Entscheidungsstichwort (Thema)

Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts. öffentliches Interesse. Vertrauensschutz. Rücknahme von Nichtleistungsbescheiden aus der Zeit vor dem 1.1.1981

 

Orientierungssatz

1. § 45 Abs 2 S 2 und S 3 SGB 10 geben nur ein Regelbeispiel dafür, wann das Vertrauen als schutzwürdig anzusehen ist. Darüber hinaus können auch andere Umstände ein Überwiegen des Vertrauens gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Rücknahme des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes begründen (vgl BSG Urteil vom 14.6.1984 10 RKg 5/83).

2. Zwischen Vertrauensschutz und dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit allen Verwaltungshandelns, nämlich rechtswidrige Verwaltungsakte zu beseitigen, besteht ein Spannungsverhältnis, daß bei Nichtvorliegen der Regeltatbestände des § 45 Abs 2 S 2 und S 3 SGB 10 nur durch Abwägung im Einzelfall unter Beachtung aller Umstände aufzulösen ist.

Wenn sich das öffentliche Interesse in einem finanziellen Interesse erschöpft, dann steht dem ein ebenso hoch einzuschätzendes finanzielles Interesse des Versicherten am Fortbestand des ihn begünstigenden Bescheids gegenüber, so daß sich kein überwiegendes öffentliches Interesse annehmen läßt. Ausschlaggebend muß nach der Ansicht des Senats unter diesen Umständen sein, ob die der Rücknahme des rechtswidrigen begünstigenden Bescheids zugrundeliegenden Tatsachen dem Träger zuzurechnen sind, der den Bescheid erlassen hat (vgl BSG Urteil vom 11.6.1959 11 RV 1188/57 = BSGE 10, 72, 76f).

 

Normenkette

SGB 10 § 45 Abs 2 S 1 Fassung: 1980-08-18; SGB 10 § 45 Abs 2 S 2 Fassung: 1980-08-18; SGB 10 § 45 Abs 2 S 3 Fassung: 1980-08-18; SGB 10 Art 2 § 40 Abs 2 S 3 Fassung: 1980-08-18; SGB 10 § 44 Fassung: 1980-08-18; SGB 10 Art 2 § 40 Abs 2 S 2 Fassung: 1980-08-18; RVO § 1744

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 28.03.1984; Aktenzeichen L 2 J 98/83)

SG Oldenburg (Entscheidung vom 09.02.1983; Aktenzeichen S 8a J 30/81)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Rücknahme eines Verwaltungsaktes.

Der Kläger war zunächst tschechischer Staatsangehöriger und erwarb am 24. Februar 1981 durch Einbürgerung die deutsche Staatsangehörigkeit. Er war in der Zeit von April 1939 bis April 1945 in Deutschland beschäftigt und entrichtete Beiträge zur deutschen Rentenversicherung. Nach Kriegsende kehrte er in die Tschechoslowakei zurück und war dort vom 1. September 1945 bis zum 31. Juli 1971 versicherungspflichtig beschäftigt. Am 4. August 1971 flüchtete er in die Bundesrepublik Deutschland.

Auf Antrag des Klägers stellte die Beklagte mit Bescheid vom 3. Dezember 1976 dessen Versicherungszeiten fest; für die in der Tschechoslowakei ausgeübten Beschäftigungen erkannte sie keine Versicherungszeiten an. Mit Bescheid vom 25. Juni 1980 erteilte sie ihm einen neuen Versicherungsverlauf und erkannte darin auch die Zeit vom 1. September 1945 bis zum 31. Juli 1971 als Beitragszeit nach den Vorschriften des Fremdrentengesetzes (FRG) an; gleichzeitig teilte sie ihm mit, daß sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein Altersruhegeld in Höhe von 1.187,-- DM monatlich ergebe. Zuvor hatte der Kläger seinen Reiseausweis vorgelegt, in dem mit Datum vom 7. November 1972 vermerkt ist, daß er heimatloser Ausländer nach dem Gesetz über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer im Bundesgebiet sei.

In der Folgezeit gelangte die Beklagte zur Erkenntnis, daß der Kläger nicht als heimatloser Ausländer iS der Bestimmungen des FRG anzusehen sei. Nach schriftlicher Ankündigung nahm sie den Bescheid vom 25. Juni 1980 insoweit zurück, als er die in der Tschechoslowakei zurückgelegten Beitragszeiten betraf (Bescheid vom 26. Januar 1981, Widerspruchsbescheid vom 10. September 1981).

Das Sozialgericht (SG) Oldenburg hat die Klage durch Urteil vom 9. Februar 1983 abgewiesen.

Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat das Urteil des SG und die Bescheide der Beklagten vom 26. Januar 1981 und vom 10. September 1981 aufgehoben. Es hat im Urteil vom 28. März 1984 ausgeführt: Obgleich der Kläger kein heimatloser Ausländer iS von § 1 FRG sei, habe die Beklagte den bindend gewordenen Bescheid vom 25. Juni 1980 nicht zurücknehmen dürfen (§ 45 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren, SGB X). Art II § 40 Abs 2 Satz 3 SGB X sei unanwendbar, da auch nach der früheren Vorschrift des § 1744 Reichsversicherungsordnung (RVO) eine Überprüfung des Bescheides vom 25. Juni 1980 ausgeschlossen gewesen wäre. Bei diesem Bescheid handele es sich um einen Nichtleistungsbescheid, der von § 1744 RVO aF nicht erfaßt werde. Eine Rücknahme nach den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts komme nicht in Betracht, da diese nur dann heranzuziehen seien, wenn hinsichtlich der Rücknahme rechtswidrig begünstigender Nichtleistungsbescheide eine Gesetzeslücke vorliege. Dies sei jedoch nicht der Fall. Der Gesetzgeber habe in Art II § 40 Abs 2 SGB X die Aussage getroffen, daß § 45 SGB X nach dem 31. Dezember 1980 auch bei früheren, rechtswidrig begünstigenden Bescheiden Anwendung finden solle, es sei denn, es liege der Ausnahmetatbestand des Satzes 3 vor. Er habe damit für alle denkbaren Fälle eine abschließende Regelung kodifiziert.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision ist die Beklagte der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts entgegengetreten. Ausgenommen von der Anwendung des § 45 SGB X seien nur solche Verwaltungsakte, die bereits bestandskräftig gewesen seien und bei denen auch nach § 1744 RVO aF eine neue Prüfung nicht hätte vorgenommen werden können. § 1744 RVO aF gelte jedoch lediglich für Leistungsbescheide, also nicht für den Anerkennungsbescheid vom 25. Juni 1980. Im Rahmen des § 45 SGB X könne sich der Kläger nicht auf Vertrauensschutz berufen. Insbesondere habe er nicht im Vertrauen auf den Bescheid vom 25. Juni 1980 die Einbürgerung betrieben, da der Antrag auf Einbürgerung bereits am 12. Mai 1980 gestellt worden sei.

Die Beklagte beantragt, unter Aufhebung des Urteils des LSG Niedersachsen vom 28. März 1984 die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er ist der Ansicht, daß § 45 SGB X nicht angewendet werden könne, weil Gesetze nicht rückwirkend belastend wirken dürften. Durch das Wort "auch" in Art II § 40 Abs 2 Satz 2 SGB X sei klargestellt, daß sich die Regelung dieser Vorschrift nicht nur auf den Anwendungsbereich des § 1744 RVO aF erstrecke, sondern schlechthin auf alle fehlerhaften begünstigenden Verwaltungsakte, die vor dem 1. Januar 1981 bindend geworden seien. Auch nach dem bis zum 31. Dezember 1980 gültigen Recht hätte der Bescheid der Beklagten vom 25. Juni 1980 nicht mehr zurückgenommen werden können.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das LSG hat im Ergebnis zutreffend der Klage entsprochen.

Gegenstand des Rechtsstreits ist die Rücknahme eines Bescheides, mit dem die Beklagte zu Gunsten des Klägers eine Versicherungszeit anerkannt hatte. Da dieser Bescheid bindend geworden war und die Beklagte ihre Rücknahme damit begründet hat, daß er ohne rechtlichen Grund ergangen sei, sind die Vorschriften anzuwenden, die die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes regeln. Dieses Rechtsgebiet ist durch die §§ 44 ff SGB X neu geregelt worden, so daß zunächst diese Neuregelung einer Erörterung bedarf. Nach Art II § 40 Abs 1 SGB X idF vom 18. August 1980 traten die maßgeblichen Vorschriften des SGB X am 1. Januar 1981 in Kraft; gem Art II § 40 Abs 2 Satz 1 SGB X sind jedoch die §§ 44 bis 49 SGB X erstmals anzuwenden, wenn nach dem 31. Dezember 1980 ein Verwaltungsakt aufgehoben wird, und zwar nach Satz 2 der Vorschrift auch dann, wenn der aufzuhebende Verwaltungsakt vor dem 1. Januar 1981 erlassen worden ist. Auch der vom Kläger angefochtene Bescheid vom 26. Januar 1981 wird somit von der Neuregelung erfaßt.

Art II § 40 Abs 2 Satz 3 SGB X macht allerdings von diesem Grundsatz eine Ausnahme für Verwaltungsakte in der Sozialversicherung, die bereits bestandskräftig waren und bei denen auch nach § 1744 RVO in der vor dem 1. Januar 1981 geltenden Fassung eine neue Prüfung nicht vorgenommen werden konnte. Ob diese Ausnahmevorschrift im vorliegenden Fall eingreift, kann offenbleiben, da eine Teilrücknahme des Anerkennungsbescheides weder nach dieser Vorschrift noch - wie noch auszuführen sein wird - unter Anwendung von Satz 1 und 2 möglich ist. Unabhängig davon, ob es sich bei dem von der Beklagten teilweise zurückgenommenen Anerkennungsbescheid vom 25. Juni 1980 um einen Leistungsbescheid handelte und ob die Rücknahme eines solchen Anerkennungsbescheides überhaupt von § 1744 RVO aF erfaßt wurde (vgl zum Streitstand Urteil des Bundessozialgerichts -BSG- vom 25. November 1970 - 12 RJ 518/68 -, BSGE 32, 110, 112 = SozR Nr 1 zu § 11 der Versicherungsunterlagen-Verordnung -VuVO- vom 3. März 1960, S A a 2 R; Urteil des BSG vom 21. November 1961 - 3 RK 13/57 -, BSGE 15, 252, 256 = SozR RVO § 173 Nr 2 S A a 6; BSG Urteil vom 1. Juli 1969 - 5 RKn 16/66 -, BSGE 30, 17, 19 = SozR Nr 63 zu § 77 SGG S D a 39; BSG Urteil vom 27. Mai 1970 - 11/7 RLw 19/66 -, BSGE 31, 190, 194 = SozR Nr 3 zu § 27 GAL 1965 vom 14. September 1965 S A a 3 R; BSG Urteil vom 21. September 1977 - 4 RJ 113/76 -, DAngVers 78, 397, 398; BSG Urteil vom 31. Januar 1980 - 11 RA 2/79 -, BSGE 49, 258, 262 = SozR 2200 § 1251 Nr 75 S 198; BSG Urteil vom 27. Februar 1980 - 1 RA 11/79 - SozR 2200 § 1423 Nr 12 S 23; BSG Urteil vom 5. November 1980 - 4 RJ 93/79 -; BSG Urteil vom 24. Juni 1983 - 5b RJ 100/82 -, BSGE 55, 181, 183; BSG Urteil vom 16. Februar 1984 - 1 RA 15/83 -), sind jedenfalls die konkreten tatbestandsmäßigen Voraussetzungen einer Prüfung und Neufeststellung nach § 1744 RVO aF nicht gegeben. Insbesondere könnte sich die Beklagte auch nicht auf § 1744 Abs 1 Nr 6 RVO aF berufen; denn sie hat nachträglich keine Urkunde aufgefunden, aufgrund deren sie die Nichtanerkennung der strittigen Zeiten hätte herbeiführen können. Würde also der Bescheid der Beklagten vom 25. Juni 1980 von § 1744 RVO aF erfaßt, bliebe er somit für die Beteiligten in der Sache bindend (§ 77 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Durch Art II § 40 Abs 2 S 3 SGB X soll den Bescheiden, die früher tatbestandlich unter § 1744 RVO fielen, eine höhere Bestandskraft zukommen als anderen Bescheiden (Urteil des BSG vom 16. Februar 1984 - 1 RA 15/83 -; Dörr, DAngVers 82, 373, 380; Pappai, KV 80, 181, 189; Neumann-Duesberg, WzS 81, 130, 138; Schroeder-Printzen ua, SGB X, Anm 3 zu Art II § 40; Pickel, Komm z SGB X Ziffer 1 zu § 45 S 4).

Aber auch wenn der Anerkennungsbescheid der Beklagten nicht vom früheren § 1744 RVO erfaßt wurde, war die mit Bescheid vom 26. Januar 1981 erfolgte Teilrücknahme rechtswidrig. Sie kann nämlich weder auf Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts noch auf die §§ 44 ff SGB X, insbesondere § 45 SGB X, gestützt werden. Deshalb bedarf es auch keiner Entscheidung, ob sich die Ausnahmeregelung des Art II § 40 Abs 2 Satz 3 SGB X auf andere Fälle als § 1744 RVO aF bezieht, was der Formulierung "bei denen a u c h nach § 1744" entnommen werden könnte. Denn bejahendenfalls käme dann nur eine Rücknahme nach allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts in Frage.

Verbleibt es gemäß Art II § 40 Abs 2 Satz 1 und 2 SGB X bei der Anwendung der §§ 44 bis 49 SGB X, so kommt hier allein § 45 SGB X in Betracht. Auch darauf kann jedoch die Beklagte die Teilrücknahme des Anerkennungsbescheides nicht stützen. Der Bescheid vom 25. Juni 1980, durch den unter anderem die in der Tschechoslowakei zurückgelegten Versicherungszeiten nach den Vorschriften des FRG anerkannt worden waren, war allerdings teilweise rechtswidrig. Der Kläger hatte keinen Anspruch auf Anerkennung von Beitragszeiten iS einer Vormerkung nach § 11 Abs 2 VuVO. Die Voraussetzungen des § 1 FRG waren nicht erfüllt. Nach den bindenden tatbestandlichen Feststellungen des LSG war der Kläger insbesondere kein heimatloser Ausländer iS des Gesetzes über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer im Bundesgebiet vom 25. April 1951 (BGBl I S 269), da die §§ 1 und 2 dieses Gesetzes, wie das LSG zutreffend erkannt hat, nicht eingreifen. Zwar sieht § 1 Abs 2 des Gesetzes über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer eine Ermächtigung der Bundesregierung vor, mit Zustimmung des Bundesrates eine Rechtsverordnung zu erlassen, durch die andere ausländische Flüchtlinge zur Vermeidung unbilliger Härten den in Abs 1 genannten Personen gleichgestellt werden, jedoch hat die Bundesregierung von dieser Ermächtigungsnorm bisher keinen Gebrauch gemacht. Das Bundesministerium des Innern hat lediglich durch Rundschreiben vom 27. März 1953 (vgl BSG Urteil vom 25. Mai 1972 - 11 RA 178/71 -, BSGE 34, 184 ff) andere Personen den heimatlosen Ausländern iS des Gesetzes über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer im Bundesgebiet gleichgestellt, ohne daß dieses Rundschreiben, auch wenn darauf die Eintragung über die Anerkennung als heimatloser Ausländer im Reiseausweis des Klägers beruhen sollte, rentenrechtliche Auswirkungen hätte (BSGE 34, 184, 187 und 188). An diese Eintragung und mögliche Anerkennung als heimatloser Ausländer ist weder die Beklagte noch das Gericht gebunden (BSGE 34, 184, 186).

Die Voraussetzungen des § 45 SGB X für die Teilrücknahme des Bescheides vom 25. Juni 1980, soweit er die in der Tschechoslowakei zurückgelegten Beitragszeiten betraf, waren jedoch nicht erfüllt. Der Kläger hat auf den Bestand des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes vertraut, und sein Vertrauen war unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig (§ 45 Abs 2 Satz 1 SGB X). Auf dieses Vertrauen kann sich der Kläger auch berufen, da die in § 45 Abs 2 Satz 3 Ziffer 1 bis 3 SGB X beschriebenen Tatbestände nicht vorliegen. Zwar greift § 45 Abs 2 Satz 2 nicht ein, wonach das Vertrauen in der Regel dann schutzwürdig ist, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann; jedoch ist diese Vorschrift nur ein Regelbeispiel dafür, wann das Vertrauen als schutzwürdig anzusehen ist. Darüber hinaus können auch andere Umstände ein Überwiegen des Vertrauens gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Rücknahme des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes begründen (BSG-Urteil vom 14. Juni 1984 - 10 RKg 5/83; Schroeder- Printzen ua, SGB X, Anm 3.2, 4). Zwischen Vertrauensschutz und dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit allen Verwaltungshandelns, nämlich rechtswidrige Verwaltungsakte zu beseitigen, besteht ein Spannungsverhältnis, das bei Nichtvorliegen der Regeltatbestände des § 45 Abs 2 Satz 2 und 3 SGB X nur durch Abwägung im Einzelfall unter Beachtung aller Umstände aufzulösen ist. Die Interessenlage vermag im vorliegenden Fall die durchgeführte Teilaufhebung des insoweit rechtswidrigen Bescheids nicht zu rechtfertigen. Wenn sich - wie hier - das öffentliche Interesse in einem finanziellen Interesse erschöpft, dann steht dem ein ebenso hoch einzuschätzendes finanzielles Interesse des Versicherten am Fortbestand des ihn begünstigenden Bescheids gegenüber, so daß sich kein überwiegendes öffentliches Interesse annehmen läßt. Ausschlaggebend muß nach der Ansicht des Senats unter diesen Umständen sein, ob die der Rücknahme des rechtswidrigen begünstigenden Bescheids zugrundeliegenden Tatsachen dem Träger zuzurechnen sind, der den Bescheid erlassen hat (vgl insoweit Schroeder-Printzen ua, SGB X, Anm 3.2 zu § 45; Pickel, Komm z SGB X, Anm 3a zu § 45; BSG Urteil vom 11. Juni 1959 - 11 RV 1188/57 -, BSGE 10, 72, 76f). Hier fällt die Fehlerhaftigkeit des Anerkennungsbescheids in den Verantwortungsbereich der Beklagten.

Es ist nicht ersichtlich, daß der Kläger in irgendeiner ihm vorwerfbaren Weise an dem Zustandekommen des Vormerkungsbescheides mitgewirkt hat; jedenfalls ergibt sich hierzu nichts aus der Rentenakte, auf die das LSG in seinem Urteil Bezug genommen hat. Demgegenüber hätte der Beklagten das Urteil des BSG vom 25. Mai 1972 (11 RA 178/71, BSGE 34, 184ff) bei Erlaß des Vormerkungsbescheides bekannt sein können. Sie hätte überprüfen können und müssen, ob die Eintragung im Reiseausweis des Klägers über die Anerkennung als heimatloser Ausländer richtig war, weil Anerkennung als heimatloser Ausländer den Rentenversicherungsträger nicht bindet. Dies gilt um so mehr, als die Beklagte nach den Feststellungen des LSG den Vormerkungsbescheid erst auf eine Vorsprache des Klägers hin unter Ersetzung des früheren ablehnenden Bescheides, und zwar nach einer mehr als zweijährigen Prüfung erlassen, ihm aber schon kurze Zeit später, ohne daß ersichtlich neue Tatsachen bekannt geworden sind, wieder aufgehoben hat. Bei dieser Sachlage tritt im Ergebnis das öffentliche Interesse an der Rücknahme des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes hinter den Vertrauensschutz des Klägers zurück, zumal das Altersruhegeld, verbliebe es bei der Rücknahme, auf einen Minimalbetrag herabsinken würde.

Das Ergebnis entspricht auch den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts, da bei deren Anwendung ebenso abzuwägen wäre zwischen dem Vertrauensschutz des Klägers und dem öffentlichen Interesse an der Rücknahme und somit dieselben Kriterien zum Tragen kämen wie bei § 45 SGB X (vgl hierzu § 48 VwVerfG).

Der angefochtene Aufhebungsbescheid vom 26. Januar 1981 kann nach alledem unter keinen der in Betracht kommenden verwaltungsverfahrensrechtlichen Gesichtspunkten Bestand haben. Dies führt zur Zurückweisung der Revision der Beklagten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656066

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