Leitsatz (amtlich)
Eine Versicherung hat vor der Leistung von Kriegsdienst, Sanitätsdienst oder ähnlichen Diensten jedenfalls dann bestanden, wenn für den der Einberufung unmittelbar vorhergehenden Beitragszeitraum Invalidenversicherungsbeiträge mindestens in dem gesetzlich vorgeschriebenen Umfang entrichtet worden sind.
Ist dies der Fall, so ist die Kriegs-, sanitäts- oder ähnliche Dienstzeit rentensteigernd zu berücksichtigen, wenn die Anwartschaft aus den Beiträgen, die für den der Einberufung unmittelbar vorhergehenden Beitragszeitraum entrichtet worden sind, bei Eintritt des Versicherungsfalles nach dem zu diesem Zeitpunkt geltenden Recht erhalten ist oder als erhalten gilt
Dies ist auch dann rechtens, wenn die Anwartschaft aus diesen Beiträgen zwischenzeitlich erloschen war und lediglich auf Grund des SVAG § 4 Abs,2 als erhalten gilt.
Leitsatz (redaktionell)
Die Sprungrevision nach SGG § 161 Abs 1 kann zwar nur dann rechtswirksam beim BSG eingelegt werden, wenn das Urteil des SG nach SGG § 150 anfechtbar ist; sie ist aber nach dem Grundsatz des Vertrauensschutzes als statthaft anzusehen, wenn das SG in der irrigen Annahme, die Berufung sei nicht nach SGG § 143 statthaft, sie nach SGG § 150 nr 1 zugelassen und der Kläger im Vertrauen hierauf nicht Berufung, sondern Sprungrevision angemeldet hat.
Normenkette
RVAusbauG § 119 Fassung: 1937-12-21; SVAnpG § 4 Abs. 2 Fassung: 1949-06-17; SGG § 161 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 143 Fassung: 1953-09-03, § 150 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts in Nürnberg vom 1. August 1955 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die Beklagte gewährt dem am ... 1889 geborenen Kläger auf Grund des Bescheids vom 5. November 1954 Invalidenrente wegen vorliegender Invalidität. Sie hat es abgelehnt, die im ersten Weltkrieg geleistete Kriegsdienstzeit rentensteigernd zu berücksichtigen, weil die Voraussetzungen des § 119 Abs.1 des Gesetzes über den Ausbau der Rentenversicherung vom 21. Dezember 1937 (RGBl. I S. 1393) nicht erfüllt seien. Die zur Zeit der Einberufung des Klägers erhaltene Anwartschaft sei später erloschen und gelte erst auf Grund des § 4 Abs.2 SVAG wieder als erhalten. Dies könne aber nicht zur Folge haben, daß damit auch das Versicherungsverhältnis im Sinne des § 119 Abs. 1 a.a.O., rückbezogen auf den Zeitpunkt der Einberufung zum Kriegsdienst, wieder als hergestellt angesehen werden könne. Hiergegen wendet sich der Kläger.
Er war vom 1. November 1905 bis zu seiner Einberufung zum Kriegsdienst am 4. August 1914 - abgesehen von der Zeit seines aktiven Militärdienstes vom 3. November 1909 bis zum 28. Juni 1912 - pflichtversichert. Die Beiträge sind für die Zeit bis zur Einberufung in dem gesetzlich vorgeschriebenen Umfang entrichtet worden. Vom 4. August 1914 bis zum 23. November 1918 hat er Kriegsdienst geleistet. Vom 1. Dezember 1918 an hat er wieder Beiträge entrichtet, allerdings von 1926 bis 1933 nicht in dem für die Erhaltung der Anwartschaft gesetzlich vorgeschriebenen Umfang. Von 1933 bis 1948 hat er keine Beiträge geleistet. Für das Jahr 1954 hat er nur sechs Wochenbeiträge entrichtet.
Auf die erhobene Klage hat das Sozialgericht in Nürnberg durch Urteil vom 1. August 1955 die Beklagte unter Abänderung des angefochtenen Bescheides verurteilt, dem Kläger Steigerungsbeträge für die Kriegsdienstzeit zu gewähren und die Berufung nach § 150 Nr.1 SGG zugelassen, da es sich um die Entscheidung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung handele.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte - unter Beifügung einer privatschriftlichen Einverständniserklärung des Klägers - am 31. August 1955 Sprungrevision eingelegt und diese am 6. September 1955 begründet.
Sie ist der Auffassung, daß die Kriegsdienstzeit nicht rentensteigernd zu berücksichtigen sei, weil der Kläger in der dem Kriegsdienst vorhergehenden Zeit nicht als wirksam versichert angesehen werden könne, da die Anwartschaft aus diesen Beiträgen sowohl nach § 1264 als auch nach § 1265 RVO erloschen sei und § 4 Abs.2 SVAG nicht die Wirkung habe, daß die Zeit vor der Einberufung jetzt als wiederaufgelebte Versicherungszeit angesehen werden könne.
Sie beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 1. August 1955 aufzuheben und ihren Bescheid vom 5. November 1954 wiederherzustellen.
Der Kläger hat keine Anträge gestellt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist auch statthaft. Nach § 161 Abs.1 SGG können Urteile der Sozialgerichte nur dann mit der Sprungrevision angefochten werden, wenn sie nach § 150 SGG mit der Berufung anfechtbar sind. Da es sich um einen Streit über die Höhe der Rente handelt, für die das Sozialgerichtsgesetz keine Berufungsausschließungsvorschrift enthält, war die Berufung - im Gegensatz zu der Ansicht des Sozialgerichts - nach § 143 SGG statthaft, so daß es einer Zulassung der Berufung nach § 150 Abs.1 SGG nicht bedurfte. Die Sprungrevision wäre daher an sich unstatthaft und müßte als unzulässig verworfen werden. Damit würde aber die Beklagte nicht nur des eingelegten Rechtsmittels der Sprungrevision verlustig gehen, sondern würde auch keine Berufung mehr einlegen können, da die Einlegung der Sprungrevision als Verzicht auf das Rechtsmittel der Berufung gilt (§ 161 Abs.2 a.a.O.), und zwar auch dann, wenn die Sprungrevision unstatthaft ist (vgl. auch RGZ 146, 210). Das Urteil könnte dann nicht mehr überprüft werden. Dieses Ergebnis wäre unbillig, da die Beklagte nur durch das - berechtigterweise - in die Zulassungserklärung des Sozialgerichts gesetzte Vertrauen die unzulässige Sprungrevision eingelegt hat. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes verlangt nach Ansicht des erkennenden Senats, daß die Sprungrevision in derartigen Fällen als statthaft angesehen wird. Er schließt sich damit im Ergebnis dem Urteil des 3. Senats des Bundessozialgerichts vom 21. Dezember 1955 - 3 RK 21/55 -, der über einen gleichgelagerten Fall zu entscheiden hatte, insoweit an. Die Erklärung des Klägers, daß er mit der Einlegung der Sprungrevision einverstanden sei, ist zwar nur privatschriftlich abgegeben worden. Wie aber bereits der 3. Senat durch Urteil vom 28. März 1956 - 3 RK 17/55 -, dem sich der erkennende Senat insoweit ebenfalls anschließt, entschieden hat, ist diese Form der Einverständniserklärung als ausreichend anzusehen.
Der Revision mußte jedoch der Erfolg versagt bleiben. Mit Recht hat die Beklagte dem Kläger die Invalidenrente gewährt, da dieser invalide ist, die Wartezeit erfüllt hat und die Anwartschaft nach § 4 Abs.2 SVAG erhalten ist. Zu Unrecht hat sie jedoch die Kriegsdienstzeiten des ersten Weltkrieges nicht rentensteigernd berücksichtigt.
Nach § 119 Abs.1 des Gesetzes über den Ausbau der Rentenversicherung vom 21. Dezember 1937 (RGBl. I S. 1393) werden in der Invalidenversicherung für Zeiten, in denen der Versicherte während des ersten Weltkrieges Kriegs-, Sanitäts- oder ähnliche Dienste geleistet hat, Steigerungsbeträge gewährt, wenn die Versicherung vorher bestanden hat. Es ist hiernach entscheidend, ob ein Versicherungsverhältnis zur Zeit der Einberufung nach dem damals gültigen Recht bestand. Dies war hier der Fall. Der Kläger hat für die Zeit von seinem Eintritt in die Versicherung im Jahre 1905 bis zu seiner Einberufung, unterbrochen nur durch die aktive Militärdienstzeit von 1909 bis 1912, Beiträge im gesetzlich vorgeschriebenen Umfang entrichtet. Wenn aber für den der Einberufung unmittelbar vorhergehenden Zeitraum mindestens die gesetzlich vorgeschriebenen Beiträge zur Invalidenversicherung entrichtet worden sind, hat das Versicherungsverhältnis im Sinne des § 119 Abs.1 a.a.O. bestanden. Ob dies auch dann angenommen werden kann, wenn für den der Einberufung unmittelbar vorhergehenden Beitragszeitraum keine Beiträge entrichtet worden sind, die Anwartschaft aus früher geleisteten Beiträgen aber im Zeitpunkt der Einberufung nach dem zu diesem Zeitpunkt geltenden Recht noch erhalten war bzw. dies zwar nicht der Fall war, die Anwartschaft aber nach dem zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalles geltenden Recht erhalten ist oder als erhalten gilt, bedarf hier keiner Entscheidung.
Allerdings ist hier die Anwartschaft aus den vor der Einberufung entrichteten Beiträgen nach dem ersten Weltkrieg erloschen, weil der Kläger nach 1926 nicht bzw. nicht in ausreichendem Umfang Beiträge entrichtet hat. Dies würde der rentensteigernden Berücksichtigung der Kriegsdienstzeit, falls auf Grund eines späteren neuen Versicherungsverhältnisses überhaupt eine Rentenzahlung in Frage käme, entgegenstehen; denn es gehört zum Wesen der Ersatzzeit, daß sie den rechtswirksamen Bestand eines Versicherungsverhältnisses voraussetzt. Ersatzzeiten können ihrem Wesen nach niemals ein Versicherungsverhältnis einleiten, sondern es nur fortsetzen, können also nie vor dem Beginn oder am Anfang eines Versicherungsverhältnisses liegen (so auch RVA. E.Nr.5523 vom 11.3.1943, AN. 1943 S.II 184 ff. und im anderen Zusammenhang: RVA. E.Nr.5495 vom 15.10.1942, AN. 1942 S.573). Die erloschene Anwartschaft aus den vor der Einberufung entrichteten Beiträgen gilt jedoch auf Grund von § 4 Abs.2 SVAG wieder als erhalten. Diese Beiträge sind daher auch zu Recht von der Beklagten rentensteigernd berücksichtigt worden. Da die Anwartschaft dieser Beiträge nunmehr wieder erhalten ist, sind aber auch die Einwände gegen die rentensteigernde Berücksichtigung der Kriegsdienstzeit entfallen, da diese Zeit nun wieder an eine Versicherungszeit anschließt. Es kann der Beklagten nicht gefolgt werden, wenn sie der Erhaltung der Anwartschaft nach § 4 Abs.2 SVAG insoweit nur eine eingeschränkte Bedeutung zumessen will. Aus dem Wortlaut dieser Vorschrift kann hierfür ebensowenig etwas entnommen werden wie aus ihrem Zweck.
Da die Kriegsdienstzeit an eine Versicherungszeit anschließt, auch ihre sonstigen besonderen Voraussetzungen erfüllt sind, muß sie grundsätzlich die gleiche rentensteigernde Wirkung haben wie die Beiträge, die der Versicherte - voraussichtlich - entrichtet haben würde, wenn er nicht zum Kriegsdienst eingezogen worden wäre. Da die Anwartschaft aus diesen Beiträgen nach § 4 Abs.2 SVAG erhalten wäre, muß daher auch die Ersatzzeit in gleicher Weise rentensteigernd berücksichtigt werden.
Das Sozialgericht hat daher zu Recht entschieden, daß die Kriegsdienstzeit rentensteigernd berücksichtigt werden muß.
Die Revision mußte, da sie somit unbegründet ist, zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen