Leitsatz (amtlich)
Entscheidet das Landessozialgericht nicht über einen Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe, so kann darin ein Verfahrensmangel in Form eines Verstoßes gegen das Rechtsstaatsprinzip und einer Verletzung des rechtlichen Gehörs liegen.
Normenkette
GG Art 20 Abs 3; GG Art 103 Abs 1; SGG §§ 62, 73a Abs 1 S 1; ZPO § 114 S 1, § 117 Abs 1
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 17.12.1984; Aktenzeichen L 2 J 138/84) |
SG Mainz (Entscheidung vom 08.12.1981; Aktenzeichen S 4 J 224/80) |
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob dem Kläger Versichertenrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zusteht.
Der Kläger ist gelernter Herrenschneider und hat in diesem Beruf die Meisterprüfung abgelegt. Seinen Antrag vom 8. Januar 1980, ihm Versichertenrente zu gewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 26. Juni 1980 ab.
Das Sozialgericht (SG) hat die dagegen erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom 8. Dezember 1981). Das die Berufung des Klägers zurückweisende Urteil des Landessozialgerichts (LSG) hat der erkennende Senat am 28. März 1984 in dem Revisionsverfahren 5b RJ 98/83 aufgehoben und den Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen. Dieses hat daraufhin weiteren Beweis erhoben und sodann die Berufung des Klägers erneut zurückgewiesen (Urteil vom 17. Dezember 1984). Er könne seinen bisherigen Beruf als Herrenschneider weiterhin in vollen Schichten ausüben. Deshalb sei er nicht berufs- und erst recht nicht erwerbsunfähig iS der §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom Senat zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung der Art 20 Abs 3 und 103 Abs 1 des Grundgesetzes (GG), des § 62 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie der §§ 73, 73a SGG iVm den §§ 114 ff der Zivilprozeßordnung (ZPO). Das LSG habe über seinen Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts nicht entschieden.
Der Kläger beantragt, unter Aufhebung der Urteile des LSG vom 17. Dezember 1984 und des SG vom 8. Dezember 1981 sowie des Bescheides der Beklagten vom 26. Juni 1980 die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung gem § 124 Abs 2 SGG einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist begründet. Das angefochtene Urteil, das auf einem wesentlichen Mangel des Berufungsverfahrens beruhen kann, mußte aufgehoben und der Rechtsstreit erneut an das LSG zurückverwiesen werden.
Zutreffend rügt der Kläger als Verfahrensmangel, daß über seinen Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe das LSG nicht entschieden hat. Nachdem der Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 17. Dezember 1984 anberaumt worden war, hat das LSG dem Kläger am 30. November 1984 ua berufskundliche Unterlagen betreffend die Tätigkeit eines Schneiders übersandt. Mit Schreiben vom 4. Dezember 1984 hat der Kläger beantragt, ihm Prozeßkostenhilfe zu gewähren. Dazu hat er ausgeführt, er fühle sich durch die "Prozeßmaterie" überfordert und sehe sich nicht mehr in der Lage, den Rechtsstreit ohne Prozeßvertreter weiter zu führen. Gleichzeitig beantragte er die "Vertagung" des auf den 17. Dezember 1984 anberaumten Termins. Das LSG ließ den Kläger wissen, eine Terminsverlegung erfolge nicht. Ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 17. Dezember 1984 ist der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung erschienen und hat einen Sachantrag gestellt. Weder das Protokoll noch das Urteil des LSG vom selben Tage enthalten Hinweise auf eine Entscheidung über das Gesuch des Klägers um Bewilligung von Prozeßkostenhilfe.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) gehört der Anspruch auf eine "faire" Verfahrensführung zu den wesentlichen Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips, wie es in Art 20 Abs 3 GG verankert ist (vgl BVerfGE 51, 150, 156; 60, 175, 215 mwN). Das Prozeßrecht der Sozialgerichtsbarkeit sieht in § 73a SGG iVm §§ 114 ff ZPO die Möglichkeit der Prozeßkostenhilfe vor, um jedem Bürger ein gewisses Maß an Chancengleichheit bei der Wahrnehmung seiner Interessen vor Gericht zu gewährleisten. Zu den Pflichten des Gerichts gehört es, über den Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe (§ 117 ZPO) zu entscheiden (§ 127 ZPO). Im Falle des Klägers hat das LSG die Entscheidung nicht getroffen, ohne daß Gründe erkennbar sind, die ein solches Unterlassen rechtfertigen könnten. Das widerspricht einer am Rechtsstaatsprinzip orientierten Verfahrensführung und ist als Mangel des Berufungsverfahrens anzusehen.
Darüber hinaus rügt der Kläger zu Recht, das LSG habe den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, der auf dem Rechtsstaatsprinzip basiert, in Art 103 Abs 1 GG verankert und in § 62 SGG normiert ist. Das rechtliche Gehör muß allerdings nicht durch einen Anwalt gewährt werden. Nach § 73 Abs 1 Satz 1 SGG können sich die Beteiligten jedoch in jeder Lage des Verfahrens durch prozeßfähige Bevollmächtigte vertreten lassen. Diese Vorschrift iVm § 62 SGG begründet nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) grundsätzlich den Anspruch, daß in der mündlichen Verhandlung auch der rechtskundige Prozeßbevollmächtigte Gehör findet (vgl BSG in SozR 1750 § 227 Nr 2). In gleicher Weise muß einem Beteiligten, der die Kosten einer anwaltlichen Prozeßvertretung nicht aufbringen kann, eine sachgerechte Prozeßführung mit rechtskundigem Beistand, wenn diese geboten ist, ermöglicht werden. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist nicht darauf beschränkt, daß sich der Beteiligte irgendwie äußern kann, es muß ggf auch rechtskundiges Gehör gewährleistet sein. Für denjenigen, der Prozeßkostenhilfe nach den §§ 114 ff ZPO beanspruchen kann, ist somit der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt, wenn das Gericht über seinen entsprechenden Antrag nicht entscheidet. Erst wenn das geschehen ist, vermag er sich auf eine sachgerechte Prozeßführung einzurichten.
Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe waren beim Kläger erfüllt. Darüber hinaus konnte Prozeßkostenhilfe nur gewährt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bot (§ 114 Satz 1 ZPO). Da das LSG im angefochtenen Urteil die Berufung des Klägers zurückgewiesen hat, spricht das gegen eine solche Erfolgsaussicht. Indes ist nicht auszuschließen, daß das Urteil auf dem Verfahrensmangel beruhen kann, der in der unterlassenen Entscheidung über den Antrag des Klägers auf Bewilligung der Prozeßkostenhilfe liegt. Im Falle der Ablehnung des Antrags hätte der Kläger sich anderweitig um eine sachkundige Prozeßvertretung bemühen können, beispielsweise mit Hilfe einer Vereinigung, die ihren Mitgliedern entsprechenden Rechtsschutz vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit gewährt. In der Revisionsbegründung hat der Kläger dargelegt, mit welchen Einwendungen das Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme hätte angegriffen und welche Beweisanträge vor dem LSG hätten gestellt werden können. Nach alledem ist davon auszugehen, daß das angefochtene Urteil auf dem gerügten Verfahrensmangel beruhen kann. Da schon deshalb die Entscheidung des LSG aufgehoben werden mußte, kann dahingestellt bleiben, ob das Verfahren in der Berufungsinstanz noch aus anderen Gründen zu beanstanden ist.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen