Entscheidungsstichwort (Thema)
Politisch Internierter. Krebs
Leitsatz (redaktionell)
Tritt während der Haft eines politisch Internierten ein sich später als Krebs herausstellendes Leiden auf, so hat das Gericht zu prüfen, ob und inwieweit die besonderen Lebensverhältnisse in der Lagerhaft die Entwicklung des Leidens beeinflußt haben, ob das Nichterkennen der Beschwerden als erste Krebssymptome auf unzureichenden Untersuchungs- und Behandlungsmöglichkeiten des Lagerarztes beruht hat, ob das Leiden bei einer früheren Operation oder Heilbehandlung anders verlaufen wäre, wenn auch nur in dem Sinn, daß seine Fortentwicklung wesentlich verzögert worden wäre.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1950-12-20, § 5 Abs. 1 Buchst. d Fassung: 1953-08-07, § 1 Abs. 3 Fassung: 1950-12-20; SGG § 103 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 23. Oktober 1957 wird aufgehoben; die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Johann V. Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater der Kläger zu 2) bis 8), leistete im ersten und im zweiten Weltkrieg Wehrdienst, zuletzt als landwirtschaftlicher Sonderführer; im Mai 1945 geriet er in englische Kriegsgefangenschaft, im September 1945 wurde er entlassen; vom 27. Mai 1947 bis 16. April 1948 war er wegen früherer nationalsozialistischer Betätigung im Internierungs- und Arbeitslager Langwasser bei Nürnberg; vom 5. Februar bis 15. April 1948 war er dort in stationärer Behandlung im Lagerrevier; nach der Bescheinigung des Lagerarztes Dr. W. vom 17. Juni 1948 gab er damals an, er habe im ersten Weltkrieg eine Ruhrerkrankung gehabt, seit November 1947 habe er Neigung zu Durchfällen, Leibschneiden und Blutabgang; Dr. W führte dazu aus, "der lange gehegte Verdacht, daß hinter den Krankheitserscheinungen eine Geschwulst des Darmes stecke", habe durch rektale Untersuchung und Röntgenbefund nicht bestätigt werden können, ein Anhalt für einen Tumor bestehe nicht, es liege eine hartnäckige Sigmoiditis (Entzündung der Umbiegung des Dickdarms) vor; im Oktober 1948 wurde dann im Krankenhaus Ochsenfurth ein nicht mehr operables Dickdarmcarcinom festgestellt; hieran starb Johann V. im April 1949.
Die Kläger beantragten im Mai 1949, ihnen Hinterbliebenenversorgung nach dem Bayerischen Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (KBLG) zu gewähren: Johann V. habe sich bei seinem Wehrdienst in Rußland ein Darmleiden zugezogen, in der Gefangenschaft habe sich dieses Leiden verschlimmert, an dem Leiden sei er gestorben. Das Versorgungsamt Nürnberg lehnte mit Bescheid vom 8. Januar 1952 das Versorgungsbegehren ab: Johann V. sei an einem Mastdarmkrebs gestorben; dieses Leiden habe in keinem Zusammenhang mit schädigenden Einwirkungen des Krieges oder der Gefangenschaft gestanden. Das Oberversicherungsamt (OVA.) Nürnberg wies mit Urteil vom 8. Mai 1953 die Berufung der Kläger (nach altem Recht) zurück. Der Rekurs der Kläger an das Bayer. Landesversicherungsamt ging als Berufung (nach dem Sozialgerichtsgesetz - SGG -) auf das Bayer. Landessozialgericht (LSG.) über. Das LSG. wies mit Urteil vom 23. Oktober 1957 die Berufung zurück: Für eine traumatische Entstehung des Krebsleidens bestehe kein Anhalt; die Darmerkrankung, die Johann V. während des Krieges gehabt habe, sei nur geringfügig gewesen; ihr könne keine ernsthafte Bedeutung für die Entstehung einer bösartigen Geschwulst zugemessen werden; Johann V. habe bei der stationären Behandlung im Lager Langwasser auch selbst angegeben, daß seine Darmbeschwerden erst ab November 1947 aufgetreten seien; die Darmerkrankung sei von dem Lagerarzt als " Sigmoiditis " diagnostiziert worden, in Wirklichkeit sei diese Erkrankung allerdings der Anfang der Geschwulsterkrankung gewesen; diese habe sich sehr rasch entwickelt und zu einem völligen Darmverschluß geführt; ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Geschwulstbildung und schädigenden Einwirkungen des Wehrdienstes oder der Gefangenschaft sei, wie auch der ärztliche Sachverständige Prof. Dr. K. von der Chirurgischen Universitätsklinik in Heidelberg dargelegt habe, nicht wahrscheinlich. Das LSG. ließ die Revision nicht zu. Das Urteil des LSG. wurde den Klägerin am 24. Januar 1958 zugestellt. Die Kläger legten am 21. Februar 1958 Revision ein und beantragten,
das Urteil des Bayer. LSG. vom 23. Oktober 1957 aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Sie begründeten die Revision - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist - am 21. April 1958: Das LSG. habe seine Entscheidung im wesentlichen auf das Gutachten der Chirurgischen Universitätsklinik in Heidelberg gestützt, es habe jedoch erkennen müssen, daß dieses Gutachten "offensichtlich mit schweren Mängeln behaftet sei"; in diesem Gutachten seien die Art der Darmerkrankung, an der Johann V. während des Krieges gelitten habe, und ihre Bedeutung für die Entstehung des Krebsleidens verkannt worden, das LSG. habe ein weiteres ärztliches Gutachten einholen müssen, zumal über die Ursache des Krebsleidens verschiedene Theorien vertreten werden; das LSG. habe auch nicht erörtert, ob die politische Haft, in der sich Johann V. befunden habe, für die Entstehung oder den Verlauf seines Leidens von Bedeutung gewesen sei; diese Lagerhaft habe sich jedenfalls als "Todesbeschleunigungsfaktor" ausgewirkt, da sie zu einer rapiden Entwicklung des zunächst noch operablen Leidens geführt habe; das LSG. habe den Sachverhalt nicht genügend aufgeklärt, es habe auch die Grenzen seines Rechts, die Beweise frei zu würdigen, überschritten, es habe somit gegen die Verfahrensvorschriften der §§ 103, 128 SGG verstoßen.
Der Beklagte beantragte,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
II
Die form- und fristgerecht eingelegte Revision ist zulässig; die Kläger rügen zu Recht, das Verfahren des LSG. leide an einem wesentlichen Mängel ( § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Das LSG. hat den Anspruch der Kläger auf Hinterbliebenenversorgung verneint, weil der Tod des Johann V. weder auf schädigende Einwirkungen des militärischen Dienstes noch auf unmittelbare Kriegseinwirkungen zurückzuführen sei (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 7 KBLG); es hat festgestellt, es sei nicht wahrscheinlich, daß zwischen dem Krebsleiden, an dem Johann V. 1949 gestorben ist, und dem Wehrdienst oder der Kriegsgefangenschaft ein ursächlicher Zusammenhang bestehe; es hat diese Feststellungen im wesentlichen auf das Gutachten der Chirurgischen Universitätsklinik in Heidelberg gestützt. Diese Feststellungen reichen aber nicht aus, um den Versorgungsanspruch verneinen zu können. Mit Recht rügen die Kläger, das LSG. habe nicht erörtert, welche Bedeutung die politische Lagerhaft des Johann V. für die Entstehung und die Entwicklung des Krebsleidens gehabt habe. Das LSG. hat insoweit zwar festgestellt, daß Johann V. vom 27. Mai 1947 bis 16. April 1948 wegen seiner früheren nationalsozialistischen Betätigung im Internierten- und Arbeitslager Nürnberg-Langwasser gewesen sei, und daß er dort ab Februar 1948 (erstmalig) wegen einer Darmerkrankung im Lagerrevier behandelt worden sei, es hat aber diese Tatsachen nicht ausgewertet; es hat nicht ermittelt, ob und inwieweit die besonderen Lebensverhältnisse in der Lagerhaft - etwa die körperlichen und seelischen Belastungen, Art und Schwere des Arbeitseinsatzes, unzureichende sanitäre Verhältnisse und ärztliche Betreuung - das Krebsleiden beeinflußt haben. Das LSG. hat aber die tatsächlichen Umstände, die für den Versorgungsanspruch von Bedeutung gewesen sind, in vollem Umfang aufklären müssen. Nach Auffassung des LSG. und der ärztlichen Sachverständigen der Chirurgischen Universitätsklinik in Heidelberg sind die Darmbeschwerden des Johann V. die sich im Lager gezeigt haben und deretwegen er im Lagerrevier behandelt worden ist, die ersten Erscheinungen des Krebsleidens gewesen; auch der Lagerarzt Dr. W. hat dies zunächst vermutet, er ist erst später zu der anderen - unrichtigen - Diagnose gekommen, es handle sich um eine hartnäckige Sigmoiditis . Bei dieser Sachlage hätte sich dem LSG. auch die Frage aufdrängen müssen, ob etwa die irrtümliche Diagnose, d. h. das Nichterkennen der Beschwerden als erste Krebssymptome, auf unzureichenden Untersuchungs- und Behandlungsmöglichkeiten des Lagerarztes beruht hat, ob unter normalen Verhältnissen die Erkrankungserscheinungen schon damals als Symptome eines Krebsleidens hätten erkannt werden können und ob das Leiden bei einer früheren Operation oder einer frühzeitigeren Heilbehandlung wahrscheinlich anders verlaufen wäre, wenn auch nur in dem Sinne, daß seine Fortentwicklung wesentlich verzögert worden wäre (vgl. auch "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen; zusammengestellt von der ärztl. Abt. des BMA", 1958, S. 17).
Das LSG. hat zu dieser Frage nicht Stellung genommen; auch in dem Gutachten der Chirurgischen Universitätsklinik ist nicht erörtert, ob und inwieweit die Lagerhaft das Krebsleiden beeinflußt hat, in diesem Gutachten ist nur zu der Frage Stellung genommen worden, ob das Krebsleiden auf die Darmerkrankung des Johann V. aus dem Jahre 194 2 zurückzuführen sei, dies ist verneint worden. Das LSG. hat danach die tatsächlichen Umstände, die für die rechtliche Beurteilung des Versorgungsanspruchs der Kläger wesentlich gewesen sind, nicht vollständig aufgeklärt. Das LSG. hat nicht zum Ausdruck gebracht, daß es die Lagerhaft für versorgungsrechtlich unerheblich gehalten habe; seinen Ausführungen ist nicht zu entnehmen, daß es - zu Unrecht - von dem sachlich-rechtlichen Standpunkt ausgegangen ist, die Internierung eines Deutschen wegen seiner früheren nationalsozialistischen Betätigung auf Anordnung der Besatzungsmacht sei auch dann keine unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des Art. 1 Abs. 1 Bayer. KBLG in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Nr. 5 der 1. DVO zum Bayer. KBLG (§ 1 Abs. 2 in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Suchst. d BVG), wenn er nicht ein "Hauptschuldiger" oder "Belasteter" im Sinne des Befreiungsgesetzes gewesen sei (vgl. hierzu BSG. 4 S. 234); das LSG. hat vielmehr - wie seine Ausführungen erkennen lassen - aus medizinischen Erwägungen, also in tatsächlicher Hinsicht einen Einfluß der Lagerhaft auf die Entstehung und den Verlauf des Krebsleidens verneinen wollen; die Revisionsrügen, die die Kläger in Bezug auf diese Feststellungen erhoben haben, treffen zu. Das LSG. ist insoweit der Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären und das Gesamtergebnis des Verfahrens zu würdigen, nicht vollständig nachgekommen; es hat damit die Verfahrensvorschriften der §§ 103 und 128 SGG verletzt. Die Revision ist daher nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft.
Die Revision ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG. zu einem anderen Urteil gekommen wäre, wenn es die verfahrensrechtlichen Vorschriften richtig angewandt hätte.
Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben. Der Senat kann nicht selbst entscheiden, da noch weitere tatsächliche Feststellungen erforderlich sind. Die Sache ist deshalb zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen. Das LSG. wird dabei auch darüber zu befinden haben, ob die Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen die Internierung des Johann V. wegen seiner früheren nationalsozialistischen Betätigung versorgungsrechtlich geschützt ist (vgl. BSG. 4 S. 234 (238)).
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen