Leitsatz (amtlich)
Wandert ein Verfolgter iS des BEG zwischen 1933 und Kriegsende ins Ausland aus, so ist bei Anwendung von AVG § 28 Abs 1 Nr 4 (= RVO § 1251 Abs 1 Nr 4) nach den Regeln des Beweises des ersten Anscheins zu vermuten, daß der Auslandsaufenthalt verfolgungsbedingt ist (Weiterführung von BSG 1970-07-01 4 RJ 353/69 = SozR Nr 46 zu § 1251 RVO).
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1970-12-22; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1970-12-22; BFG § 1
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 29.07.1977; Aktenzeichen L 1 An 109/76) |
SG Berlin (Entscheidung vom 25.05.1976; Aktenzeichen S 2 An 2110/74) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 29. Juli 1977 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Streitig ist in der Hauptsache, ob dem Kläger ein Auslandsaufenthalt als Ersatzzeit vorzumerken ist.
Der 1914 geborene aus Deutschland stammende Kläger hat einen jüdischen Großelternteil. Nachdem er im Februar 1933 in O/Main die Reifeprüfung abgelegt hatte, wurde ihm zum Sommersemester 1933 als "Nichtarier" die Zulassung zum Studium verweigert. Er trat sodann als kaufmännischer Angestellter in eine O Metallwarenfabrik ein, wanderte aber bereits im April 1934 nach England aus. Von dort ging er später nach Australien, wo er jetzt noch wohnt.
Im September 1971 beantragte der Kläger für den Aufenthalt im Ausland vor dem 1. Januar 1950 die Anrechnung einer Ersatzzeit und die Genehmigung zur Beitragsnachentrichtung nach dem Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung in der Sozialversicherung (WGSVG).
Dies lehnte die Beklagte durch die streitigen Bescheide vom 16. Januar 1974 und 1. Februar 1974, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 8. April 1974, ua mit der Begründung ab, daß der Kläger nicht Verfolgter im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) sei.
Auf die Klage des Klägers hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte unter Aufhebung der streitigen Bescheide verurteilt, für den Kläger eine Beitragszeit vom 1. Juni 1933 bis 14. April 1934 und die begehrte Ersatzzeit (Auslandsaufenthalt) anzuerkennen sowie den Kläger zur Beitragsnachentrichtung zuzulassen. Mit der hiergegen eingelegten Berufung hat sich die Beklagte erfolgreich ausschließlich gegen die Anerkennung der Ersatzzeit und die Zulassung der Beitragsnachentrichtung gewandt. Das Landessozialgericht (LSG) hat im angefochtenen Urteil vom 29. Juli 1977 insoweit die Klage abgewiesen und ausgeführt, der Kläger sei Verfolgter im Sinne des § 1 BEG, weil er 1933 als Nichtarier nicht zum Studium zugelassen worden sei. Indessen könne zwischen dieser Verfolgungsmaßnahme und der Auswanderung des Klägers kein ursächlicher Zusammenhang hergestellt werden. Zur Zeit der Auswanderung 1934 hätte der Kläger aufgrund neuerer, günstigerer Bestimmungen für "Mischlinge zweiten Grades" schon wieder damit rechnen können, das angestrebte Studium doch noch aufnehmen zu können. Dann scheitere die Annahme eines verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts, zugleich mit der Ersatzzeit dann aber auch die Möglichkeit der Beitragsnachentrichtung, weil keine Versicherungszeit von mindestens 60 Kalendermonaten zurückgelegt sei.
Das LSG hat in dem Urteil die Revision zugelassen.
Der Kläger hat die Revision eingelegt. Er trägt vor, das LSG habe nicht der Tatsache Rechnung getragen, daß gerade bei jungen Menschen ein Ausschluß von einer angestrebten Berufsausbildung tiefe und nachhaltige Wunden zu hinterlassen pflege, an die er stets von neuem erinnert worden sei, als er auch im persönlichen Bereich aus rassischen Gründen diskriminiert worden sei (Ausscheiden aus dem Sportverein, Nichtzulassung zur Segelfliegerprüfung). Dieser rassischen Diskriminierung habe er sich durch die Auswanderung entziehen müssen. Im übrigen sei er nicht als sogenannter Mischling zweiten Grades - ein Begriff, den erst die im Jahre 1935 erlassenen Nürnberger Rassegesetze eingeführt hätten -, sondern als rassisch verfolgter Nichtarier ausgewandert.
Der Kläger beantragt,
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unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. Mai 1976 zurückzuweisen und die außergerichtlichen Verfahrenskosten auch des Revisionsverfahrens der Beklagten aufzuerlegen. |
Die Beklagte beantragt,
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die Revision zurückzuweisen. |
Die Diskriminierung des Klägers im beruflichen und privaten Bereich sei seinerzeit über den allgemeinen Verfolgungsdruck, der nach Auffassung des Bundessozialgerichts (BSG) für die Annahme einer Verfolgungsmaßnahme nicht ausreiche, nicht hinausgegangen. Eine Vermutung der Verfolgungsbedingtheit des Auslandsaufenthalts dürfe der Kläger deswegen nicht in Anspruch nehmen, weil er als sogenannter Mischling zweiten Grades auch bei Anwendung der nationalsozialistischen Vorschriften fast als Deutschblütiger betrachtet und behandelt worden wäre. Zur Zeit seiner Auswanderung sei der Zugang des Klägers zur Hochschule nicht mehr eingeschränkt gewesen.
Beide Beteiligte haben erklärt, daß sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden sind (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -- SGG).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache begründet.
Nach § 28 Abs 1 Nr 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG (= § 1251 Abs 1 Nr 4 der Reichsversicherungsordnung - RVO) in der ab 1. Februar 1971 geltenden Fassung des Gesetzes vom 22. Dezember 1970 (BGBl 1970 1 1846) werden - vorausgesetzt, eine Pflichtversicherung habe, wie hier, vorher bestanden (§ 28 Abs 2 Satz 1 AVG = § 1251 Abs 2 Satz 1 RVO) - für die Erfüllung der Wartezeit, aber auch für die Rentenhöhe (§ 35 AVG = § 1258 RVO) als Ersatzzeiten angerechnet Zeiten eines Auslandsaufenthalts bis zum 31. Dezember 1949, sofern dieser durch Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des BEG hervorgerufen worden ist, wenn der Versicherte Verfolgter im Sinne des § 1 aaO ist. Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des LSG kann der Senat nicht entscheiden, ob diese Voraussetzungen in der Person des Klägers erfüllt sind.
Träfe die Meinung des LSG zu, daß der Kläger zur Zeit seiner Auswanderung nicht (mehr) rassisch verfolgt gewesen sei, erübrigten sich naturgemäß weitere Feststellungen zu der Frage, ob zwischen Verfolgungsmaßnahme und Auswanderung eine kausale Beziehung besteht: Es fehlte dann einer kausalen Verknüpfung von Verfolgungsmaßnahme und Auslandsaufenthalt bereits das Anfangsglied. Schon in Bezug hierauf reichen die Feststellungen des LSG nicht aus. Das Berufungsgericht stützt seine Annahme, der Kläger sei zur Zeit der Auswanderung nicht (mehr) rassisch verfolgt gewesen, allein auf die Überlegung, er hätte im April 1934 schon wieder damit "rechnen" können, "später ohne wesentliche Schwierigkeiten" sein Studium doch noch aufnehmen zu können; das Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen vom 26. April 1933 habe nämlich - im Vergleich zu den bisherigen Bestimmungen gegen "Nichtarier" - für "Mischlinge zweiten Grades" günstigere Bedingungen geschaffen. Vorweg ist hierzu zu bemerken, daß ein "Rechnenkönnen" offenläßt, ob der in Betracht gezogene Sachverhalt tatsächlich überhaupt eintreten wird. Schon deshalb fehlen dem Urteil des LSG tragfähige Feststellungen. Die weiteren Ausführungen in der angefochtenen Entscheidung schwächen überdies sogar das "Rechnenkönnen" noch erheblich ab: So führt das LSG aus, daß das - etwa zur gleichen Zeit mit dem Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen erlassene - weitere Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 11. April 1933 für den Bereich des öffentlichen Dienstes neue Diffamierungen für "Nichtarier" gebracht habe; es liege nahe, daß die Hochschulen hiervon auch zu Lasten jüdischer Studienbewerber Gebrauch gemacht hätten. In die gleiche Richtung zielten nach Auffassung des LSG die von der NSDAP im Frühjahr 1933 organisierten Massenveranstaltungen gegen jüdische Studenten und vor allem auch der weitere Umstand, daß sich die damaligen Machthaber auch über gesetzliche Vorschriften hinweggesetzt hätten. Alle diese Ausführungen des Berufungsgerichts können dafür sprechen, daß dem Kläger auch über Frühjahr/Frühsommer 1933 hinaus die Zulassung zum Studium aus rassischen Gründen verweigert worden wäre. Jedenfalls ist den Darlegungen des LSG nichts zu entnehmen, was die Annahme rechtfertige, die Behinderung des Klägers im beruflichen Fortkommen aus rassischen Gründen durch Nichtzulassung zum Studium sei zur Zeit seiner Auswanderung im April 1934 endgültig beendet gewesen.
Ist mithin nicht festgestellt, ob der Kläger zur Zeit seiner Auswanderung (noch) Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des BEG unterlegen hat, so kann der Senat in der Sache nicht entscheiden. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und dem LSG durch Zurückverweisung der Sache Gelegenheit zu geben, die erforderlichen Feststellungen zu treffen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Für den Fall, daß das LSG nunmehr feststellen sollte, der Kläger sei auch noch zur Zeit der Auswanderung Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt gewesen, ist vorsorglich folgendes zu bemerken:
Nach der Entscheidung des 4. Senats des BSG vom 1. Juli 1970 (SozR Nr 46 zu § 1251 RVO) ist zu "unterstellen", daß "bei einer in der Zeit zwischen 1933 und Kriegsende liegenden Auswanderung eines Verfolgten des Nationalsozialismus in der Regel ein Auslandsaufenthalt nach § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO vor (-liegt)". Dem tritt der erkennende Senat bei. Der "typische Geschehensablauf", auf den das BSG aaO mit dem weiteren Hinweis Bezug genommen hat, daß dieser für sich in Anspruch nehmen könne, "entfernt liegende Sachverhalte unberücksichtigt" zu lassen, begründet auch für Fälle der vorliegenden Art rechtlich die Zulässigkeit des auch im Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit anwendbaren Beweises des ersten Anscheines (prima-facie-Beweis; vgl statt vieler mit umfangreichen Nachweisen aus Rechtsprechung und Schrifttum Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd I/2, 244 m V). Er beruht auf der Erfahrung, daß bestimmte typische Tatbestände auch gewisse typische Folgen zu zeitigen pflegen. Der Beweis des ersten Anscheins ist auch im Verfahren vor den Sozialgerichten erst entkräftet, wenn eine Tatsache festgestellt wird, aus der die nicht nur entfernte Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs folgt (Brackmann aaO). Dies wird das LSG in seiner neuen Entscheidung gegebenenfalls zu berücksichtigen haben.
Nach alledem war zu entscheiden wie geschehen und der Kostenanspruch dem LSG vorzubehalten.
Fundstellen