Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 17.08.1988) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 17. August 1988 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.
Der 1929 geborene Kläger war nach Bestehen der Landwirtschaftsprüfung von 1950 bis 1961 im elterlichen Betrieb nicht versicherungspflichtig als Landwirtschaftsgehilfe und von 1961 bis 1970 als selbständiger Landwirt tätig. Von 1970 bis 1973 war er als Betonarbeiter und von 1973 bis 1985 als Maschinenführer im Garten- und Landschaftsbau versicherungspflichtig beschäftigt. Als Maschinenführer wurde er nach der Lohngruppe 8.2 des Bundesrahmentarifvertrages für gewerbliche Arbeitnehmer im Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau entlohnt. Ab Januar 1985 war er arbeitsunfähig. Seit Juli 1986 war er arbeitslos und bezog Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung.
Im Juni 1985 beantragte der Kläger die Gewährung von Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 16. Juli 1985 ab.
Auf die dagegen erhobene Klage verurteilte das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 13. Oktober 1987 die Beklagte, dem Kläger ab 1. Juli 1985 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. In seiner Begründung ging es davon aus, daß der Kläger als Facharbeiter zu beurteilen sei. Im übrigen wies es die Klage ab.
Auf die dagegen von der Beklagten eingelegte Berufung änderte das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 17. August 1988 die angefochtene Entscheidung des SG ab und wies die Klage in vollem Umfang ab. Zur Begründung führte das Gericht im wesentlichen aus, daß der Kläger bezüglich seines bisher ausgeübten Berufes lediglich der Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten im oberen Bereich zuzuordnen sei. Er könne daher auf ungelernte Tätigkeiten nicht ganz geringen qualitativen Wertes verwiesen werden. In Betracht hierfür komme eine Verweisung auf die Tätigkeit eines Angestellten im Büro-, Registratur- oder sonstigen Innendienst, der mit einfacheren Arbeiten (zB Postabfertigung, Führung von Brieftagebüchern, Inhaltsverzeichnissen, Karteien, Kontrollisten usw) befaßt sei und nach Vergütungsgruppe IXb des Bundesangestelltentarifvertrages (BAT) entlohnt werde. Ferner sei der Kläger auch verweisbar auf die Tätigkeit eines Pförtners im öffentlichen Dienst, die nach Lohngruppe IV des Manteltarifvertrages für die Arbeiter der Länder (MTL II) entlohnt werde.
Der Kläger hat gegen dieses Urteil die vom 5. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) zugelassene Revision eingelegt und die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 17. August 1988 aufzuheben und unter Bestätigung des Urteils des Sozialgerichts Duisburg vom 13. Oktober 1987 die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 16. Juli 1985 zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Juli 1985 Rente wegen Berufsunfähigkeit nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren,
hilfsweise,
die Sache an das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die kraft Zulassung durch den 5. Senat des BSG statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und damit zulässige Revision des Klägers ist im Sinn der Zurückverweisung an das LSG begründet. Das Berufungsgericht wird seine Ermittlungen zu den Tätigkeiten, auf die der Kläger zumutbar verwiesen werden kann, noch einmal aufzunehmen haben. Zu Recht greift die Revision die hierauf bezogenen Feststellungen des Berufungsgerichts mit der Verfahrensrüge eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs iS der §§ 62, 128 Abs 2 SGG an.
Der in Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) garantierte und in §§ 62, 128 Abs 2 SGG konkretisierte Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs besagt, daß die Beteiligten zum jeweiligen Verfahren herangezogen werden und Gelegenheit haben müssen, sich vor Erlaß der Entscheidung zum Prozeßstoff zu äußern und gehört zu werden (Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, Komm 3. Aufl 1987 RdNr 2 zu § 62 mwN). Der Anspruch ist ua dann verletzt, wenn für eine vorhandene Gerichtskunde oder eine gerichtliche Tatsachenwürdigung bisher keine Hinweise vorlagen (BSG SozR 1500 § 62 Nrn 11 und 20). Zwar hat das Berufungsgericht dem Erfordernis, daß bei der Verweisung von Angelernten im oberen Bereich mindestens eine in Betracht kommende Verweisungstätigkeit konkret zu bezeichnen ist (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 143 S 473), Rechnung getragen. Es hat dies aber erst in den Entscheidungsgründen getan und damit verhindert, daß die Beteiligten sich rechtzeitig iS des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs hierzu äußern konnten. Den Gerichtsakten läßt sich kein genügend substantiierter Hinweis darauf entnehmen, daß die beiden im Urteil für den Kläger angeführten Verweisungstätigkeiten bereits vorher zwischen den Beteiligten und dem Gericht im Gespräch waren.
Wenn nicht zuvor im Gesamtverlauf des Gerichtsverfahrens bereits geschehen, wäre letzte prozessuale Gelegenheit hierzu die mündliche Verhandlung gewesen, für die das Gesetz in Fortführung der in § 106 Abs 1 SGG normierten Pflicht des Vorsitzenden zu umgreifender Sachvorbereitung durch § 112 Abs 2 Satz 2 SGG ausdrücklich die Erörterung des „Sach- und Streitverhältnisses” mit den Beteiligten verlangt. Daß diese Erörterung, um dem gesetzlichen Ziel zu genügen, je nach bisherigem Prozeßverlauf und -inhalt in ihrem Gegenstand enger oder weiter ist, versteht sich von selbst und bedarf keiner näheren Erläuterung. Stets muß freilich gewährleistet sein, daß die tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte, die für das aufgrund der mündlichen Verhandlung ergehende Urteil (§ 124 Abs 1 SGG) erheblich sind, vollständig erfaßt und den Beteiligten zur Stellungnahme unterbreitet sind.
Bei Zweifeln, ob dieser Anforderung im Einzelfall genügt ist, insbesondere auch neuen Aspekten ausreichend Rechnung getragen wurde, läßt sich die Antwort regelmäßig nur aus den aktenkundig gemachten Prozeßvorgängen finden. Dabei kommt besonderes Gewicht der Niederschrift über die mündliche Verhandlung gemäß § 122 SGG zu, in die gemäß § 122 SGG iV mit § 160 Abs 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) „die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung” – und das können auch Hinweise nach § 112 Abs 2 Satz 2 SGG sein (zu den sachlich parallelen Hinweisen nach §§ 139, 278 Abs 3 ZPO so Baumbach/ Lauterbach/Hartmann, Komm z ZPO 47. Aufl 1989, Anm 3 zu § 160) – aufzunehmen sind. Der in Sitzungsniederschriften nicht selten anzutreffende – oft schon im Protokollformular mit vorgedruckte – Satz: „Das Sach- und Streitverhältnis wurde mit ihnen (scil.: den Beteiligten) erörtert”, ist allerdings für sich allein nicht geeignet, verläßlichen Nachweis für eine im bezeichneten Sinn ausreichende Erörterung zu liefern. Als bloß formelhafte Wiederholung des Gesetzeswortlauts läßt er nicht klar genug Inhalt und Umfang der Erörterung erkennen, sondern gibt Raum sowohl für eine weite wie auch enge Interpretation. Infolge dieser Unschärfe kann er nicht Grundlage für eine prozessual so weitreichende Entscheidung sein, ob das Gericht seiner Unterrichtungs- und Erörterungspflicht genügt hat oder nicht, dh den Grundsatz des rechtlichen Gehörs beachtet oder verletzt hat.
Zwar hat das Berufungsgericht zur gesundheitlichen Leistungsfähigkeit des Klägers prozeßrechtlich nicht zu beanstandende Feststellungen getroffen, indem es die vom SG eingeholten medizinischen Gutachten zur Grundlage nahm und in demselben Sinn wie das erstinstanzliche Gericht beweismäßig würdigte. Damit waren aber nicht zugleich auch schon die beiden beruflichen Tätigkeiten, auf die das LSG den Kläger in seinem Urteil verwies, rechtzeitig in der oben bezeichneten Bedeutung in den Rechtsstreit eingeführt; ebensowenig stand fest, daß der Kläger diese Tätigkeiten überhaupt mit der ihm verbliebenen Erwerbsfähigkeit ausüben konnte. In der letzten Beziehung enthielten die Gutachten keine Stellungnahme und konnten dies zwangsläufig auch nicht, da die konkrete Benennung ja erst in den Urteilsgründen erfolgte und demgemäß bei Erstellung der Gutachten keine einschlägigen berufskundlichen Ermittlungen vorlagen, an denen sich die medizinischen Sachverständigen hätten orientieren können.
Ob das Berufungsgericht ein entsprechendes Leistungsvermögen des Klägers einschließlich der erforderlichen Umstellungs-und Einarbeitungsfähigkeit für offenkundig hielt oder nicht, ist aus der Begründung seines Urteils nicht zu entnehmen. Im Gegenteil scheint es so, als ob es dazu gar keine Überlegungen angestellt hat. Gleiches ist auch hinsichtlich des Problems des Schonarbeitsplatzes, das mit der Verweisung des Klägers auf die Tätigkeit eines Pförtners im öffentlichen Dienst aufgeworfen ist, zu sagen.
Zwar ist, wie der 5. Senat des BSG in seinem Urteil vom 8. September 1982 – 5b RJ 48/82; SozR 2200 § 1246 Nr 98 – zu Recht ausgesprochen hat, durch die Unterlassung der Feststellung, welche Anforderungen konkrete Verweisungstätigkeiten an die gesundheitliche Leistungsfähigkeit und das berufliche Können stellen, nicht die materiell-rechtliche Regelung des § 1246 Abs 2 Satz 1 RVO verletzt. Wie in dem Urteil aber zutreffend weiter ausgeführt wird, kann ein Gericht zu der Feststellung, ein Kläger sei zur Verrichtung einer bestimmten Verweisungstätigkeit in der Lage, denkgesetzlich nur dann kommen, wenn es vorher die Anforderungen dieser Verweisungstätigkeit an das gesundheitliche und berufliche Leistungsvermögen festgestellt und mit dem dem Kläger verbliebenen Leistungsvermögen verglichen hat. Die Verweisung des Klägers auf die im angefochtenen Urteil genannten beiden Verweisungstätigkeiten ist daher mangels solcher vorausgehenden Ermittlungen und Beurteilungen durch das Berufungsgericht auch unter diesem Blickwinkel der vorgeschalteten Subsumtionsstufe überraschend und ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs.
Auf dem bezeichneten Verfahrensverstoß beruht auch das angefochtene Urteil. Denn es ist nicht auszuschließen, daß der Kläger bei rechtzeitiger Anhörung mit dem weiteren Sachvortrag, den er nach seiner Darstellung dann dem Gericht unterbreitet hätte, insofern eine Veränderung des Sach- und Streitstandes herbeigeführt hätte, als das Gericht dann möglicherweise weitere Ermittlungen angestellt, diese den Beteiligten zur Kenntnis und Stellungnahme und den Gesundheitszustand und die berufliche Leistungsfähigkeit des Klägers sowie die in Betracht zu ziehenden Verweisungstätigkeiten insgesamt anders beurteilt hätte.
Da nach alledem die vom Berufungsgericht bisher getroffenen Feststellungen noch nicht ausreichen, um den Rechtsstreit abschließend entscheiden zu können, ist das angefochtene Urteil mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen