Verfahrensgang
LSG Berlin (Urteil vom 30.09.1955) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 30. September 1955 wird aufgehoben; die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
I
Der Kläger bezog vom 1. September 1928 an eine Beschädigtenrente auf Grund des Reichsversorgungsgesetzes (RVG) nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 30 v.H. wegen Schwerhörigkeit auf dem rechten Ohr. Vom 1. August 1937 an wurde der Grad der MdE. unter Berücksichtigung einer mit dem Versorgungsleiden unmittelbar zusammenhängenden Gesichtsnervenschwäche auf insgesamt 40 v.H. festgesetzt. Am 4. Februar 1943 beantragte der Kläger wegen Gesichtsnervenlähmung Rente für eine MdE. um mehr als 40 v.H.. Auf Grund einer versorgungsärztlichen Nachuntersuchung vom 7. April 1943 lehnte das Versorgungsamt (VersorgA.) II Berlin durch Bescheid vom 17. April 1943 diesen Antrag ab, weil eine wesentliche Verschlimmerung nicht nachzuweisen sei; gleichzeitig änderte es die Bezeichnung der Leiden in „Narben in beiden Trommelfellen, rechtsseitige hochgradige kombinierte Schwerhörigkeit bei ausreichender Hörfähigkeit des linken Ohres, rechtsseitige Gesichtsnervenlähmung und leichte Störung des Bogengangapparates”. Durch vorläufigen Bescheid vom 28. Mai 1951 und durch Bescheid vom 2. August 1951 – Erstanerkennung – wurde auf Grund des § 1 des Berliner Gesetzes über die Versorgung von Kriegs- und Militärdienstbeschädigten sowie ihren Hinterbliebenen vom 24. Juli 1950 (KVG) und des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) für die gleichen Leiden vom 1. Juli 1950 an Rente nach einer MdE. um 40 v.H. weitergewährt. Gegen den Bescheid vom 2. August 1951 legte der Kläger Einspruch ein, da die gesamte MdE. auf Grund einer von der Versicherungsanstalt Berlin (VAB) veranlaßten amtsärztlichen Untersuchung 75 v.H. betrage, wovon nach dem Bescheid der VAB – Hauptabteilung Unfallversicherung – vom 2. Juli 1949 nur 20 v.H. auf die Folgen eines Arbeitsunfalles entfielen. Im übrigen habe sich sein Kriegsleiden bedeutend verschlimmert. Nach einer fachärztlichen, auf einen Röntgenbefund gestützten Untersuchung vom 28. Juli 1952 lehnte das Landesversorgungsamt (LVersorgA.) Berlin durch Bescheid vom 27. Januar 1953 den Einspruch des Klägers ab, weil in den für die Festsetzung der Rente maßgebenden Verhältnissen keine wesentliche Änderung eingetreten sei; die MdE. durch die anerkannten Versorgungsleiden betrage wie bisher 40 v.H. Der Grad der MdE., der von der VAB angenommen worden sei, könne nicht übernommen werden; die VAB habe die Folgen des Arbeitsunfalles mitbewertet, nach den versorgungsgesetzen dürfe aber nur die MdE. durch eine Kriegsbeschädigung entschädigt werden
Am 27. Februar 1953 beantragte der Kläger beim Versorgungsgericht (VersorgG.) Berlin, die Bescheide des VersorgA. II Berlin vom 2. August 1951 und LVersorgA. vom 27. Januar 1953 aufzuheben und festzustellen, daß die MdE. mit 60 v.H. zu bemessen sei. Diese Klage wies das Sozialgericht (SG.) Berlin durch Urteil vom 4. Juni 1954 ab.
Am 13. August 1954 legte der Kläger Berufung ein und beantragte, das Urteil des SG. vom 4. Juni 1954 sowie die Entscheidungen des VersorgA. und des LVersorgA. Berlin vom 2. August 1951 und vom 27. Januar 1953 aufzuheben und ihm Rente nach einer MdE. um mindestens 60 v.H. zuzusprechen: er erhebe keine Einwendungen wegen der anerkannten Schädigungsfolgen, halte aber die hierdurch bedingte MdE. für zu niedrig bewertet; er sei als Schwerbeschädigter anerkannt (den Schwerbeschädigtenausweis legte er vor), es sei nicht beabsichtigt, ihm diese Eigenschaft abzuerkennen.
Durch Urteil vom 30. September 1955 verwarf das Landessozialgericht (LSG.) die Berufung als unzulässig: streitig sei nur der Grad der MdE., aber nicht die Schwerbeschädigteneigenschaft, die dem Kläger schon zuerkannt sei; aus § 148 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ergebe sich, daß eine Nachprüfung in der Berufungsinstanz nur dann möglich sei, wenn es sich darum handele, ob der Kläger auf Grund des Schwerbeschädigtengesetzes als Schwerbeschädigter zu gelten habe; die Schwerbeschädigteneigenschaft nach diesem Gesetz stehe hier aber außer Zweifel, sie beruhe nicht nur auf den anerkannten Versorgungsleiden, sondern auch auf den Folgen des Arbeitsunfalles vom Jahre 1948; danach bestehe nur Streit über den Grad der Erwerbsfähigkeit, ohne daß die Schwerbeschädigteneigenschaft davon abhinge. Die Revision wurde in dem Urteil des LSG. zugelassen.
Gegen das am 1. November 1955 zugestellte Urteil des LSG. Berlin legte der Kläger am 25. November 1955 Revision ein und begründete sie gleichzeitig. Er beantragte, das Urteil des LSG. Berlin vom 30. September 1955 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. Berlin zurückzuverweisen: § 148 Nr. 3 SGG, 2. Halbsatz, sei stets anzuwenden, wenn die Schwerbeschädigteneigenschaft im Sinne des § 29 Abs. 2 BVG von dem Grad der MdE. abhänge.
Der Beklagte stellte keinen Antrag.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet.
1) Der Kläger hat gegen das Urteil des SG. Berufung eingelegt, weil es seine Klage auf Zahlung einer Rente nach einer MdE. um 60 v.H. statt um 40 v.H. abgewiesen hat. Diese Berufung ist nach § 143 SGG statthaft gewesen; sie war nicht nach § 148 Nr. 3 SGG ausgeschlossen. Die „Schwerbeschädigteneigenschaft” im Sinne dieser Vorschrift ist nicht, wie das LSG. angenommen hat, nach dem Schwerbeschädigtengesetz vom 16. Juni 1953 (BGBl. I S. 389), sondern allein nach dem BVG zu beurteilen (ebenso Bayer. LSG. vom 30. Mai 1956, Amtsbl. des Bayer. Staatsministeriums für Arbeit und Soziale Fürsorge, 1957 S. 20 B; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung (Stand 15. März 1957), Bd. I S. 250 m; Miesbach-Ankenbrank, 3. Auflage, § 148 Anm. 5; Peters-Sautter-Wolff, § 148 Anm. 4; Mellwitz § 148 Anm. 13; Horn in „Die Kriegsopferversorgung”, 1956 S. 37; a.A. LSG. Nordrhein-Westfalen vom 5. Mai 1955 und LSG. Berlin vom 20. Mai 1955, Breith. 1955 S. 112. und 1118). Dies ergibt sich aus der Systematik der Vorschriften des SGG über den Ausschluß der Berufung, dem Zweck des § 148 SGG und dem Zusammenhang dieser Vorschrift mit den Vorschriften des BVG sowie aus dem Vergleich des § 148 SGG mit den Vorschriften des Gesetzes über die Beschäftigung Schwerbeschädigter.
- Während die Gründe, die die Berufung nach § 144 SGG ausschließen, für alle Angelegenheiten gelten, für die die Sozialgerichte zuständig sind, schließen die §§ 145 bis 148 SGG die Berufung jeweils nur für bestimmte Fälle der in diesen Vorschriften besonders bezeichneten Angelegenheiten aus: § 145 SGG regelt die besonderen Ausschließungsgründe für „Angelegenheiten der Unfallversicherung”, § 146 SGG für „Angelegenheiten der Rentenversicherungen”, § 147 SGG für „Angelegenheiten der Arbeitslosenversicherung” und § 148 SGG für „Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung”. Schon dies läßt darauf schließen, daß die Rechtsbegriffe in den §§ 145 bis 148 SGG nach dem materiellen Recht der einzelnen Sachgebiete auszulegen sind. Läßt § 148 Nr. 3, 2. Halbsatz SGG „in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung” die Berufung gegen Urteile, die den Grad der MdE. betreffen, zu, soweit die Schwerbeschädigteneigenschaft davon abhängt, so ist diese Eigenschaft nach dem Recht der Kriegsopferversorgung zu beurteilen. Für dieses Recht ist aber der Begriff „Schwerbeschädigter” in § 29 Abs. 2 BVG bestimmt, hier ist der Beschädigte „mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 50 vom Hundert oder mehr” ausdrücklich als Schwerbeschädigter bezeichnet.
- Das SGG will „in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung” die Berufung gegen Urteile, die den Grad der MdE. betreffen, in keinem Falle ausschließen, in dem „davon” die Schwerbeschädigteneigenschaft abhängt. Für den Grad der MdE. kommen jedoch in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung nur Schädigungen im Sinne des Versorgungsrechts in Betracht. Diese Beziehung übersieht das LSG. Nach seiner Auffassung wäre die Berufung gegen Urteile der Sozialgerichte, die den Grad der MdE. betreffen, stets ausgeschlossen, wenn der Kläger Schwerbeschädigter im Sinne des Schwerbeschädigtengesetzes ist, also auch dann, wenn er nicht infolge von Schädigungen im Sinne des Versorgungsrechts um wenigstens 50 v.H. in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert oder wenn er Schwerbeschädigten nur gleichgestellt ist. Bei dieser Auslegung würde der Streit über den Grad der MdE. von wenigstens 50 v.H. der Berufung entzogen, obwohl davon im Versorgungsrecht u.U. besondere Ansprüche abhängen (Heilbehandlung nach § 10 Abs. 5 BVG, Ausgleichsrente nach den §§ 32 ff. BVG und Möglichkeit einer Kapitalabfindung nach den §§ 72 ff. BVG). Dadurch würde der Ausschluß der Berufung nach § 148 Nr. 3 SGG in einer Weise ausgedehnt, die der Verknüpfung des SGG mit dem Versorgungsrecht widerspricht.
Das Schwerbeschädigtengesetz dient der Sicherung und Erhaltung von Arbeitsplätzen für Schwerbeschädigte; es regelt insbesondere die „Beschäftigungspflicht der Arbeitgeber” (2. Abschnitt) und den „Kündigungsschutz” (4. Abschnitt). Zum „geschützten Personenkreis” (10 Abschnitt) gehören „Schwerbeschädigte” (§ 1 des Schwerbeschädigtengesetzes) und „Gleichgestellte” (§ 2). „Schwerbeschädigte” sind nach § 1 Personen, die infolge einer gesundheitlichen Schädigung im Sinne der §§ 1, 5 Abs. 2 Buchst. a und 82 BVG oder infolge anderer im einzelnen näher bezeichneter Schädigungen um wenigstens 50 v.H. in ihrer Erwerbsfähigkeit gemindert sind, ihnen werden auf Antrag Personen gleichgestellt, deren Erwerbsfähigkeit infolge einer Schädigung im Sinne des § 1 Abs. 1 des Schwerbeschädigtengesetzes um weniger als 50 v.H., aber mindestens um 50 v.H. gemindert ist (§ 2). Demnach enthält zwar auch das Schwerbeschädigtengesetz eine Bestimmung des Begriffs „Schwerbeschädigter”; diese Begriffsbestimmung dient jedoch nur dazu, den nach diesem Gesetz geschützten Personenkreis abzugrenzen; sie darf aber nicht auf das Versorgungsrecht ausgedehnt werden, das in § 29 Abs. 2 BVG seine eigene Bestimmung des Begriffs „Schwerbeschädigte” enthält.
Dieser Auffassung steht nicht entgegen, daß nach § 1 Abs. 1 der Ersten Verordnung (DVO.) zur Durchführung des Schwerbeschädigtengesetzes vom 18. März 1954 (BGBl. I S. 40, 41) bei Personen im Sinne des § 1 Abs. 1 Buchst. a bis c für die Anerkennung der Schwerbeschädigteneigenschaft im Sinne von § 1 Abs. 1 des Schwerbeschädigtengesetzes eine „unanfechtbar gewordene Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidung” genügt, sofern darin auf Grund des Versorgungsrechts „Rente nach einer MdE. um wenigstens 50 v.H. zuerkannt ist.” Diese Regelung hat ihren Grund darin, daß Schwerbeschädigte im Sinne des BVG ohne nochmalige Prüfung auch als Schwerbeschädigte im Sinne des Schwerbeschädigtengesetzes behandelt werden sollen; aus ihr kann aber nicht etwa umgekehrt gefolgert werden, daß die Schwerbeschädigteneigenschaft nach dem Schwerbeschädigtengesetz auch für das BVG gilt.
2) Das LSG hat demnach die Berufung zu Unrecht als unzulässig erachtet und die Entscheidung in der Sache selbst unterlassen. Das Urteil des LSG. ist daher aufzuheben; nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen; die „tatsächlichen Feststellungen” (vgl. § 163 SGG), die das Urteil des LSG. in einem kurzen Absatz auf Blatt 2 unter „Tatbestand und Entscheidungsgründe” enthält, reichen für eine Entscheidung durch das BSG. selbst (vgl. § 170 Abs. 2 Satz 1 SGG) nicht aus.
Über die Kosten hat das LSG. in seinem Schlußurteil zu entscheiden.
Fundstellen