Entscheidungsstichwort (Thema)
KOV. Gefahrenbereich. Minenräumen. Beweislastverteilung
Orientierungssatz
1. Der kriegseigentümliche Gefahrenbereich erfordert weder eine zeitliche noch eine örtliche Verbindung mit dem eigentlichen Kriegsgeschehen (vgl BSG 1957-11-07 11/8 RV 1159/55 = BSGE 6, 102).
2. Die Frage der Beweislastverteilung tritt erst in Erscheinung, wenn der Tatrichter alle Mittel zur Aufklärung des Sachverhalts erschöpft hat, ohne die bestehende Ungewißheit beheben zu können. (Vgl BSG 1969-10-31 2 RU 40/67 = BSGE 30, 121).
Normenkette
BVG § 5 Abs. 1 Buchst. e; SGG § 103
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 04.03.1970) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 11.02.1969) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 4. März 1970 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin ist die Mutter des Elektrikers Fritz R (R), der am 6. Mai 1947 bei einem Explosionsunglück getötet wurde. R., der im Januar 1947 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden war, begann am 7. Februar 1947 bei der Baufirma F, L/Pfalz, ein Arbeitsverhältnis als Minensucher. Diese Firma führte im Gebiet um B Entminungsarbeiten aus. Von den Arbeitskräften der Firma wurden die im Gelände gefundenen Minen an Ort und Stelle entschärft und in einen Bunker getragen; dort wurden sie unter der Verantwortung des Schachtmeisters R, eines gelernten Feuerwerkers, gesprengt. Als sich am 6. Mai 1947 der Schachtmeister, R. und ein weiterer Minensucher im Bunker befanden, um die Sprengung vorzubereiten, ereignete sich eine Explosion, bei der alle drei ums Leben kamen. Die Ursache der Explosion ließ sich nach den übereinstimmenden Angaben der Firma F (Unfallanzeige R vom 6. 5. 1947, Schreiben an den Vater des R. vom 17. 5. 1947) und des Bauführers B (Bericht der Gendarmeriestation B vom 6. 5. 1947) nicht feststellen.
Den Hinterbliebenen des Schachtmeisters R gewährte die Staatliche Ausführungsbehörde für Unfallversicherung (UV) die gesetzlichen Leistungen, deren Zahlung später auf die Bundesausführungsbehörde für UV (BAfU) überging. Einem Entschädigungsantrag der Eltern des R. wurde nach Angaben der Klägerin damals nicht stattgegeben, weil der Vater Arbeitseinkommen bezog. Mit Schreiben vom 5. März 1968 lehnte es die BAfU ab, der seit April 1958 verwitweten Klägerin Elternrente nach den am 1. Juli 1963 in Kraft getretenen günstigeren UV-Vorschriften zu gewähren.
Den Antrag auf Gewährung von Elternrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG), den die Klägerin im Februar 1967 stellte, lehnte das Versorgungsamt durch Bescheid vom 28. November 1967 mit der Begründung ab, keines der in § 1 Abs. 1 und 2, § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG aufgeführten Tatbestandsmerkmale liege vor; insbesondere sei der durch vorzeitige Auslösung der Sprengladung eingetretene Tod des R. nicht auf Umstände zurückzuführen, die mit typischem Kriegsgeschehen zusammenhingen. Der Widerspruch der Klägerin wurde mit Bescheid vom 8. Juli 1968 zurückgewiesen: Die Verwaltungsvorschrift (VerwV) Nr. 5 Satz 2 zu § 5 BVG setze einen unmittelbaren Zusammenhang des Todes mit einem kriegseigentümlichen Gefahrenbereich voraus und sei hier nicht anwendbar.
Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat am 11. Februar 1969 den Beklagten verurteilt, der Klägerin Elternrente zu gewähren: R. Sei bei der Arbeit zur Beseitigung kriegseigentümlicher Gefahrenquellen verunglückt. Auf diese Schädigung sei § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG gemäß Nr. 5 der VerwV anzuwenden, wobei es nicht darauf ankomme, ob die zur Minensprengung angebrachte Sprengladung oder eine zu sprengende Mine vorzeitig losgegangen sei; im übrigen sei dem Schreiben der Firma F vom 17. Mai 1947 - entgegen der vom Versorgungsamt vertretenen Ansicht - zu entnehmen, daß die Sprengung (nicht nur die Sprengladung zum Auslösen der Sprengung) vorzeitig losgegangen sei.
Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 4. März 1970 (Breithaupt 1970, 950) die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen.
Gegen das am 23. April 1970 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 28. April 1970 Revision eingelegt mit dem Antrag
unter Aufhebung des LSG-Urteils die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Am 5. Mai 1970 hat die Klägerin ihre Revision wie folgt begründet: Das LSG habe den Begriff der unmittelbaren Kriegseinwirkung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. a, § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG unzutreffend ausgelegt und rechtsirrtümlich angenommen, daß der tödliche Unfall des R. von einem Tatbestand dieser Vorschriften nicht erfaßt werde. Der kriegseigentümliche Gefahrenbereich sei nicht schon dadurch beseitigt worden, daß die Minen entschärft und in den Bunker gebracht worden seien. Zwischen kriegseigentümlichen Sprengkörpern und anderen, nicht für kriegerische Zwecke verwandten Sprengmaterialien müsse unterschieden werden; für die ersteren sei der Einbau komplizierter und schwer erkennbarer Spezialzünder zu kriegerischen Zerstörungszwecken typisch, was ihre Gefährlichkeit erhöhe. Dieser kriegseigentümliche Gefahrenbereich habe bis zum Augenblick der Explosion bestanden und das Unglück wahrscheinlich auch verursacht.
II
Die zugelassene Revision der Klägerin hat insofern Erfolg, als der Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen ist.
Die Klägerin macht geltend, der Tod ihres Sohnes Fritz R. am 6. Mai 1947 sei die Folge nachträglicher Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen hätten (§ 5 Abs. 1 Buchst. e BVG). Dieser Gefahrenbereich in Gestal der während des 2. Weltkrieges in der Umgebung von Bergzabern ausgelegten oder abgeworfenen Minen sei nicht dadurch beseitigt worden, daß die Minen draußen im Gelände entschärft und anschließend in einen Bunker gebracht wurden; denn es sei für im Kriege verwendete Sprengkörper typisch, daß sie mit Spezialzündern versehen seien, die bei einer Entschärfung an Ort und Stelle unter Umständen nicht sofort entdeckt und unschädlich gemacht werden könnten.
Diese Auffassung steht im Einklang mit der Rechtsprechung (vgl. BSG 6, 102, 103; BSG Urteil vom 18. 3. 1964, BVBl 1964, 114; Urteil vom 7. 3. 1962 - 9 RV 1058/58 -), wonach der "kriegseigentümliche Gefahrenbereich" weder eine zeitliche noch eine örtliche Verbindung mit dem eigentlichen Kriegsgeschehen erfordert, vielmehr auch bei einer Verlegung des Sprengkörpers von dem Ort, wo er ursprünglich den kriegsbedingten Gefahrenzustand bildete, aufrechterhalten bleiben kann. Der vom LSG vertretene Standpunkt, die von den Minen ausgehende typische Kriegsgefahr sei schon mit der Entschärfung im Gelände, evtl. auch erst mit der Lagerung in dem für die Sprengung vorgesehenen Bunker, jedenfalls aber mit dem Anbringen der Ladung zur beabsichtigten Sprengung beseitigt gewesen, ist demnach nicht frei von Bedenken.
Der vorliegende Sachverhalt ist in versorgungsrechtlicher Hinsicht dadurch gekennzeichnet, daß die im Bunker tätigen Personen zwei klar zu unterscheidenden Gefahrenquellen ausgesetzt waren, von denen jede für sich geeignet sein konnte, tödliche Unfälle zu verursachen: Einmal die hineingeschafften Minen, unter denen einzelne vielleicht noch mit nicht entschärften Spezialzündern behaftet gewesen sein mochten - zweifellos noch eine kriegseigentümliche Gefahrenlage. Zum anderen aber die zum Zweck der Bunkersprengung angebrachte Ladung, mit deren Verwendung ein neues, nicht mehr durch kriegerische Vorgänge bedingtes Gefahrenmoment für die bei der Firma F Beschäftigten auftrat; die Anbringung solcher Sprengladungen und das damit verknüpfte Risiko vorzeitigen Detonierens gehört zum alltäglichen Arbeitsablauf bei mannigfachen Gewerbezweigen - z.B. Tiefbau, Steinbrüche, Gebäudeabriß - und ist daher keinesfalls noch dem Begriff des kriegseigentümlichen Gefahrenbereichs zuzuordnen.
