Entscheidungsstichwort (Thema)
Rücknehmbarkeit von Bescheiden
Orientierungssatz
Der Rentenversicherungsträger ist bei der Rentenfeststellung an einen bindend gewordenen Bescheid über die Herstellung von Versicherungsunterlagen nach VuVO § 11 Abs 2 selbst dann gebunden, wenn der Rentenversicherungsträger bei der Herstellung von einer unzutreffenden Rechtsauffassung ausgegangen ist (Anschluß an BSG vom 1970-11-25 12 RJ 518/68 = BSGE 32, 110) Der Versicherungsträger kann bindend gewordene Bescheide nach VuVO § 11 Abs 2 nur unter den besonderen Voraussetzungen des RVO § 1744 zurücknehmen (aufheben) (Anschluß an BSG vom 1970-11-25 12 RJ 518/68 = BSGE 32, 110)
Normenkette
VuVO § 11 Abs 2 Fassung: 1960-03-03; RVO § 1744 Fassung: 1953-09-03; SGB 10 § 45 Fassung: 1980-08-18; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 17.07.1979; Aktenzeichen L 16 Ar 358/78) |
SG Würzburg (Entscheidung vom 27.06.1978; Aktenzeichen S 4 Ar 517/77) |
Tatbestand
Der im Jahr 1909 im Gebiet des jetzigen Staates Jugoslawien geborene Kläger war lange Zeit jugoslawischer Staatsangehöriger. Er geriet 1941 in deutsche Kriegsgefangenschaft und lebt seitdem in Deutschland. Zunächst galt er als heimatloser Ausländer. Im Mai 1959 erwarb er die deutsche Staatsangehörigkeit.
Im Jahr 1961 beantragte der Kläger bei der Bundesbahn-Versicherungsanstalt die Wiederherstellung seiner Versicherungsunterlagen. Er gab ua an, er sei vom 2. März 1925 bis zum 10. April 1930 Streckenaufseher bei der jugoslawischen Eisenbahn gewesen und habe vom 16. April 1930 bis zum 16. Oktober 1931 in Jugoslawien Militärdienst geleistet. Die Bundesbahn-Versicherungsanstalt anerkannte mit Bescheid vom 21. August 1963 nach § 11 Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) den ersten Zeitraum als auf fünf Sechstel gekürzte Beitragszeit und den zweiten Zeitraum als Ersatzzeit.
Im Jahr 1974 beantragte der Kläger bei der Beklagten Altersruhegeld. Die Beklagte entsprach mit Bescheid vom 6. Dezember 1974 dem Antrag, berücksichtigte bei der Berechnung aber nicht die anerkannten jugoslawischen Zeiten; insoweit verwies sie den Kläger auf eine "weitere Nachricht". Der Kläger erhob zunächst Klage, nahm diese aber wieder zurück.
Mit Bescheid vom 8. September 1977 lehnte die Beklagte die Berücksichtigung der in Jugoslawien zurückgelegten Zeiten bei dem Altersruhegeld ab.
Mit der Klage an das Sozialgericht (SG) Würzburg hat der Kläger beantragt, die "Versicherungszeiten vom 2. März 1925 bis 16. Oktober 1931 bei der Rente" zu berücksichtigen. Das SG hat mit Urteil vom 27. Juni 1978 den Bescheid der Beklagten vom 8. September 1977 geändert und die Beklagte "verpflichtet", die im Bescheid der Bundesbahn-Versicherungsanstalt vom 21. August 1963 bereits bindend anerkannten Zeiten vom 2. März 1925 bis 10. April 1930 als Beschäftigungszeiten und vom 16. April 1930 bis 16. Oktober 1931 als Ersatzzeiten anzuerkennen und dem Rentenanspruch des Versicherten zugrundezulegen". Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil geändert und die Klage in vollem Umfang als unbegründet abgewiesen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Der Bescheid der Bundesbahn-Versicherungsanstalt sei rechtswidrig. Die Beklagte habe ihn nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts zurücknehmen dürfen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision trägt der Kläger vor: Das Berufungsgericht habe die Bindung der Beklagten durch den Bescheid vom 21. August 1963 nicht beachtet. Er, der Kläger, habe sich auf diesen Bescheid verlassen. Hätte er gewußt, daß die jugoslawischen Zeiten nicht angerechnet werden würden, dann hätte er "seine Alterssicherung von 1963 bis 1974 auf andere Weise ausbauen können". Er beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die
Berufung der Beklagten gegen das Urteil des
Sozialgerichts Würzburg vom 27. Juni 1978
als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers als unbegründet
zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die - zulässige - Revision des Klägers ist begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 8. September 1977 ist, wie im Gegensatz zum Berufungsgericht festzustellen ist, rechtswidrig. Die im Bescheid der Bundesbahn-Versicherungsanstalt vom 21. August 1963 anerkannten Zeiten sind auf das Altersruhegeld des Klägers anzurechnen.
Der Anspruch des Klägers gegen die Beklagte auf Anrechnung der genannten Zeiten gründet sich auf den Bescheid vom 21. August 1963.
Der Versicherungsträger kann bindend gewordene Bescheide nach § 11 Abs 2 VuVO nur unter den besonderen Voraussetzungen des § 1744 Reichsversicherungsordnung (RVO) zurücknehmen (aufheben). Das hat der 12. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 25. November 1970 - 12 RJ 518/68 - (BSGE 32, 110, 112 = SozR Nr 1 zu § 11 VuVO) eindeutig und als Grundlage seiner Entscheidung ausgeführt. Ob er damit von der Tendenz des BSG, die Rücknahme rechtswidriger begünstigender Bescheide nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts zuzulassen (vgl dazu Buss, Die Bestandskraft des Verwaltungsaktes, DOK 1979, 225, 230), abgewichen ist, kann dahinstehen; denn ein Urteil, das die Rücknahme gerade von Bescheiden nach § 11 Abs 2 VuVO zuläßt, ist nicht bekannt.
Die Rücknehmbarkeit von Bescheiden der Versicherungsträger wird durch das insoweit am 1. Januar 1981 in Kraft tretende Sozialgesetzbuch 10 vom 16. August 1980 (BGBl I 1469), insbesondere durch dessen § 45 ohnehin neu geregelt, so daß die hier zu entscheidende Frage sich auch in Zukunft nicht mehr stellen wird.
Im Fall des Klägers liegen die Voraussetzungen für die Berücksichtigung der früher anerkannten Zeiten vor. Der Bescheid der Bundesbahn-Versicherungsanstalt ist bindend (unanfechtbar) geworden. Er bindet auch die Beklagte. Das ergibt sich aus Abs 3 des § 11 VuVO, der zwar erst durch die Verordnung vom 22. Dezember 1965 (BGBl I 2139) mit Wirkung vom 1. Juli 1965 eingeführt worden ist, aber für alle Versicherungsfälle nach dem 30. Juni 1965, dann aber auch für die vor dem 1. Juli 1963 ergangenen Bescheide gilt (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S 702 e, Stand: August 1978). Ein Fall des § 1744 RVO liegt, wie bereits das SG ausgeführt hat, eindeutig nicht vor; auch die Beklagte beruft sich nicht auf diese Vorschrift. Ob der Bescheid vom 21. August 1963 rechtswidrig gewesen ist oder nicht, braucht nicht erörtert zu werden.
Das angefochtene Urteil war aufzuheben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG war als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen