Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Statthaftigkeit der Berufung. Ausschluss gem § 148 Nr 3 SGG. Ausnahmefall. Beurteilung der Schwerbehinderteneigenschaft gem § 29 Abs 2 BVG
Orientierungssatz
Die Schwerbeschädigteneigenschaft im Sinne des SGG § 148 Nr 3 ist nicht nach dem Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter (Schwerbeschädigtengesetz) vom 16.6.1953 (BGBl 1, 389), sondern nach BVG § 29 Abs 2 zu beurteilen.
Normenkette
SGG § 148 Nr. 3 Fassung: 1953-09-03; BVG § 29 Abs. 2 Fassung: 1950-12-20; SchwbG Fassung: 1953-06-16
Verfahrensgang
LSG Berlin (Urteil vom 20.05.1955) |
SG Berlin (Urteil vom 30.07.1954) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 20. Mai 1955 aufgehoben; die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Auf den vom Kläger unter dem 10. August 1950 gestellten Antrag auf Gewährung von Beschädigtenversorgung erkannte das Versorgungsamt (VersorgA.) II Berlin mit Bescheid vom 10. Oktober 1951
1. Bewegungseinschränkung im linken Hüftgelenk nach Oberschenkelhalsbruch,
2. mäßige Vertaubungsinnenohrschwerhörigkeit links im Sinne der Entstehung,
3. Narbenbildung am linken Fuß nach Schleimbeutelentzündung (Operation),
4. Verlust von 13 Zähnen,
als Schädigungsfolgen im Sinne des Gesetzes über die Versorgung von Kriegs- und Militärdienstbeschädigten sowie ihren Hinterbliebenen (KVG) und des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) beim Kläger an und bewilligte ihm vom 1. Juli 1950 ab eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 40 v. H. Die Anerkennung der vom Kläger weiter geltend gemachten arthrotischen Veränderungen an den Kniegelenken lehnte das VersorgA. ab.
Den Einspruch des Klägers gegen diesen Bescheid wies das Landesversorgungsamt (LVersorgA.) Berlin mit Bescheid vom 10. März 1953 zurück, weil es sich bei den arthrotischen Veränderungen der Kniegelenke um rein degenerative Verbrauchsschäden handele, für die Versorgung nicht gewährt werden könne.
Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG.) Berlin mit Urteil vom 30. Juli 1954 die Bescheide vom 10. Oktober 1951 und 10. März 1953 abgeändert und neben den bereits anerkannten Schädigungsfolgen auch die arthrotischen Veränderungen im linken Kniegelenk des Klägers - im Sinne einer abgegrenzten Verschlimmerung - als Schädigungsfolge anerkannt; es hat den Beklagten zur Gewährung einer Rente nach einer MdE. um 50 v. H. vom 1. Juli 1950 ab verurteilt.
Der Beklagte hat gegen das Urteil des SG. Berufung eingelegt. Er hat dabei die vom SG. ausgesprochene Anerkennung der beim Kläger bestehenden arthrotischen Veränderungen im linken Kniegelenk nicht angegriffen, sondern hat sich lediglich gegen die Festsetzung der MdE. von 50 v.H. gewandt. Er hat geltend gemacht, daß die MdE. beim Kläger unter Berücksichtigung aller festgestellten Schädigungsfolgen mit höchstens 40 v.H. zu bemessen sei.
Mit Urteil vom 20. Mai 1955 hat das Landessozialgericht (LSG.) Berlin die Berufung als unzulässig verworfen. Nach § 148 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) seien in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung (KOV.) Urteile mit der Berufung nicht anfechtbar, wenn sie den Grad der MdE. beträfen. Dieser Grundsatz werde zwar dann durchbrochen, wenn vom Grad der MdE. die Schwerbeschädigteneigenschaft abhänge, das aber sei vorliegend nicht der Fall. Denn unabhängig von den Feststellungen der Versorgungsbehörde sei der Kläger bereits von dem dafür zuständigen Sozialamt als Schwerbeschädigter nach dem Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter (Schwerbeschädigtengesetz) vom 16. Juni 1953 anerkannt worden. Die Schwerbeschädigteneigenschaft des Klägers stehe somit nicht im Streit, ebensowenig wie das Urteil des SG. sie betreffe; die Schwerbeschädigteneigenschaft im Sinne des § 148 Nr. 3 SGG sei nicht nach § 29 Abs. 2 BVG, sondern vielmehr nach dem Schwerbeschädigtengesetz zu beurteilen. Deshalb sei die Berufung des Beklagten unzulässig. Das LSG. hat die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen.
Gegen dieses Urteil hat der Beklagte Revision eingelegt. Er rügt neben der Verletzung der §§ 136 Abs. 1 Nr. 5, 150 Nr. 2 SGG in der Hauptsache die Verletzung des § 148 Nr. 3 SGG. Das LSG. habe die Berufung zu Unrecht als unzulässig verworfen; seine Auslegung des § 148 Nr. 3 SGG gehe fehl, denn die Schwerbeschädigteneigenschaft im Sinne dieser Vorschrift sei unabhängig von Feststellungen nach dem Schwerbeschädigtengesetz ausschließlich nach den Vorschriften des BVG zu beurteilen. Das Urteil des SG. Berlin vom 30. Juli 1954 betreffe aber einen Grad der MdE., von dem die Schwerbeschädigteneigenschaft des Klägers nach dem BVG (§ 29 Abs. 2 BVG) abhänge.
Der Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils des LSG. Berlin der Berufung gegen das Urteil des SG. Berlin vom 30. Juli 1954 stattzugeben.
Der Kläger hat seinen in der Revisionserwiderungsschrift vom 11. Oktober 1955 - unter Berufung auf die nach seiner Ansicht zutreffenden Gründe des angefochtenen Urteils - gestellten Antrag, die Revision als unbegründet zurückzuweisen, mit Schriftsatz vom 15. November 1957 zurückgenommen; im Hinblick auf die Entscheidungen des 11. Senats des Bundessozialgerichts (BSG.) vom 7. November 1957 - 11/9 RV 1012/55 und 11/9 RV 1036/55 - beantragt er nur noch,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. Berlin zurückzuverweisen.
Beide Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des BSG. durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden. Ihre Statthaftigkeit ergibt sich aus der vom LSG. nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG ausgesprochenen Zulassung, so daß es einer Prüfung der Rügen des Beklagten, die ebenfalls lediglich die Statthaftigkeit begründen sollen (Verletzung der §§ 136 Abs. 1 Nr. 5, 150 Nr. 2 SGG), nicht bedurfte.
Die Revision ist auch begründet.
Die Berufung des Beklagten richtete sich gegen das Urteil des SG., soweit mit ihm dem Kläger eine Rente nach einer MdE. um 50 v.H. zugesprochen worden war, während der Beklagte bei Berücksichtigung aller anerkannten Schädigungsfolgen eine Rente nach einer MdE. um 40 v.H. für ausreichend und angemessen hielt. Diese Berufung war nach § 143 SGG statthaft, ein Berufungsausschließungsgrund im Sinne des § 148 Nr. 3 SGG lag entgegen der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts nicht vor. Nach § 148 Nr. 3 SGG können in Angelegenheiten der KOV. Urteile mit der Berufung nicht angefochten werden, wenn sie den Grad der MdE. betreffen, es sei denn, daß die Schwerbeschädigteneigenschaft davon abhängt. Die Auslegung dieser Vorschrift durch das LSG. für den vorliegenden Fall geht fehl. Es hat rechtsirrig angenommen, daß die Berufung des Beklagten deshalb unzulässig sei, weil der Ausnahmefall des § 148 Nr. 3 SGG nicht vorliege; denn der Kläger besitze bereits die Anerkennung des Sozialamts als Schwerbeschädigter nach dem Schwerbeschädigtengesetz. Hierzu hat der Elfte Senat des BSG. entschieden, daß die Schwerbeschädigteneigenschaft im Sinne des § 148 Nr. 3 SGG nicht, wie vom LSG. angenommen, nach dem Schwerbeschädigtengesetz, sondern allein nach § 29 Abs. 2 BVG zu beurteilen ist (vgl. BSG. 11. Senat, Urteile vom 7.11.1957 - Az.: 11/9 RV 1012/55 und 11/9 RV 1036/55). Von diesen Entscheidungen abzuweichen hatte der erkennende Senat keinen Anlaß. Denn wie der Elfte Senat in den angeführten Urteilen näher dargelegt hat, ergibt sich die Richtigkeit dieser Auffassung unbedenklich nicht nur aus der Systematik der Vorschriften des SGG über den Ausschluß der Berufung, sondern auch aus dem Sinn und Zweck des § 148 SGG, aus dem Zusammenhang dieser Vorschrift mit den Vorschriften des BVG und aus dem Vergleich des § 148 SGG mit den Vorschriften des Schwerbeschädigtengesetzes.
Im vorliegenden Falle hängt deshalb die Schwerbeschädigteneigenschaft des Klägers vom Grad der MdE. ab, so daß die vom Beklagten gegen das Urteil des SG. Berlin vom 30. Juli 1954 eingelegte Berufung zulässig war. Das LSG. hat die Berufung zu Unrecht als unzulässig verworfen; es hätte, statt ein Prozeßurteil zu erlassen, in der Sache selbst entscheiden müssen. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben. Dabei war die Sache nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, weil dessen tatsächliche Feststellungen für eine Entscheidung durch das BSG. selbst (vgl. § 170 Abs. 2 Satz 1 SGG) nicht ausreichen.
Die Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung ergeht mit Einverständnis der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen