Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf Zweitkindergeld für ein volljähriges Kind
Normenkette
BKGG § 2 Abs. 2 Nr. 1
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 27. Februar 1969 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger einen Anspruch auf Zweitkindergeld hat.
Das Arbeitsamt Mayen - Kindergeldkasse - gewährte dem Kläger unter Berücksichtigung seiner beiden ehelichen Kinder Norbert (N.), geboren am 16. Februar 1948, und Renate, geboren am 13. Mai 1953 Zweitkindergeld. N. war 13 Monate - bis zum 30. April 1966 - in einem Bauunternehmen in der Lehre, die bis 1968 dauern sollte, die er aber vorzeitig abbrach. Seit dem 2. Mai 1966 besucht er das Erzbischöfliche Abendgymnasium in Neuß, um - nach acht Semestern - die Reifeprüfung abzulegen. Die Unterrichtszeit an diesem Abendgymnasium beträgt 21 Stunden wöchentlich; der Unterricht findet an fünf Tagen von 16.15 Uhr bis 20.25 Uhr statt. Etwa 20 Stunden wöchentlich benötigt N. für die Unterrichtsvorbereitung und etwa siebeneinhalb Stunden wöchentlich für den Schulweg vom und zum Schülerheim eines Klosters, in dem er wohnt und zwei Stunden täglich entlohnte Arbeiten verrichtet. Nach einer Auskunft des Leiters des Abendgymnasiums sollen die Schüler dieser Anstalt nach den "staatlichen Bestimmungen" wahrend der ersten fünf Semester berufstätig sein; erst in den letzten drei Semestern wird von ihnen keine Berufstätigkeit erwartet.
Mit Bescheid vom 15. Dezember 1966 entzog die Kindergeldkasse das Zweitkindergeld mit Ablauf des Monats Oktober 1966 mit der Begründung, N. könne nicht als Kind i. S. des § 2 Abs. 2 Nr. 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) - Kinder über 18 Jahren, die sich in Schul- oder Berufsausbildung befinden - berücksichtigt werden, weil der Besuch des Abendgymnasiums noch eine halbtägige Berufstätigkeit zulasse. Den Widerspruch gegen diesen Bescheid wies die Widerspruchsstelle als unbegründet zurück. Der hiergegen erhobenen Klage hat das Sozialgericht (SG) Koblenz stattgegeben. Die Berufung der Beklagten ist vom Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz mit Urteil vom 27. Februar 1969 zurückgewiesen worden. Das LSG vertritt die Auffassung, N. sei mit den nahezu 50 Stunden, die er unter Einbeziehung des Schulweges wöchentlich für seine Schulausbildung aufwende, im gleichen Maße ausgelastet wie ein voll Berufstätiger. Er könne deshalb nicht nebenbei noch eine Halbtagsbeschäftigung ausüben.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG vom 18. Oktober 1967 die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Sie meint, der Besuch des Erzbischöflichen Abendgymnasiums könne jedenfalls bis zum Eintritt in das 60 Semester nicht als Schul- oder Berufsausbildung im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 BKGG angesehen werden. Nach den staatlichen Bestimmungen müßten die Abendgymnasiasten während der ersten fünf Semester voll berufstätig sein; nur in besonderen Fällen könnten sie kurzfristig von der Berufsarbeit befreit werden. Während der letzten drei Semester seien die Studierenden von der Berufsarbeit befreit und erhielten eine Förderung nach dem "Honnefer Modell" . Die angefochtene Entscheidung weiche von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG- (BSG 21, 185; 23, 227; 27, 192) ab.
Nach dieser Rechtsprechung liege eine Schul- oder Berufsausbildung nur vor, wenn die Arbeitskraft des Kindes durch die Ausbildung überwiegend in Anspruch genommen werde. Das Erfordernis der überwiegenden Inanspruchnahme sei nicht erfüllt, solange die Ausbildung wenigstens noch eine Halbtagsbeschäftigung zulasse. Unerheblich sei, ob tatsächlich eine Beschäftigung ausgeübt werde.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG für zutreffend, und meint, sein Sohn sei nicht in der Lage gewesen, über eine reine Lernzeit von 42 Stunden wöchentlich hinaus noch eine bezahlte Halbtagsbeschäftigung von zwanzig Stunden auszuüben. Die gegenteilige Auffassung stehe auch im Widerspruch zu den Zielen, die der Gesetzgeber mit dem Jugendarbeitsschutz verfolge (§§ 10, 17, 18 des Jugendarbeitsschutzgesetzes).
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
II
Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet.
Es ist nur der Anspruch auf Zweitkindergeld während der ersten fünf Schulsemester des Sohnes N. streitig. Dem Vortrag der Beklagten in allen Instanzen ist zu entnehmen daß sie während der letzten drei Semester der Ausbildung - in dieser Zeit wird von den Schülern des Erzbischöflichen Abendgymnasiums keine Berufstätigkeit mehr erwartet - den Kindergeldanspruch des Klägers für gegeben hält. Diese Begrenzung des Streitstoffes in zeitlicher Hinsicht ergibt sich auch aus dem Widerspruchsbescheid, auf den die Klage sich bezieht, ferner aus der Berufungs- und Revisionsbegründung.
Für die Gewährung von Kindergeld werden nach §2 Abs. 2 Nr. 1 BKGG Kinder, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, nur berücksichtigt, wenn sie "sich in Schul- oder Berufsausbildung befinden und unverheiratet sind" . Schulausbildung ist die Teilnahme als Lernender an einer Unterrichtsveranstaltung, wenn diese im wesentlichen auch die übliche Organisationsform einer Schule hat (BSG, SozR Nr. 33 zu § 1267 der Reichsversicherungsordnung -RVO-). Dieser allgemeine Begriff der Schulausbildung umfaßt auch den Besuch des Erzbischöflichen Abendgymnasiums in Neuß. Das BSG hat aber für die mit § 2 Abs. 2 Nr. 1 BKGG insoweit dem Wortlaut nach übereinstimmenden Vorschriften über die Gewährung von Waisenrente nach Vollendung des 18. Lebensjahres (§§ 1267 Satz 2 RVO, 44 Abs. 1 Satz 2 AVG, 45 Abs. 3 Buchst. a des Bundesversorgungsgesetzes -BVG-) angenommen, als Schul- oder Berufsausbildung komme nur eine solche Ausbildung in Betracht, die Zeit und Arbeitskraft des Kindes ausschließlich oder überwiegend beanspruche (BSG 14, 285; VdK-Mitt. 1962, 549; BSG 21, 185; SozEntsch Bd. VI Nr. 17 zu § 1267 RVO; BSG 23, 227; BSG 27, 16). Ferner hat der 3. Senat des BSG (BSG 27, 192) in Anlehnung an diese Rechtsprechung Versicherungsfreiheit nach § 4 Abs. 1 Nr. 4 AVG (= § 1228 Abs. 1 Nr. 3 RVO) nur für Studierende bejaht, deren Zeit und Arbeitskraft ganz oder überwiegend durch ihr Studium in Anspruch genommen werden. Diese einschränkende Auslegung des Ausbildungsbegriffs geht auf die Rechtsprechung des RVA zum Anspruch auf die sog. "verlängerte" Waisenrente oder auf "verlängerten" Kinderzuschuß zurück (RVA GE Nr. 3240, AN 1926, 485; GE Nr. 3093, AN 1927, 434; GE Nr. 3111, AN 1928, 12; GE Nr. 3126, AN 1928, 109; GE Nr. 3389, AN 1929, 159).
Dem Senat erscheint es wegen der Funktionsgleichheit von Waisenrente und Kinderzuschuß (vgl. die gesetzlichen Regelungen der Kinderzuschüsse in §§ 1262 RVO, 39 Abs. 3 AVG) einerseits sowie Kindergeld andererseits geboten, diesen Begriff der Schul- und Berufsausbildung auch für § 2 Abs. 2 Nr. 1 BKGG zu übernehmen (dazu auch BSG, Urt. vom 18. Dezember 1964 - 7 RKg 3/64 - BG 1965, 155 -). Ebenso wie diese Leistungen wird auch das Kindergeld nach seinem Zweck dem Berechtigten nicht zur freien Verfügung, sondern zum Unterhalt des Kindes gewährt. Die Zweckbindung des Kindergeldes macht besonders § 12 Abs. 2 BKGG deutlich, wonach der Anspruch auf Kindergeld wegen des Anspruchs eines Kindes auf Erfüllung einer gesetzlichen Unterhaltspflicht gepfändet, verpfändet und abgetreten werden kann (BSG, SozR Nr. 3 zu § 12 BKGG). Ferner ergibt sich aus § 8 Abs. 1 Nr. 1 BKGG, daß der Gesetzgeber Kindergeld und Kinderzulagen aus den gesetzlichen Rentenversicherungen als wesensverwandte Leistungen ansieht. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, daß das Kind - anders als bei der Waisenrente und ebenso wie beim Kinderzuschuß in den gesetzlichen Rentenversicherungen - keinen eigenen Anspruch auf die Leistung besitzt; an der Unterhaltsfunktion der genannten Leistungen ändert sich hierdurch nichts.
§ 2 Abs. 2 Nr. 1 BKGG schränkt allerdings - übereinstimmend mit den Vorschriften über Waisenrente und Kinderzuschuß - nicht schon seinem Wortlaut nach den Begriff der Schul- und Berufsausbildung ein. Die Beschränkung auf solche Ausbildungen, welche die Zeit und Arbeitskraft des Kindes ausschließlich oder überwiegend beanspruchen, wird aber wegen der Unterhaltsfunktion dieser Leistungen erforderlich; der Gesetzgeber geht davon aus, daß das Kind mit Vollendung des 18. Lebensjahres regelmäßig in das Erwerbsleben eingetreten und deshalb in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Nur wenn es entgegen dieser Erwartung aus besonderen Gründen noch unterhaltsbedürftig ist, wird Kindergeld bzw. Waisenrente oder Kinderzuschuß auch über das 18. Lebensjahr hinaus gewährt. Die Unfähigkeit, sich selbst zu unterhalten, ist allerdings nur für Kinder mit körperlichen oder geistigen Gebrechen ausdrücklich als Anspruchsvoraussetzung aufgestellt (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 BKGG, ferner §§ 1262 Abs. 3 Satz 2, 1267 Satz 1, 583 Abs. 3 Satz 1 RVO, § 39 Abs. 3 Satz 1, § 44 Satz 2 AVG, 45 Abs. 3 Buchst. c BVG); sinngemäß gilt dies jedoch wegen der Unterhaltsfunktion des Kindergeldes auch für Kinder, die sich in der Ausbildung befinden (vgl. BSG 21, 185, 187). Aus alledem folgt, daß Schul- oder Berufsausbildung auch im Sinne, des § 2 Abs. 2 Nr. 1 BKGG nur dann vorliegt, wenn die Ausbildung Zeit und Arbeitskraft des Kindes ganz oder überwiegend in Anspruch nimmt, so daß für das Kind keine Möglichkeit besteht, den Lebensunterhalt selbst zu verdienen.
Unerheblich ist, ob im Einzelfall eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird, die es dem Kind ermöglicht, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten; es kommt allein darauf an, ob die Möglichkeit zu einer solchen Erwerbstätigkeit besteht (BSG 23, 227, 228). Die Arbeitskraft des Schülers wird durch die Ausbildung dann überwiegend beansprucht, wenn ihm auch eine Halbtagsarbeit nicht mehr möglich ist (BSG 21, 185, 189; 23, 227, 228; 27, 192, 195). Nach den das BSG bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts (§ 163 SGG) findet der Unterricht am Erzbischöflichen Abendgymnasium an fünf Tagen in der Woche von 16.15 bis 20.25 Uhr statt; hinzu kommen zwanzig Stunden für die Vorbereitung auf den Unterricht und etwa siebeneinhalb Stunden wöchentlich für den Schulweg. Auf Grund dieser bindenden Feststellungen des LSG ist der Senat dem vom LSG gewonnenen Ergebnis, daß der Besuch des Abendgymnasiums die Arbeitskraft des Sohnes des Klägers überwiegend in Anspruch nimmt, beigetreten, wenn auch der vom LSG dazu gegebenen Begründung nicht in vollem Umfange gefolgt werden kann.
Vor allem überzeugt es nicht, daß dem Abendschüler keine größere zeitliche Belastung zugemutet werden kann als üblicherweise einem voll berufstätigen Beschäftigten (etwa vierzig bis vierundvierzig Stunden). Dem steht schon entgegen, daß die Belastung, deren Zumutbarkeit abzugrenzen ist, nicht für das ganze Leben des Abendschülers gilt, sondern nur für etwa zweieinhalb Jahre. Hinzu kommt, daß er nicht nur etwa vier Wochen Urlaub im Jahr hat - wie üblicherweise der Berufstätige -, sondern zweimal einen Monat. Er muß also vorübergehend eine zeitlich höhere Belastung in Kauf nehmen als der Berufstätige, der im übrigen auch nicht mit vierundvierzig Wochen stunden auskommt, wenn man - entsprechend der Betrachtungsweise des LSG - die für den Weg zu und von der Arbeitsstätte notwendige Zeit hinzurechnet. Schließlich muß der Abendschüler eine mindestens ebenso große zeitliche Belastung auf sich nehmen wie der Gymnasiast, mit dem er chancenmäßig gleichgestellt werden will. Hat der Gymnasiast dreißig Wochenstunden, so hat er für Schulaufgaben mindestens ebensoviel aufzuwenden wie ein Abendschüler. Wenn für einen solchen im vorliegenden Falle zwanzig Stunden für Hausarbeiten angesetzt sind, so bedeutet das für den Gymnasiasten, daß er - ohne Einbeziehung des Schulweges - eine Belastung von wöchentlich 50 Stunden zu tragen hat.
Nimmt man alle vorstehenden Erwägungen zusammen, so bedeutet das, daß dem Abendschüler eine reine Arbeitszeit von wesentlich - mehr als 44 Stunden wöchentlich und unter Einbeziehung des Schulweges eine zeitliche Gesamtbelastung von mehr als 50 Stunden zuzumuten ist. Zieht man die Grenze bei 60 Stunden - einschließlich der Zeit für den Schulweg -, so wären an sechs Wochentagen je zehn Stunden abzuleisten, während der Sonntag frei bliebe. Ob diese Grenze für den Regelfall als vorbildlich zu gelten hat, bedarf jedoch aus Anlaß des vorliegenden Streitfalles nicht der Entscheidung. Der Sohn des Klägers käme nämlich bei Übernahme einer Halbtagsbeschäftigung von 20 Stunden auf insgesamt 68 1/2 Wochenstunden. Das wäre eine Belastung, die ihm nach der Auffassung des Senats nicht zuzumuten ist. Hiernach trifft die Meinung des LSG, daß der Sohn des Klägers durch seine Schulausbildung überwiegend in Anspruch genommen ist, im Ergebnis zu.
Die Revision der Beklagten unterliegt somit der Zurückweisung (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Unterschriften
Schmitt Dr. Heußner Mellwitz
Fundstellen