Entscheidungsstichwort (Thema)
Ladung. rechtliches Gehör
Orientierungssatz
Eine Partei ist nicht ordnungsgemäß geladen, wenn die Ladung nicht das Aktenzeichen der Streitsache enthält, sondern das einer inzwischen erledigten Beschwerde der Partei. Da die Prozeßbeteiligten grundsätzlich ein Recht darauf haben, in der mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden, ist der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt, wenn die Partei wegen der unrichtigen Bezeichnung der Ladung zur mündlichen Verhandlung nicht erscheint.
Normenkette
SGG § 62
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 07.11.1963) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 7. November 1963 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger - von Beruf Verlagsbuchhändler und Schriftsteller - war im ersten Weltkrieg Soldat und wurde mehrfach verwundet. Am 18. Mai 1948 wurde er in der sowjetischen Besatzungszone verhaftet und zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Er verbüßte 2 Jahre in Strafanstalten der sowjetischen Besatzungszone, wurde dann nach Sibirien transportiert und von dort am 20. Oktober 1955 aus der Haft entlassen.
Am 26. Oktober 1955 beantragte der Kläger in Berlin-West Versorgung wegen der im ersten Weltkrieg erlittenen Verwundungen und der Gesundheitsstörungen aus der Zeit seiner Haft. Durch Bescheid des Versorgungsamts (VersorgA) II B vom 28. April 1956 wurden "Bronchitis bei Lungen-Tbc, Schallempfindungsstörung links, Verlust der Zähne 5 oben links, 4, 5 oben rechts" als gesundheitliche Schädigungen i. S. des § 4 Häftlingshilfegesetz (HHG) vom 6. August 1955 ohne Gewährung einer Rente anerkannt, der weitergehende Anspruch des Klägers auf Anerkennung eines Herzleidens, Rheumas, Ischias und von Erfrierungsfolgen und Sehstörungen wurde abgelehnt. Gleichzeitig lehnte das VersorgA nach § 57 Abs. 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) die Anerkennung der im ersten Weltkrieg erlittenen Gesundheitsstörungen mit der Begründung ab, daß diese Gesundheitsschäden nicht als Folge einer Schädigung anerkannt waren oder mit einer anerkannten Gesundheitsstörung im Zusammenhang stehen.
Auf den Widerspruch des Klägers änderte das Landesversorgungsamt Berlin durch Widerspruchsbescheid vom 1. Juli 1957 den Bescheid vom 28. April 1956 dahin ab, daß auch Schädigungsfolgen aus dem ersten Weltkrieg anerkannt und die nach dem HHG anerkannten Gesundheitsstörungen neu bezeichnet wurden. Als Schädigungsfolgen bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v. H. wurden in dem Widerspruchsbescheid nunmehr folgende Gesundheitsstörungen aufgeführt:
"1) kleiner durchgehender Knochendefekt im linken vorderen Scheitelbereich mit geringen, nicht funktionsbehindernden Halbseitensymptomen und seltenen vasovegetativen Kollapszuständen,
2) Bronchitis bei Lungentuberkulose,
3) Narbe an der rechten Ohrmuschel und im rechten Trommelfell bei rechtsseitiger Schallempfindungsstörung im Sinne der Verschlimmerung,
4) mäßige Kraftminderung der rechten Hand, geringe Behinderung der Unterarmdrehbewegung nach Schußverletzung,
5) Verlust der Zähne 5 oben links, 4, 5 oben rechts im Sinne der Verschlimmerung."
Mit der Klage hat der Kläger die Festsetzung der MdE auf 90 v. H. und die zusätzliche Anerkennung von "Substanzverlust am knöchernen Schädel, zentrale Regulierungsstörungen, Folgezustand nach Dystrophie" als Schädigungsfolgen beantragt. Das Sozialgericht (SG) hat zunächst ein Gutachten von der Neurochirurgisch-Neurologischen Poliklinik der Freien Universität B vom 8. Dezember 1960 eingeholt, das von Privatdozent Dr. Sch erstattet worden ist. Der Sachverständige ist zu dem Ergebnis gelangt, daß die auf neurologischem Gebiet anerkannten Versorgungsleiden vollständig und zutreffend bezeichnet sowie ausreichend bewertet worden seien. Die MdE auf neurologischem Gebiet betrage nach wie vor 40 v. H., da eine Verschlimmerung nicht eingetreten sei. Etwaige subjektive Verschlimmerungen seien durch altersphysiologische Gefäßveränderungen bedingt. Im Verfahren vor dem SG ist ferner nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Gutachten des Dr. D vom 19. Oktober 1961 eingeholt worden. Dieser Sachverständige ist zusammenfassend zu der Beurteilung gekommen, daß der Kläger Hirnverletzter ist, ohne daß eine Wesensänderung und eine Hirnleistungsschwäche vorliegen. Nach seiner Ansicht beträgt die MdE für die Folgen der Hirnverletzung 60 v. H., die Gesamt-MdE unter Einbeziehung der übrigen anerkannten Schädigungsfolgen 80 v. H. In seinem Urteil vom 19. Juni 1962 hat sich das SG Berlin im wesentlichen den Gutachten der Sachverständigen Dr. Sch und Dr. D angeschlossen und die Klage abgewiesen. Das SG hat in dem Urteil gleichzeitig entschieden, daß die Kosten des auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG von Dr. D erstatteten Gutachtens nicht als Gerichtskosten übernommen werden.
Mit Schriftsatz vom 24. Juli 1962 hat der Kläger gegen die Entscheidung des SG über die Tragung der Kosten für das nach § 109 SGG erstattete Gutachten des Dr. D Beschwerde eingelegt mit der Begründung, daß das Gutachten des Dr. Sch keine umfassende Beurteilung des medizinischen Fragenkomplexes enthalte, so daß die Anhörung des Dr. D der Förderung des Rechtsstreits gedient habe. Mit Schriftsatz vom 25. Juli 1962 hat der Kläger beim Landessozialgericht (LSG) Berufung gegen das Urteil des SG eingelegt (Az. des LSG = L 11 V 75/62). Der Beschwerde des Klägers vom 24. Juli 1962 wurde vom SG nicht abgeholfen, sie wurde dem LSG vorgelegt und erhielt das Az. L 11 S 29/62. Der Berichterstatter des LSG hat in der Beschwerdesache mit Schreiben vom 19. Dezember 1962 dem Kläger nahegelegt, die Beschwerde zurückzunehmen, weil er Berufung gegen das Urteil des SG, in dem über die Gutachterkosten nach § 109 SGG entschieden worden sei, eingelegt habe, so daß die daneben erhobene Beschwerde gegen diese Kostenentscheidung überflüssig sei.
Die Ladung zu der mündlichen Verhandlung am 7. November 1963 wurde dem Kläger am 15. Oktober 1963 zugestellt. Als Az. ist in der Ladung das Az. der Beschwerdesache L 11 S 29/62 angegeben. Mit Schriftsatz vom 6. November 1963 hat der Kläger - der Anregung des Gerichts vom 19. Dezember 1962 folgend - die Beschwerde im Hinblick auf die noch anhängige Berufung zurückgenommen. Im Termin vom 7. November 1963 hat das LSG über die Berufung des Klägers - Az. L 11 V 75/62 - verhandelt. Für den Kläger war in der mündlichen Verhandlung niemand erschienen; der Vorsitzende hat die ordnungsgemäße Ladung des Prozeßbevollmächtigten des Klägers festgestellt, ohne hierbei zu bemerken, daß die Ladung zu der mündlichen Verhandlung lediglich in der Beschwerdesache unter dem Az. L 11 S 29/62 erfolgt war. Auf Antrag des Beklagten hat das LSG nach Lage der Akten entschieden und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Berlin vom 19. Juni 1962 zurückgewiesen; es hat die Revision nicht zugelassen. Nach diesem Urteil hat das Land Berlin die Kosten für das Gutachten des Dr. D vom 19. Oktober 1961 zu tragen. Auch das LSG hat sich hinsichtlich der Beurteilung der Schädigungsfolgen und der Höhe der MdE den im Verfahren vor dem SG gehörten Sachverständigen Dres. Sch und D angeschlossen.
Gegen das am 6. Dezember 1963 zugestellte Urteil des LSG hat der Kläger mit Schriftsatz vom 31. Dezember 1963, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG) am 4. Januar 1964, Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des LSG Berlin vom 7. November 1963 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Berlin zurückzuverweisen.
Der Kläger hat die Revision innerhalb der bis zum 6. März 1964 verlängerten Begründungsfrist mit Schriftsatz vom 5. März 1964, eingegangen beim BSG am 6. März 1964, begründet. Er rügt eine Verletzung der §§ 62, 63, 110, 126, 127, 128 SGG. Unter Vorlage der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 7. November 1963 trägt der Kläger vor, daß er lediglich in der Beschwerdesache mit dem Az. L 11 S 29/62 geladen worden sei. In dieser Sache sei eine Wahrnehmung des Termins nicht mehr erforderlich gewesen, weil die Beschwerde bereits mit Schriftsatz vom 6. November 1963 zurückgenommen worden sei. Hätte er gewußt, daß gleichzeitig auch über die eigentliche Versorgungsstreitsache mit dem Az. L 11 V 75/62 verhandelt werden sollte, wären sowohl er selbst als auch sein Prozeßbevollmächtigter zur mündlichen Verhandlung erschienen, zumal neben dem mündlichen Vortrag noch ergänzende Anträge und auch Beweisanträge gestellt werden sollten. Da in der Sache L 11 V 75/62 überhaupt keine Ladung ergangen sei, fehle es an einer ordnungsmäßigen Ladung nach § 110 SGG mit der Folge, daß unter Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) zu Unrecht nach Lage der Akten entschieden worden sei.
Der Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
Die Revision des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie findet - da nicht zugelassen - nur statt, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird und vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150), oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung oder des Todes mit einer Schädigung i. S. des BVG das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG). Der Kläger hat eine Verletzung der §§ 62, 63, 110, 126, 127, 128 SGG gerügt. Hierbei genügt es für die Statthaftigkeit der Revision, wenn eine der erhobenen Rügen durchgreift. In einem solchen Falle braucht auf weitere Rügen, welche die Revision ebenfalls nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft machen könnten, nicht mehr eingegangen zu werden (vgl. BSG in SozR SGG § 162 Bl. Da 36 Nr. 122).
Der Kläger ist, wie er durch Vorlage der Ladung nachgewiesen hat, zu der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 7. November 1963 unter dem Az. L 11 S 29/62 geladen worden. Dieses Az. betrifft die von dem Kläger mit Schriftsatz vom 24. Juli 1962 eingelegte Beschwerde gegen den Ausspruch des SG Berlin in seinem Urteil vom 19. Juni 1962, daß die Kosten des auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG von Dr. D erstatteten Gutachtens nicht als Gerichtskosten übernommen werden. Auf Anregung des LSG vom 19. Dezember 1962 hat der Kläger diese Beschwerde mit Schriftsatz vom 6. November 1963 zurückgenommen und ist mit Rücksicht darauf in der mündlichen Verhandlung nicht erschienen, weil er infolge des auf der Ladung befindlichen Az. L 11 S 29/62 der Meinung war, daß in der mündlichen Verhandlung am 7. November 1963 lediglich über die Beschwerdesache verhandelt werden sollte und wegen der Rücknahme der Beschwerde sein Erscheinen nicht mehr erforderlich war. Der erkennende Senat des LSG hat jedoch - wie offensichtlich von Anfang an beabsichtigt - über die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Berlin vom 19. Juni 1962 verhandelt und auf Antrag des Beklagten darüber nach Lage der Akten entschieden.
In diesem Verfahren des LSG ist eine Verletzung des § 62 SGG (Versagung des rechtlichen Gehörs) zu erblicken. Nach § 110 SGG, der nach § 153 Abs. 1 SGG auf das Verfahren vor dem Berufungsgericht entsprechend anzuwenden ist, bestimmt der Vorsitzende Ort und Zeit der mündlichen Verhandlung und teilt sie den Beteiligten in der Regel zwei Wochen vorher mit. Eine ordnungsgemäße Ladung hätte erfordert, daß sich auf dem Ladungsformular das Az. der Berufungssache L 11 V 75/62 befunden hätte. Statt dessen wurde die Ladung zu der mündlichen Verhandlung am 7. November 1963 dem Kläger unter dem Az. der Beschwerdesache L 11 S 29/62 zugestellt, so daß dieser mit Recht der Meinung sein konnte, die mündliche Verhandlung betreffe lediglich die Beschwerdesache, die sich aber inzwischen durch die Rücknahme der Beschwerde mit Schriftsatz vom 6. November 1963 erledigt hatte. Der Kläger ist somit zu der Verhandlung über die Berufungssache, die vom LSG am 7. November 1963 durchgeführt worden ist, nicht ordnungsgemäß geladen worden. Da er oder sein Prozeßbevollmächtigter zu diesem Termin nicht erschienen ist, konnte der Mangel der nicht ordnungsgemäßen Ladung auch nicht geheilt werden. Zu den Grundgedanken, die das Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit bestimmen, gehört der Grundsatz der mündlichen Verhandlung (§ 124 Abs. 1 SGG). Obwohl das Gericht im sozialgerichtlichen Verfahren den Sachverhalt nach § 103 SGG von Amts wegen zu erforschen hat, behält die mündliche Verhandlung auch in diesem Verfahren die vom Gesetzgeber als wesentlich erachtete Aufgabe, den Streitstoff mit den Beteiligten erschöpfend zu erörtern. Die mündliche Verhandlung ist daher ein Mittel zur Verwirklichung des den Beteiligten verbürgten rechtlichen Gehörs i. S. des § 62 SGG (vgl. BSG 1, 277, 278; 7, 230, 232; 12, 9; ferner Peters/Sautter/Wolff, Komm. zur SGb Anm. 1 zu § 124). Die Beteiligten haben grundsätzlich ein Recht darauf, in der mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Das LSG hat dem Kläger diese Möglichkeit dadurch genommen, daß es ihn lediglich in der Beschwerdesache unter dem Az. L 11 S 29/62 zu der mündlichen Verhandlung am 7. November 1963 geladen hat. Dieser wesentliche Verfahrensmangel macht die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, ohne daß noch auf die weiteren vom Kläger erhobenen Rügen eingegangen zu werden braucht (vgl. hierzu auch die Entscheidung des 9. Senats des BSG vom 22. Februar 1961 - 9 RV 114/60 - in einem ähnlichen Falle).
Die Revision ist auch begründet, weil die Möglichkeit besteht, daß das Berufungsgericht bei Gewährung des erforderlichen rechtlichen Gehörs zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre. Hierbei ist es unerheblich, ob der Kläger durch den gerügten prozessualen Verstoß aus dem Grunde nicht beschwert sein könnte, weil selbst dann, wenn das Berufungsgericht gesetzmäßig gehandelt hätte, die Entscheidung mit demselben Ergebnis ergangen wäre. Selbst wenn diese Folge auch bei ordnungsmäßigem Prozeßhergang eingetreten wäre, so brauchte sie der Kläger doch nicht als Wirkung eines gesetzwidrigen Verfahrens hinzunehmen, weil die gesetzlichen Vorschriften, die den Schutz der Parteirechte bezwecken, von den Gerichten genau befolgt und voll zur Geltung gebracht werden müssen (vgl. hierzu RGZ 60, 110, 111; ferner Urteil des 8. Senats des BSG in Sachen G ./. Freistaat Bayern - 8 RV 289/58 -). Da die Gewährung des rechtlichen Gehörs in tatsächlicher Hinsicht in einer Tatsacheninstanz zu geschehen hat, konnte der Senat in der Sache selbst nicht entscheiden (vgl. BSG 5, 158, 165). Das angefochtene Urteil mußte daher aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Fundstellen