußte. Er war zur Zeit der Rentenbewilligung noch jung, sein Körper trotz der Kriegsverletzungen noch anpassungsfähig; die Festsetzung des Ruhegelds erfolgte außerdem in den ersten wirren Nachkriegsjahren, in denen es den Versicherungsträgern nicht möglich war, die Voraussetzungen für den Rentenbezug mit der Sorgfalt zu prüfen, wie sie in geordneten Zeiten gefordert werden muß; auch war damals die ursprüngliche Trägerin der AV., die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte in Berlin, durch die Ereignisse bei der Kapitulation stillgelegt und die LVA. nur übergangsmäßig mit den Aufgaben der AV. beauftragt worden. Die neue Trägerin der AV., die Beklagte, wurde erst 1953 errichtet und konnte ihre Arbeit praktisch erst Anfang 1954 aufnehmen; sie hat dann alsbald, nämlich im Herbst 1954, die Rentenberechtigung des Klägers überprüft. Die Versicherungsträger zu ermächtigen und zu verpflichten, hierbei auch solche Renten zu entziehen, die zu Unrecht bewilligt worden waren, war gerade der Zweck der SVD Nr. 3. Ihre Gültigkeit bis zum Inkrafttreten der Neuregelungsgesetze für die Rentenversicherungen (1957) ist vom erkennenden Senat schon früher bejaht worden (BSG. 2 S. 188). Unter diesen Umständen verstößt es nicht gegen Treu und Glauben, wenn dem Kläger für die Zukunft eine Rente entzogen wurde, obwohl er sie schon jahrelang ohne die gesetzlichen Voraussetzungen bezog.

Der Kläger, der für den Fall der Rechtmäßigkeit der Rentenentziehung mit der Klage auch die Wiedergewährung der Rente von einem späteren Zeitpunkt an beansprucht, ist auch nicht berufsunfähig im Sinne des § 23 Abs. 2 AVG n.F. oder des § 1246 Abs. 2 RVO n.F.. Seine Erwerbsfähigkeit in den bereits genannten Berufen ist noch nicht auf weniger als die Hälfte derjenigen von gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen herabgesunken.

Die Entscheidung des LSG. ist also im Ergebnis richtig (§§ 170, 193 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2314013

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