Entscheidungsstichwort (Thema)

Sachaufklärung. medizinisches Gutachten

 

Orientierungssatz

Hat ein Fachmediziner sich nur zu der Frage eines Herzleidens geäußert, jedoch zu der Frage, ob die vom Kläger angegebenen Gesundheitsstörungen als Dystrophiefolgen aufgefaßt werden können, nicht in fachinternistischer Sicht Stellung genommen, obwohl ein ursächlicher Zusammenhang mit schädigenden Einwirkungen der langjährigen Internierung und den dabei durchgemachten Dystrophien auch dann in Betracht kommen kann, wenn ein organischer Herzfehler nicht festgestellt wird, so muß das Gericht noch ein internistisches Fachgutachten beiziehen.

 

Normenkette

SGG § 103

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 28.01.1965)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 28. Januar 1965 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Gründe

Der Kläger - von Beruf Verlagsbuchhändler und Schriftsteller - war im ersten Weltkrieg Soldat und wurde mehrfach verwundet. Am 18. Mai 1948 wurde er in der sowjetischen Besatzungszone verhaftet und zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Er verbüßte 2 Jahre in Strafanstalten der sowjetischen Besatzungszone, wurde dann nach Sibirien transportiert und von dort am 20. Oktober 1955 aus der Haft entlassen.

Am 26. Oktober 1955 beantragte der Kläger in Berlin-West Versorgung wegen der im ersten Weltkrieg erlittenen Verwundungen und der Gesundheitsstörungen aus der Zeit seiner Haft. Durch Bescheid des Versorgungsamts II Berlin vom 28. April 1956 wurden lediglich "Bronchitis bei Lungen-Tbc, Schallempfindungsstörung links, Verlust der Zähne 5 oben links, 4, 5 oben rechts" als gesundheitliche Schädigungen i. S. des § 4 des Häftlingshilfegesetzes vom 6. August 1955 ohne Gewährung einer Rente anerkannt. In dem Widerspruchsbescheid vom 1. Juli 1957 erkannte das Landesversorgungsamt Berlin als Schädigungsfolgen bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v. H. folgende Gesundheitsstörungen an:

"1) kleiner durchgehender Knochendefekt im linken vorderen Scheitelbereich mit geringen, nicht funktionsbehindernden Halbseitensymptomen und seltenen vasovegetativen Kollapszuständen,

2) Bronchitis bei Lungentuberkulose,

3) Narbe an der rechten Ohrmuschel und im rechten Trommelfell bei rechtsseitiger Schallempfindungsstörung im Sinne der Verschlimmerung,

4) mäßige Kraftminderung der rechten Hand, geringe Behinderung der Unterarmdrehbewegung nach Schußverletzung,

5) Verlust der Zähne 5 oben links, 4, 5 oben rechts im Sinne der Verschlimmerung."

Mit der Klage hat der Kläger die Festsetzung der MdE auf 90 v. H. und die zusätzliche Anerkennung von "Substanzverlust am knöchernen Schädel, zentrale Regulierungsstörungen, Folgezustand nach Dystrophie" als Schädigungsfolgen beantragt. Das Sozialgericht (SG) hat den Privatdozenten Dr. Sch von der Neurochirurgisch-Neurologischen Poliklinik der Freien Universität B als Sachverständigen gehört, der in seinem Gutachten vom 8. Dezember 1960 zu dem Ergebnis gelangt ist, daß die auf neurologischem Gebiet anerkannten Versorgungsleiden vollständig und zutreffend bezeichnet sowie ausreichend bewertet worden seien. Die MdE auf neurologischem Gebiet betrage nach wie vor 40 v. H., weil eine Verschlimmerung nicht eingetreten sei. Etwaige subjektive Verschlimmerungen seien durch altersphysiologische Gefäßveränderungen bedingt. Im Verfahren vor dem SG ist ferner ein Gutachten nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) von Dr. D vom 19. Oktober 1961 eingeholt worden. Dieser Sachverständige hat zusammenfassend ausgeführt, daß der Kläger Hirnverletzter sei, ohne daß eine Wesensänderung und eine Hirnleistungsschwäche vorlägen. Die MdE für die Folgen der Hirnverletzung betrage 60 v. H., die Gesamt-MdE unter Einbeziehung der übrigen anerkannten Schädigungsfolgen 80 v. H. In seinem Urteil vom 19. Juni 1962 hat sich das SG Berlin den Gutachten der Sachverständigen Dr. Sch und Dr. D angeschlossen und die Klage abgewiesen. Das SG hat in dem Urteil gleichzeitig entschieden, daß die Kosten des auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG von Dr. D erstatteten Gutachtens nicht als Gerichtskosten übernommen werden.

Mit Schriftsatz vom 24. Juli 1962 hat der Kläger beim Landessozialgericht (LSG) gegen die Entscheidung des SG über die Tragung der Kosten für das nach § 109 SGG erstattete Gutachten des Dr. D Beschwerde (Az. des LSG = L 11 S 29/62) und mit Schriftsatz vom 25. Juli 1962 Berufung gegen das Urteil des SG eingelegt (Az. des LSG = L 11 V 75/62). In der dem Kläger am 15. Oktober 1963 zugestellten Ladung zu der mündlichen Verhandlung am 7. November 1963 wurde das Aktenzeichen der Beschwerdesache - L 11 S 29/62 - angegeben. Mit Schriftsatz vom 6. November 1963 hat der Kläger - der Anregung des Gerichts vom 19. Dezember 1962 folgend - die Beschwerde im Hinblick auf die noch anhängige Berufung zurückgenommen. Im Termin am 7. November 1963, in dem für den Kläger niemand erschienen war, hat das LSG über die Berufung des Klägers verhandelt, ohne zu bemerken, daß die Ladung zu der mündlichen Verhandlung lediglich in der Beschwerdesache erfolgt war. Es hat die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Berlin vom 19. Juni 1962 zurückgewiesen sowie dem Land Berlin die Kosten für das Gutachten des Dr. D vom 19. Oktober 1961 auferlegt.

Auf die nicht zugelassene Revision des Klägers hat das Bundessozialgericht (BSG) die Entscheidung des LSG durch Urteil vom 5. November 1964 wegen Verletzung des § 62 SGG aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückverwiesen. Es hat die Versagung des rechtlichen Gehörs darin erblickt, daß der in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 7. November 1963 nicht erschienene Kläger zu dieser Verhandlung nicht ordnungsgemäß geladen worden ist, weil sich auf der Ladung statt des Aktenzeichens der Berufungssache das der Beschwerdesache befand und der Kläger diese Beschwerde bereits zurückgenommen hatte.

Durch Urteil vom 28. Januar 1965 hat das LSG Berlin die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Berlin vom 19. Juni 1962 erneut zurückgewiesen; es hat die Revision nicht zugelassen. In den Entscheidungsgründen hat das Berufungsgericht ausgeführt, der Kläger glaube eine Erhöhung der Gesamt-MdE mit einer zusätzlichen Bewertung von Substanzverlust am knöchernen Schädel sowie dem Anspruch auf zusätzliche Anerkennung von zentralen Regulierungsstörungen und Dystrophiefolgen begründen zu können. Er übersehe hierbei jedoch, daß dieser Substanzverlust bereits mit der Anerkennung eines "durchgehenden Knochendefekts" als Schädigungsfolge ausreichend gekennzeichnet sei. Welche Folgen der Kläger auf eine Dystrophie während seiner Internierung zurückführen wolle, gehe aus seinen Ausführungen nicht hervor. Die von ihm behaupteten Ausfallserscheinungen (Hirnleistungsschwäche und Wesensänderung) hätten die Sachverständigen Dres. Sch und D nicht als Folgen einer hirntraumatischen oder dystrophiebedingten Schädigung feststellen können. Soweit Dr. Sch eine beginnende allgemeine Hirnleistungsschwäche in Erwägung gezogen habe, sei diese nach Ansicht des Sachverständigen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Ausdruck der nachweisbaren Arteriosklerose des Klägers, also weder Verwundungs- noch Internierungsfolge. Die von dem Kläger begehrte Anerkennung zentraler Regulierungsstörungen sei bereits in der neurologischen Krankheitsbezeichnung "seltene vasovegetative Kollapszustände" enthalten. Im übrigen seien die persönlichen Schwierigkeiten des Klägers, in seiner freiberuflichen Tätigkeit wieder festen Fuß zu fassen, der Hauptgrund für die bei ihm von den Sachverständigen festgestellte Übererregbarkeit des vegetativen Nervensystems. Zwar sei von Dr. D die Ansicht vertreten worden, es scheine sich bei der vegetativen Übererregbarkeit des Klägers um einen "summarischen Schaden" zu handeln, der zum Teil auf die Hirnverletzung, zum Teil auf die Internierungserlebnisse zurückgeführt werden müsse. Diese Schlußfolgerung finde aber in dem Gutachten des Dr. D keine überzeugende Stütze; vielmehr seien nach dem wechselvollen Lebenslauf des Klägers seine seelischen und wirtschaftlichen Belastungen bis zu seiner Internierung durchaus geeignet gewesen, sein Nervensystem über das gewöhnliche Maß hinaus zu belasten. Die vom Kläger insoweit begehrte Ergänzung der Leidensbezeichnung müsse deshalb in vollem Umfang abgelehnt werden. Eine höhere MdE für den als Schädigungsfolge anerkannten Leidenszustand sei nicht gerechtfertigt und könne auch nicht mit einer besonderen Berufsbetroffenheit begründet werden.

Das LSG hat ferner seinen Ausspruch in dem früheren Urteil vom 7. November 1963, daß das Land Berlin die Kosten für das von Dr. D nach § 109 SGG erstattete Gutachten zu tragen habe, geändert und nunmehr dem Kläger die Kosten für dieses Gutachten mit der Begründung auferlegt, daß das von Dr. Sch erstattete Gutachten sowohl für das SG als auch für das Berufungsgericht alleinige Grundlage für die Urteilsfindung gewesen sei.

Gegen dieses am 25. Februar 1965 zugestellte Urteil des LSG hat der Kläger mit Schriftsatz vom 22. März 1965, eingegangen beim BSG am 25. März 1965, Revision eingelegt und beantragt,

das Urteil des LSG Berlin vom 28. Januar 1965 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Berlin zurückzuverweisen, hilfsweise, in Abänderung des Urteils des LSG Berlin vom 28. Januar 1965 das Urteil des SG Berlin vom 19. Juni 1962 dahingehend abzuändern, daß die Verwaltungsvorentscheidungen abgeändert bzw. aufgehoben werden und der Beklagte verurteilt wird, beim Kläger zusätzlich "Substanzverlust am knöchernen Schädel, zentrale Regulierungsstörungen, Folgezustand nach Dystrophie" i. S. der Entstehung, zumindest der richtunggebenden Verschlimmerung anzuerkennen und ihm vom frühestmöglichen Zeitpunkt an eine Versorgungsrente nach einem Grad der MdE um mindestens 90 v. H. bei Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins zu gewähren.

Der Kläger hat die Revision innerhalb der bis zum 25. Mai 1965 verlängerten Begründungsfrist mit Schriftsatz vom 20. Mai 1965, auf den Bezug genommen wird, begründet. Er rügt eine Verletzung der §§ 103, 106, 128 SGG und der §§ 1 ff des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Zur Begründung der Rüge mangelnder Sachaufklärung trägt der Kläger insbesondere vor, das LSG habe zu Unrecht die Auffassung vertreten, daß die im Versorgungsleiden enthaltene Bezeichnung "kleiner durchgehender Knochendefekt im linken vorderen Scheitelbereich" den Schädelknochensubstanzverlust beinhalte. Bei ihm handle es sich vielmehr einwandfrei um ein Loch im knöchernen Schädel mit Knochensubstanzverlust. Das LSG hätte daher über das Ausmaß und die Auswirkung dieses Knochensubstanzverlustes ein fachchirurgisches Gutachten einholen müssen, das ergeben hätte, "daß ein Lochdefekt des Schädels keineswegs mit einem Knochensubstanzverlust des Schädels einhergehen muß". Das Berufungsgericht hätte ferner noch das Gutachten eines Facharztes für innere Krankheiten einholen müssen. Die Neurologen Dres. Sch und D hätten lediglich Feststellungen darüber getroffen, ob neurologische Gesundheitsschäden als Folgen der Dystrophie vorhanden sind. Bei einem Folgezustand nach Dystrophie komme es aber in erster Linie darauf an, ob Eiweißmangelschäden zu einer Beeinträchtigung der Organfunktionen geführt haben und ob Kreislaufstörungen vorhanden sind. Diese medizinische Aufklärung durch einen Internisten sei auch deswegen erforderlich gewesen, weil die von dem Neurologen Dr. Sch unterstellte Arteriosklerose durch einen Dystrophieschaden beeinflußt worden sei. Hierbei hätten auch die psychischen Störungen in Form depressiver Stimmungslagen infolge eines Dystrophieschadens mit bleibendem Eiweißmangelschaden hinsichtlich ihrer Ursache eine Aufklärung gefunden. Endlich habe die Vorinstanz den schweren dystrophischen Zustand bei der Rückkehr in die Bundesrepublik nicht aufgeklärt.

Der Kläger bringt weiter vor, daß mit der von ihm begehrten Anerkennung zentraler Regulierungsstörungen vor allem folgende Gesundheitsstörungen erfaßt werden sollten: "Fast dauernde Kopfschmerzen, Durchblutungsstörungen, Schwindelanfälle, Schweißabsonderungen, schnelle Ermüdbarkeit, Bückschwindel, Erregbarkeit." Keinesfalls könne man "seltene vasovegetative Kollapszustände" den angeführten zentralen Regulierungsstörungen gleichsetzen, wie es das Berufungsgericht in dem angefochtenen Urteil getan habe. Endlich habe das LSG zu seinen Feststellungen über das besondere berufliche Betroffensein keine Ermittlungen angestellt, sondern lediglich vermutet und unterstellt, daß das Einkommen in der Zeit von 1933 bis 1945 wegen der politischen Verfolgungen nicht allzu hoch gewesen sein könne. Beweisunterlagen dafür habe das Gericht jedoch nicht gehabt. Um sich ein genaues Bild über die Tätigkeit eines Schriftleiters machen zu können, hätten entsprechende Auskünfte von Sachverständigen dieses Berufsgebiets eingeholt werden müssen.

Der Beklagte beantragt die Verwerfung der Revision als unzulässig; er hält die gerügten Verfahrensmängel oder eine Gesetzesverletzung bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs i. S. des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG nicht für gegeben.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Da das LSG die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat, ist sie nur statthaft, wenn ein wesentlicher Verfahrensmangel gerügt wird und vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150) oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung oder des Todes mit einer Schädigung i. S. des BVG das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG). Der Kläger rügt als wesentliche Verfahrensmängel, daß das LSG gegen die §§ 103, 106, 128 SGG verstoßen habe. Hierbei genügt es für die Statthaftigkeit der Revision, wenn eine der vom Kläger erhobenen Rügen durchgreift; in einem solchen Falle braucht auf weitere Rügen, welche die Revision ebenfalls nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft machen könnten, nicht mehr eingegangen zu werden (BSG in SozR SGG § 162 Nr. 122).

Der Kläger rügt in erster Linie eine unzureichende Sachaufklärung durch das Berufungsgericht. Nach § 103 SGG hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Hierbei muß es das tatsächliche Vorbringen der Beteiligten zwar berücksichtigen; es ist jedoch an das Vorbringen und die Beweisanträge nicht gebunden (§ 103 Satz 2 SGG). Zur Feststellung, ob die für das Bestehen oder Nichtbestehen des geltend gemachten Anspruchs erheblichen Tatsachen vorliegen, hat das Gericht alle geeigneten und notwendigen Ermittlungen anzustellen. Über den Umfang der zur Erforschung der Wahrheit erforderlichen Ermittlungen entscheidet der Tatrichter im Rahmen der ihm obliegenden Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts. Er verletzt seine Aufklärungspflicht, wenn er eine tatsächliche Frage über den gesundheitlichen Zustand eines Versorgungsberechtigten oder über die Ursache einer Gesundheitsstörung entscheidet, die er auch vom Standpunkt eines lebenserfahrenen Richters nicht aus eigener Sachkunde entscheiden kann, oder wenn er seine Feststellung auf ein Gutachten stützt, das in sich widerspruchsvoll oder wegen anderer Mängel zur Erforschung der rechtserheblichen Tatsachen nicht geeignet oder nicht ausreichend ist (vgl. BSG 1, 91). Eine unzureichende Sachaufklärung liegt auch dann vor, wenn das LSG Beweismittel ungenützt ließ, obwohl die bisher erhobenen Beweise zu einer sicheren tatsächlichen Feststellung nicht ausreichten. Diese Voraussetzungen für die Rüge unzureichender Sachaufklärung sind im vorliegenden Falle erfüllt.

Der Kläger wendet sich in der Revisionsbegründung zunächst gegen die Auffassung des LSG, der Substanzverlust am knöchernen Schädel sei bereits mit der Anerkennung eines "durchgehenden Knochendefekts" als wehrdienstbedingte Schädigungsfolge ausreichend gekennzeichnet. Er meint, das LSG hätte über das Ausmaß und die Auswirkung des Knochensubstanzverlustes am Schädel noch ein fachchirurgisches Gutachten einholen müssen, weil die Neurologen Dr. Sch und Dr. D, auf deren Gutachten das LSG seine Überzeugung gestützt habe, zur Beurteilung des Knochensubstanzverlustes nicht zuständig gewesen seien. Diese Rüge greift jedoch nicht durch, weil diese Sachverständigen ihre Beurteilung des durchgehenden Knochendefekts auf ein versorgungsärztliches Gutachten mit Röntgenbefund gestützt haben (vgl. insbesondere Seite 9 des Gutachtens von Dr. Sch). Der Facharzt für Röntgenologie Dr. W hat am 30. November 1955 Röntgenaufnahmen des Schädels in drei Ebenen hergestellt und hierzu ausgeführt, daß sich im vorderen medialen Quadranten des linken Schädelbeines nahe der Pfeilnaht eine nach frontal bis zur Kranznaht reichende, im ganzen etwa kirschgroße Aufhellungsregion des Knochens finde. In kleinerer Ausdehnung scheine ein kompletter Defekt der Schädelkalotte an dieser Stelle zu bestehen. Die übrige Schädelkalotte sei unauffällig und weise keine Zeichen für eine Steigerung des intracraniellen Druckes auf. Dr. W. ist zu dem Ergebnis gelangt, daß wahrscheinlich eine alte posttraumatische Defektbildung der Schädelkalotte im vorderen medialen Quadranten des linken Scheitelbeins im Winkel zu Pfeil- und Kranznaht vorliege. In diesem Röntgenbefund ist das Ausmaß des Knochendefekts klar beschrieben, so daß sich die neurologischen Sachverständigen darauf stützen konnten. Da sie für die Beurteilung einer etwaigen Auswirkung dieses Knochendefekts auf die Hirnsubstanz als Neurologen zuständig waren, brauchte sich das LSG nicht gedrängt zu fühlen, insoweit noch ein fachchirurgisches Gutachten einzuholen.

Der Kläger trägt zur Begründung seiner Rüge einer mangelhaften Sachaufklärung weiter vor, das LSG sei auf Grund der beiden neurologischen Gutachten zu der Auffassung gelangt, daß Dystrophiefolgen und zentrale Regulierungsstörungen nicht als Schädigungsfolgen anerkannt werden könnten. Bei einem Folgezustand nach Dystrophie komme es aber in erster Linie darauf an, ob Eiweißmangelschäden zu einer Beeinträchtigung der Organfunktionen geführt haben und ob Kreislaufstörungen vorhanden sind. Zu einer Beurteilung von Dystrophiefolgen in dieser Richtung seien Neurologen nicht in der Lage; vielmehr hätte das LSG hierzu einen Fachinternisten als Sachverständigen hören müssen. Auch könne eine Dystrophie mit Eiweißmangelschaden zu zentralen Regulierungsstörungen führen, die sich als Folgen der Dystrophie in Kopfschmerzen, Durchblutungsstörungen, Schwindelanfällen, Schweißabsonderung, schneller Ermüdbarkeit, Bückschwindel und Erregbarkeit äußerten. Diese Rüge einer Verletzung des § 103 SGG ist gerechtfertigt.

Der Sachverständige Dr. Sch hat zu den vom Kläger behaupteten Dystrophiefolgen in seinem Gutachten vom 8. Dezember 1960 lediglich aus neurologischer Sicht Stellung genommen und dazu ausgeführt, daß sich derartige Folgen einer Dystrophie klinisch in Form einer Hirnatrophie mit schweren organischen Wesensveränderungen äußern müßten, die aber beim Kläger nicht vorlägen. In ähnlichem Sinne hat auch der Sachverständige Dr. D sein Gutachten vom 19. Oktober 1961 erstattet. Es lagen somit dem LSG keine fachärztlichen Stellungnahmen auf internistischem Gebiet vor, in denen geprüft worden ist, ob die vom Kläger während seiner langjährigen Internierung durchgemachten Dystrophien zu Kreislaufstörungen geführt haben, die sich in den von ihm angegebenen Kopfschmerzen, Durchblutungsstörungen, Schwindelanfällen, Erregbarkeit u. s. w. äußern. Dr. Sch hat ferner die zentralen Regulierungsstörungen auf eine beginnende allgemeine Arteriosklerose zurückgeführt. Ob und in welchem Umfange ein solches Leiden bei dem Kläger vorliegt, ist jedoch in erster Linie vom Internisten zu beurteilen. Das LSG hat allerdings in dem angefochtenen Urteil auf Seite 9 der Urteilsausfertigung seine Ansicht, daß Folgen einer Dystrophie nicht mehr festzustellen seien, auch auf die versorgungsärztlichen Gutachten gestützt. Es liegt jedoch insoweit lediglich das Gutachten des Reg. Medizinalrats Dr. K vom 28. März 1956 (Bl. 35 der VersorgA) vor, der Facharzt für innere Medizin ist. In diesem Gutachten sind die vom Kläger angegebenen Beschwerden in der Anamnese aufgeführt, in der Beurteilung des Dr. K findet sich aber lediglich der Satz: "Ein Herzleiden wurde klinisch, röntgenologisch und elektrokardiographisch nicht festgestellt." Dr. K hat sich somit zu der Frage, ob die vom Kläger angegebenen Gesundheitsstörungen als Dystrophiefolgen aufgefaßt werden können, nicht in fachinternistischer Sicht geäußert. Insoweit könnte aber ein ursächlicher Zusammenhang mit schädigenden Einwirkungen der langjährigen Internierung und den dabei durchgemachten Dystrophien auch dann in Betracht kommen, wenn ein organischer Herzfehler nicht festgestellt werden kann. Das LSG hätte daher hierzu noch ein internistisches Fachgutachten beiziehen müssen, so daß § 103 SGG verletzt ist. Wegen dieses wesentlichen Verfahrensmangels i. S. des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG ist die nicht zugelassene Revision des Klägers somit statthaft.

Die Revision ist auch begründet, weil das angefochtene Urteil auf dieser unzureichenden Sachaufklärung beruht; denn es besteht die Möglichkeit, daß das LSG anders entschieden hätte, wenn es die nach den vorstehenden Ausführungen erforderliche Sachaufklärung durchgeführt hätte (vgl. BSG 2, 197). Da der Senat nicht selbst entscheiden kann, weil noch weitere Ermittlungen erforderlich sind, mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

In seiner Entscheidung vom 7. November 1963, die durch Urteil des BSG vom 5. November 1964 aufgehoben worden ist, hat das LSG im Urteilstenor ausgesprochen, daß die Kosten für das Gutachten, das Dr. D am 19. Oktober 1961 auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG erstattet hat, das Land Berlin zu tragen hat. In dem nach der Zurückverweisung ergangenen und mit der vorliegenden Revision angefochtenen Urteil vom 28. Januar 1965 hat das LSG demgegenüber in den Entscheidungsgründen ausgeführt, daß kein Anlaß bestehe, die von dem Kläger vor Einholung des Gutachtens von Dr. D nach § 109 SGG übernommene Kostenpflicht auf das Land Berlin abzuwälzen. Durch das von Dr. Sch erstattete Gutachten, das sowohl für das SG als auch für das LSG alleinige Grundlage für die Urteilsfindung gewesen sei, sei der Rechtsstreit so geklärt gewesen, daß eine weitere Begutachtung nicht erforderlich erschien und eine solche deshalb allein in das Belieben des Klägers gestellt war. Ob die Entscheidung über die Pflicht zur Kostentragung hinsichtlich des von Dr. D nach § 109 SGG erstatteten Gutachtens vom 19. Oktober 1961 geändert werden durfte, wird vom LSG bei seiner erneuten Entscheidung nochmals zu prüfen sein. Selbst wenn man annehmen wollte, daß das LSG gegenüber dem Kläger in seinem zweiten Urteil hinsichtlich der Pflicht zur Kostentragung eine reformatio in peius vornehmen durfte, erhebt sich die weitere Frage, ob die prozessuale Nebenentscheidung über die Kostentragung nach § 109 Abs. 1 Satz 2 SGG rechtskräftig geworden ist und vom LSG in seiner zweiten Entscheidung vom 28. Januar 1965 zu beachten gewesen wäre, weil das Urteil des LSG vom 7. November 1963 insoweit nicht angefochten worden ist. Auch wird das LSG in dieser Hinsicht noch zu prüfen haben, ob es wegen der Selbstbindung an seinen Ausspruch in dem Urteil vom 7. November 1963 über die Kostentragung nach § 109 Abs. 1 Satz 2 SGG gebunden ist.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324146

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