Für die Entscheidung des Rechtsstreits kommt es unter diesen Umständen nun ausschlaggebend darauf an, welcher dieser beiden Gefahren R. und seine beiden Arbeitskollegen tatsächlich zum Opfer gefallen sind (vgl. BSG 16, 216, 219), ob also eine Mine - etwa durch Erschütterung oder Anstoßen - explodierte oder ob die zwecks Sprengung angelegte Ladung durch technisches oder menschliches Versagen vorzeitig gezündet wurde. Dazu hat das LSG ausgeführt, es lasse sich nicht aufklären, wie das zum Tode der drei Minensucher führende Geschehen im einzelnen abgelaufen sei. Hierbei hat sich das LSG offenbar damit begnügt, die oben angeführten Angaben der Firma F und des Bauführers B zur Kenntnis zu nehmen und sie ohne weitere Erwägungen der Annahme eines hier gegebenen non liquet zugrunde zu legen, woraus dann das LSG den - an sich zutreffenden - rechtlichen Schluß auf die Folgen einer objektiven Beweislosigkeit gezogen hat. Ein solches Vorgehen mag im Hinblick darauf verständlich erscheinen, daß zur Zeit des jetzigen Rechtsstreits unmittelbare Beweismittel kaum noch greifbar gewesen sind: Die Baufirma F war erloschen, die UV-Akte über R. vernichtet, der beim Explosionsunglück am 6. Mai 1947 verletzte Minensucher H O nicht mehr auffindbar. Trotzdem hätte das LSG sich dessen mehr bewußt sein müssen, daß die Frage der Beweislastverteilung erst in Erscheinung tritt, wenn der Tatrichter alle Mittel zur Aufklärung des Sachverhalts erschöpft hat, ohne die bestehende Ungewißheit beheben zu können, daß also die Handhabung des Beweislastprinzips nicht zu einer Vernachlässigung der Pflichten zur eingehenden Erforschung des Sachverhalts und sorgfältigen Würdigung der erhobenen Beweise führen darf (vgl. BSG 30, 121, 123 mit weiteren Nachweisen). Anlaß zu einer besonderen Berücksichtigung dieser Grundsätze bietet im vorliegenden Fall der Umstand, daß es im Jahre 1947 auf eine Differenzierung zwischen kriegseigentümlichen und sonstigen Gefahrenbereichen noch nicht ankam, daß also damals keine Notwendigkeit bestanden haben mag, dem Bauführer B und den übrigen für die Minensuchaktion Verantwortlichen derart gezielte Fragen zu stellen, wie sie sich aus heutiger Sicht als geboten erweisen. Deshalb kann es nach Meinung des Senats nicht dabei bewenden, die aus der damaligen Zeit erhalten gebliebenen Dokumente unbesehen der Entscheidung zugrunde zu legen; vielmehr müßte doch wenigstens versucht werden, den Geschehensablauf vom 6. Mai 1947 mehr aufzuhellen. Sollte auch der Bauführer B heute nicht mehr ausfindig zu machen sein, wäre das LSG gehalten, einen Sprengstoffsachverständigen gutachtlich zu hören, dem die Minensucharbeiten in der betreffenden Gegend zur damaligen Zeit noch aus eigener Anschauung bekannt sind; dieser Sachverständige wäre auf die aus der Schilderung des Bauführers B ersichtlichen Einzelheiten hinzuweisen, von denen vielleicht besonders markant die Tatsache erscheinen könnte, daß der Schachtmeister R die Sprengung für "in etwa 1/4 Stunde" nach dem Absperrungsbefehl geplant hatte, die Detonation jedoch schon zwei bis drei Minuten nach diesem Zeitpunkt erfolgte.
Auf die hiernach begründete Revision muß das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das LSG zurückverwiesen werden. Sollte es für die erneute Entscheidung noch auf eine Auslegung der VerwV Nr. 5 zu § 5 BVG ankommen, so kann das LSG davon ausgehen, daß seine insoweit vertretene Auffassung vom erkennenden Senat gebilligt wird (vgl. hierzu BSG 4, 230, 234).
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen