Orientierungssatz
Ordnungsgemäße Beweiswürdigung - erschöpfende Sachaufklärung - wesentliche Änderung - Bindungswirkung - Berichtigungsmöglichkeit.
Normenkette
SGG § 77 Fassung: 1953-09-03, § 103 Fassung: 1953-09-03, § 128 Fassung: 1953-09-03; KOVVfG § 41 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27; BVG § 62 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1966-12-28; SGG § 106
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 05.03.1974; Aktenzeichen L 13 V 26/72) |
SG Berlin (Entscheidung vom 14.03.1972; Aktenzeichen S 43 V 740/69) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 5. März 1974 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der Kläger erlitt im August 1944 eine Granatsplitterverwundung am Kopf. Mit Bescheid vom 10. Februar 1955 lehnte das Versorgungsamt (VersorgA) die Gewährung einer Rente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) ab, da die anerkannten Schädigungsfolgen - reizlose Narbe an der rechten Kopfseite, Innenohrschwerhörigkeit mittleren Grades rechts - nur eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um weniger als 25 v.H. bedingten.
Auf seinen im November 1963 gestellten Neufeststellungsantrag wurde der Kläger u.a. von dem Nervenarzt Dr. B und dem Augenarzt Dr. P begutachtet. Dr. B stellte eine leichte Abblassung der rechten Papille fest und bewertete diesen Augenbefund als neurologisches Dauersymptom einer Hirnkontusion; Dr. P erachtete gleichfalls diese Papillenabblassung sowie einen Prellungsherd in der Peripherie des Augenhintergrundes als Schädigungsfolgen und schätzte die hierdurch bedingte MdE auf 5 v.H.. Der Nervenarzt Dr. W schlug in seinem Prüfvermerk eine Ergänzung der anerkannten Schädigungsfolgen vor; daraufhin wurden mit Bescheid vom 5. Februar 1965 "Prellungsherd in der Peripherie des Augenhintergrundes, geringe Abblassung der schläfenwärtigen Seite der Sehnervenscheibe" als weitere Schädigungsfolgen - jedoch ohne Änderung des MdE-Grades - anerkannt. Nach weiterer ärztlicher Begutachtung wurde der Neufeststellungsantrag abgelehnt (Bescheid vom 10. März 1967); der Widerspruch wurde durch Bescheid vom 24. Juni 1969 zurückgewiesen.
Der Kläger beantragte mit der hiergegen erhobenen Klage, den Beklagten zur Anerkennung von "vegetativ-zentralen Regulierungsstörungen" als weiterer Schädigungsfolge und zur Gewährung von Versorgungsrente nach einer MdE um mindestens 50 v.H. zu verurteilen; zur Begründung nahm er u.a. auf den Widerspruchsschriftsatz vom 8. Juni 1965 Bezug, mit dem er das Gutachten des HNO-Arztes Dr. N eingereicht hatte. Das Sozialgericht (SG) hörte zunächst den Nervenarzt Dr. St und den Augenarzt Dr. O als Sachverständige. Dr. O, dessen Beurteilung im angefochtenen Urteil unkorrekt wiedergegeben worden ist, meinte, der Papillenbefund rechts könne hirntraumatischer Natur sein. Dr. St kam nach sorgfältiger Abwägung zu dem Ergebnis, die Schädelverwundung habe eine umschriebene Hirnschädigung bewirkt, welche ihren Ausdruck nunmehr in der temporalen Abblassung der Papille gefunden habe und mit einer MdE um 30 v.H. zu bewerten sei; wegen der schwierig zu beurteilenden Problemstellung empfahl er, von Prof. Dr. Sch ein Gutachten zu der Frage einzuholen, ob es wahrscheinlich sei, daß die beim Kläger vorhandene temporale Abblassung der Papille auf eine traumatische Hirnschädigung bei der Verwundung 1944 zurückzuführen sei. Nachdem auch der Nervenarzt Dr. W namens des Beklagten sich dieser Empfehlung angeschlossen hatte, legte das SG dem Chefarzt Prof. Dr. Sch die Beweisfrage vor. Dieser führte in dem von ihm und Dr. S unterzeichneten Gutachten aus, die temporale Papillenabblassung sei nicht als pathologischer Befund, sondern lediglich als eine Normvariante anzusehen; selbst wenn sie aber als partielle Opticusatrophie zu deuten sei, erscheine der Zusammenhang mit einer kontusionellen Hirnschädigung immerhin fraglich. Das SG wies daraufhin die Klage ab (Urteil vom 14. März 1972).
Mit der Berufung hat der Kläger sein Klagebegehren weiterverfolgt und angekündigt, er werde ärztliche Bescheinigungen über Art und Schwere aller jetzt vorhandenen, als Schädigungsfolgen geltend gemachten Gesundheitsstörungen beibringen. Nachdem dies unterblieben war, hat das Landessozialgericht (LSG) von vier Ärzten, die den Kläger behandelten, Befundberichte angefordert. Mit Urteil vom 5. März 1974 hat das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen, wobei es der von den Sachverständigen Prof. Dr. Sch/Dr. S vertretenen Auffassung gefolgt ist, die Papillenabblassung könne nicht als pathologischer Befund angesehen werden.
Mit seiner form- und fristgerecht eingelegten, nicht gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zugelassenen Revision rügt der Kläger Verletzungen der §§ 103, 106, 128 SGG und macht insbesondere geltend, das LSG hätte den Kläger ohrenfachärztlich begutachten lassen müssen. Er beantragt,
in Änderung der angefochtenen Entscheidungen den Beklagten zur Anerkennung von zentral-vegetativen Regulierungsstörungen als weiterer Schädigungsfolge und zur Gewährung von Beschädigtenrente von 50 v.H. ab November 1963 zu verurteilen,
hilfsweise,
unter Aufhebung des LSG-Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt
Verwerfung der Revision.
Er hält die Verfahrensrügen für ungerechtfertigt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist statthaft gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, da der Kläger einen wesentlichen Mangel des Berufungsverfahrens zutreffend gerügt hat.
Die Revisionsbehauptung, der Kläger habe "immer wieder auf eine fortlaufende Verschlimmerung seiner Schwerhörigkeit hingewiesen", trifft - soweit das gerichtliche Verfahren in Betracht kommt - sicherlich nicht zu; vielmehr hat er als medizinisches Substrat seines Klage- und Berufungsbegehrens mit Nachdruck die auch in seinen Sachanträgen hervorgehobenen "zentral-vegetativen Regulierungsstörungen" als Folgeerscheinungen der von ihm behaupteten Hirnschädigung in den Vordergrund gerückt. Trotzdem hätte das LSG nicht völlig übersehen dürfen, daß der Kläger - allerdings in sehr diskreter Form, nämlich allein durch Bezugnahme auf den Schriftsatz vom 8. Juni 1965 - mit seiner Klage auch eine Verschlimmerung seiner Schwerhörigkeit geltend gemacht hatte; das HNO-Gutachten vom 25. Mai 1965, das mit jenem Schriftsatz dem VersorgA vorgelegt worden war, hatte als Befund nicht mehr eine mittelgradige, sondern eine hochgradige Schwerhörigkeit des rechten Ohres angegeben, wofür Dr. N eine MdE um etwa 20 v.H. geschätzt hatte. In der Berufungsbegründung hatte der Kläger sodann - ebenfalls nicht ganz deutlich, aber doch immerhin noch erkennbar - zum Ausdruck gebracht, daß er mehrere von verschiedenen Ärzten behandelte Gesundheitsschäden als Schädigungsfolgen zur Rechtfertigung seines Rentenanspruchs geltend machen wollte. Die hierauf vom LSG eingeholten Befundberichte der Internistin Dr. H und des praktischen Arztes Dr. Sch deuteten, wie die Revision mit Recht vorträgt, darauf hin, daß sich in den letzten Jahren mehrere von diesen Ärzten als Schädigungsfolgen erachtete Gesundheitsstörungen, darunter auch die schon bescheidmäßig anerkannte Schwerhörigkeit, verschlimmert haben sollten. Um das Gesamtergebnis des Verfahrens zu berücksichtigen (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG), hätte das LSG aufgrund dieser Befundberichte in Verbindung mit dem Gutachten des HNO-Arztes Dr. N vom 25. Mai 1965 prüfen müssen, ob sich bei der als Schädigungsfolge anerkannten Schwerhörigkeit eine wesentliche Änderung (§ 62 Abs. 1 Satz 1 BVG) gegenüber dem Zustand von Ende 1954 ergeben haben könnte; falls die vorliegenden ärztlichen Äußerungen für eine Überzeugungsbildung nicht ausreichten, hätte sich das LSG zur Einholung eines neuen HNO-Gutachtens gedrängt fühlen müssen (§§ 103, 106 SGG). Die Unterlassung dieser Schritte bedeutet einen wesentlichen Verfahrensmangel, der die Revision statthaft macht; zugleich ist die Revision deshalb auch begründet, denn es ist nicht auszuschließen, daß das LSG bei ordnungsgemäßer Beweiswürdigung und eventueller weiterer Sachaufklärung zu einer dem Kläger günstigeren Entscheidung gelangt wäre. Unter Aufhebung des angefochtenen Urteils muß die Sache somit gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das LSG zurückverwiesen werden.
Im erneuten Berufungsverfahren wird es dem LSG obliegen, verfahrensrechtliche Bedenken zu prüfen, welche - vom Kläger freilich bisher nicht vorgebracht - gegen das Gutachten der Nervenärzte Prof. Dr. Sch/Dr. S vom 29. Oktober 1971 erhoben werden können. In dieser Hinsicht mag die Form der Abfassung und Unterzeichnung des Gutachtens (vgl. SozR Nr. 93 zu § 128 SGG) im vorliegenden Fall weniger bedeutsam erscheinen. Wesentlich schwerer wiegt es, daß das Gutachten zu der von Dr. St angeregten und vom SG übernommenen Beweisfrage jedenfalls insoweit nicht eingeholt und erstattet werden durfte, als hierdurch die Bestandskraft des Bescheides vom 5. Februar 1965 berührt wurde. Durch diesen Bescheid hatte das VersorgA - in Ergänzung der bis dahin anerkannten Schädigungsfolgen - festgestellt, daß auch die Augenhintergrundveränderungen (Prellungsherd, Papillenabblassung) als Schädigungsfolgen im Sinne des § 1 BVG anzuerkennen seien. Da außer der Granatsplitterverwundung vom August 1944 keinerlei sonstige schädigenden Einwirkungen (etwa eine Erkrankung des Klägers) aktenkundig sind, konnte sich die Anerkennung nur auf das Schädeltrauma beziehen, wobei freilich die seinerzeit von den Nervenärzten Dr. B und Dr. W erwogene Wahrscheinlichkeit bzw. Möglichkeit einer Hirnkontusion nicht Gegenstand der bescheidmäßigen Feststellung geworden war. Spätere Gutachter und die Gerichte waren also durch den Bescheid vom 5. Februar 1965 nicht an eine Anerkennung einer durch die Verwundung bewirkten Hirnkontusion gebunden (vgl. SozR Nr. 84 zu § 1 BVG), wohl aber daran, daß die im Bescheid angeführten Augenhintergrundveränderungen traumatischen Ursprungs waren. Hiervon sind nun aber die Sachverständigen Prof. Dr. Sch/Dr. S offensichtlich abgewichen, indem sie dargelegt haben, die temporale Papillenabblassung stelle überhaupt keinen pathologischen Befund, sondern lediglich eine Normvariante dar. SG und LSG waren durch § 77 SGG daran gehindert, das genannte Gutachten in diesem Punkt zur Grundlage ihrer Entscheidung zu machen (vgl. BSG 12, 25, 26; 13, 86, 88). Vielmehr hätten die Gerichte die Sachverständigen darüber belehren müssen, daß - solange kein Berichtigungsbescheid nach § 41 Verwaltungsverfahrensgesetz wirksam erteilt worden ist - bei der medizinischen Beurteilung von einer traumatischen Entstehung der Augenhintergrundveränderungen ausgegangen werden muß.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen