Leitsatz (amtlich)
Wären für einen aus politischen Gründen aus dem öffentlichen Dienst entlassenen Angestellten bei Verbleiben im öffentlichen Dienst während des Wehrdienstes Beiträge zur Angestelltenversicherung entrichtet worden, so entspricht es den Grundgedanken der WGSVG §§ 14, 13, wenn dies für den Versicherten günstiger ist, den Wehrdienstzeiten die Beitragsklassen und Bruttoarbeitsentgelte zuzuordnen, die sich für die zu unterstellende Weiterbeschäftigung bei entsprechender Anwendung von FRG § 22 ergeben.
Normenkette
WGSVG § 13 Abs. 1 Fassung: 1970-12-22, § 14 Abs. 2 Fassung: 1970-12-22; AVG § 28 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1970-12-22; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1970-12-22; FRG § 22 Abs. 1 Fassung: 1960-02-25
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 14. Januar 1975 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger ist Verfolgter im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Er war im öffentlichen Dienst als Verwaltungsangestellter beschäftigt. Im Juni 1933 wurde er aus politischen Gründen entlassen. Danach war er bis zu seiner Einberufung zur Wehrmacht im Juni 1940 als Angestellter in privaten Betrieben tätig. Im Juli 1945 kam er aus der Kriegsgefangenschaft zurück.
In ihrem Bescheid vom 20. März 1972 über die Gewährung von Altersruhegeld hob die Beklagte die nach der Entlassung bis zur Einberufung zum Wehrdienst entrichteten Pflichtbeiträge gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) durch Zuordnung des Klägers zur Leistungsgruppe B 4 bzw. B 3 der Anlage 1 zum Fremdrentengesetz (FRG) an; den Wehrdienst und die Gefangenschaft berücksichtigte sie als Ersatzzeiten nach den §§ 28 Abs. 1 Nr. 1 und 32 a Nr. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Der Kläger will entsprechend § 13 Abs. 1 WGSVG auch diese Zeiten mit den für ihn günstigeren Beitragsklassen und Bruttoarbeitsentgelten der Anlagen zu § 22 FRG - Leistungsgruppe B 3 - angerechnet haben, weil im Falle seines Verbleibens im öffentlichen Dienst während des Wehrdienstes Beiträge zur Angestelltenversicherung entrichtet worden wären (vgl. VO vom 22. Januar 1940, RGBl I 225).
Seine Klage hatte in beiden Vorinstanzen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts vom 24. Juni 1974; Urteil des Landessozialgerichts - LSG - vom 14. Januar 1975). Das LSG hat ausgeführt: § 13 Abs. 1 WGSVG komme zwar nicht unmittelbar zum Zuge, weil die Zeit des Kriegsdienstes keinen Verfolgungstatbestand im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG erfülle. Es deute jedoch nichts darauf hin, daß nur die dort aufgeführten Fälle Verfolgungszeiten im Sinne des § 13 Abs. 1 WGSVG seien. Da der Wehrdienst für den Kläger deshalb eine Verfolgungszeit darstelle, weil der erzwungene Verlust des Arbeitsplatzes im öffentlichen Dienst schädigend fortgewirkt habe, sei § 13 Abs. 1 WGSVG entsprechend anzuwenden und die Vergleichsberechnung vorzunehmen.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage in vollem Umfange abzuweisen.
Sie rügt die Verletzung der §§ 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG, 13 Abs. 1 WGSVG. Nach dem Willen des Gesetzgebers sei § 13 Abs. 1 WGSVG nur auf die Ersatzzeiten im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG anzuwenden. Hierunter falle der Wehrdienst des Klägers nicht. Während dieser Zeit dürfte er in der Sozialversicherung gegenüber anderen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes zwar benachteiligt gewesen sein, doch erscheine fraglich, ob das einen Analogieschluß gegen den Wortlaut des § 13 Abs. 1 WGSVG rechtfertigen könne.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Der Schaden in der Sozialversicherung, den der Kläger unstreitig erlitten hat, weil während seines Kriegsdienstes Beiträge zur Rentenversicherung nicht entrichtet worden sind, ist nach dem WGSVG auszugleichen. Mit dieser Auffassung folgt der Senat dem LSG im Ergebnis. § 13 Abs. 1 WGSVG, den das LSG analog auf den Fall des Klägers angewandt hat, kann allerdings nicht allein der Anknüpfungspunkt für den gebotenen Schadensausgleich sein.
Diese Vorschrift sieht eine besondere Bewertung der Verfolgungszeiten bei der Rentenberechnung vor, wobei Verfolgungszeiten die Ersatzzeiten des § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG sind (§ 1 Abs. 2 Buchst. a WGSVG). Hiernach werden diese Zeiten - ebenso wie durch § 12 - weitgehend wie Beitragszeiten behandelt. Es wird die Beitragsleistung unterstellt, die ohne Verfolgung vermutlich erfolgt wäre und dabei von der zuletzt ausgeübten Beschäftigung ausgegangen. Die Zeiten bleiben dem Grundsatz nach jedoch Ersatzzeiten (§ 11 WGSVG). In dieser Gruppe ist der Kläger nicht unterzubringen. Bei ihm liegen keine Ersatzzeittatbestände im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG, mithin keine Verfolgungszeiten gemäß § 13 Abs. 1 WGSVG vor.
Dem Kläger ist in der Sozialversicherung gleichwohl Schaden entstanden, weil er aus Verfolgungsgründen ein Beschäftigungsverhältnis beenden mußte, bei dessen Fortdauer während des Wehrdienstes für ihn Beiträge entrichtet worden wären. Damit steht der Kläger der von § 14 WGSVG erfaßten Gruppe näher. Diese Vorschrift (s. auch §§ 16, 17 WGSVG) gleicht die Schäden aus, die aus Verfolgungsgründen bei Ausübung versicherungspflichtiger Beschäftigungen entstanden sind. Dabei unterteilt sie in Fälle, in denen aus Verfolgungsgründen geringere Beiträge und in solche Fälle, in denen gar keine Beiträge entrichtet worden sind. In der zweiten Fallgruppe gelten Pflichtbeiträge für die Beschäftigung als entrichtet; hierbei sind, sofern dies für den Versicherten günstiger ist, den Zeiten Beitragsklassen und Bruttoarbeitsentgelte zuzuordnen, die sich bei entsprechender Anwendung des § 13 WGSVG ergeben.
Da dem Kläger ebenfalls Beiträge, wenn auch nicht für Beschäftigungszeiten, jedoch für Zeiten seines Wehrdienstes fehlen, die ohne die verfolgungsbedingte Entlassung aus dem öffentlichen Dienst entrichtet worden wären, sind die Grundgedanken des § 14 iVm § 13 WGSVG anwendbar: Sie erlauben es, einen Schaden auszugleichen, den ein Versicherter aus Verfolgungsgründen dadurch erlitten hat, daß ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis sich nicht während der Zeit des Wehrdienstes fortgesetzt hat. Die Interessenlage ist hier der in den normierten Fällen gleich.
Der Wille des Gesetzgebers steht dem nicht entgegen. Er hat im WGSVG das Recht der Wiedergutmachung in der Sozialversicherung zusammenfassen und es so verbessern wollen, daß den Sozialversicherten "ein voller Ausgleich des Schadens ermöglicht wird ..." (BT-Drucks. VI/1449). Nach diesen Grundsätzen hatte das Bundessozialgericht schon das vorangegangene Verfolgtengesetz ausgelegt (BSG 10, 113, 116; 13, 65, 67). Der erkennende Senat sieht keinen Anlaß, bei Anwendung des WGSVG anders zu verfahren, zumal aus den Materialien zu diesem Gesetz nicht zu entnehmen ist, daß Gruppen von Verfolgten oder Schäden in der Sozialversicherung vom Schadensausgleich ausgeklammert bleiben sollten. Offenbar ist es versehentlich unterlassen worden, Fälle wie den des Klägers tatbestandsmäßig im Gesetz zu erfassen.
Diese Lücke ist darum zu schließen (BSG 23, 7, 9 mit weiteren Nachweisen). Sie läßt sich auch schließen, ohne daß es hierzu einer - systemwidrigen - individuellen Berechnung bedarf. Der Ausgleich des Schadens kann - wie es der Kläger will und es die Vorinstanzen getan haben - dadurch erreicht werden, daß dem Kläger für die zu unterstellende Beschäftigungszeit während des Wehrdienstes Beitragsklassen und Bruttoarbeitsentgelte zugeordnet werden, die sich bei entsprechender Anwendung von § 22 FRG ergeben; damit wird dem Bestreben nach Generalisierung und Pauschalierung der fehlenden Beiträge Rechnung getragen.
Hiernach war der Revision der Erfolg zu versagen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen