Entscheidungsstichwort (Thema)
Waisenrente während der Berufsausbildung
Leitsatz (amtlich)
Zu den zustehenden Ausbildungsbezügen iS des § 1267 Abs 2 RVO gehören auch Dienstbezüge, die einem Beamten von seinem Dienstherrn vorschußweise im Vorgriff auf eine bevorstehende Besoldungserhöhung gewährt werden, selbst wenn dies unter dem Vorbehalt der Rückforderung geschieht.
Orientierungssatz
1. Für die Zeit der Berufsausbildung ist keine Waisenrente zu zahlen, wenn der Waise aus dem Ausbildungsverhältnis Bruttobezüge von wenigstens 1000 DM monatlich zur Verfügung stehen.
2. Keine Gewährung von Waisenrente, wenn die Waise als Inspektoranwärter mehr als 1000,- DM monatlich verdient.
Normenkette
RVO § 1267 Abs 2 Fassung: 1977-06-27
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um den Anspruch des Klägers auf Weitergewährung der Waisenrente vom 1. Juli 1978 bis zum 30. April 1979.
Der im Jahre 1955 geborene Kläger bezog von der Beklagten Halbwaisenrente über das 18. Lebensjahr hinaus, weil er seit April 1974 in einem Ausbildungsverhältnis als Inspektoranwärter stand. Im Juni 1978 bezog er Anwärterbezüge in Höhe von 964,08 DM nebst einem Verheiratetenzuschlag und einer vermögenswirksamen Leistung des Arbeitgebers. Diese Bezüge erhöhten sich durch das 7. Besoldungserhöhungsgesetz vom 20. März 1979 (BGBl I, 357) auf 1.OO7,34 DM. Ab 1. Juli 1978 hatte der Kläger gegenüber seinem Dienstherrn einen Anspruch auf Vorauszahlung der Bezüge in dieser Höhe unter dem Vorbehalt der Rückforderung für den Fall, daß die gesetzliche Besoldungserhöhung nicht oder nicht in der vorgesehenen Höhe erfolgen sollte. Auf diese Vorauszahlung hat der Kläger ausdrücklich verzichtet.
Die Beklagte lehnte die Weitergewährung der Waisenrente während des streitigen Zeitraumes ab mit der Begründung, aufgrund des Anspruches auf Vorauszahlung lägen die Bezüge des Klägers über 1.000 DM monatlich; der Verzicht auf die Vorauszahlung sei rechtsmißbräuchlich (Bescheid vom 6. Oktober 1978).
Das Sozialgericht (SG) hat der vom Versicherten dagegen erhobenen Klage stattgegeben (Urteil vom 15. April 1981), die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 16. September 1981). Zur Begründung führt das LSG im wesentlichen aus, der Anspruch des Klägers auf Weitergewährung der Waisenrente sei nicht nach § 1267 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ausgeschlossen, weil es sich bei den Vorauszahlungen nicht um "zustehende" Beträge im Sinne des Gesetzes gehandelt habe. Wegen des Rückforderungsvorbehaltes hätte der Kläger nicht die Möglichkeit gehabt, diese Beträge tatsächlich für die Bestreitung des Lebensunterhaltes zu verwenden. Es führe zu einer nicht tragbaren Rechtsunsicherheit, wenn erst nach Monaten feststünde, ob der Waisenrentenanspruch auch tatsächlich entfallen sei.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision trägt die Beklagte vor, der Kläger habe einen Rechtsanspruch auf die Gewährung der Vorauszahlung auf die Gehaltserhöhung gegen seinen Dienstherrn gehabt. Der Vorbehalt der Rückforderung sei in diesem Zusammenhang unbeachtlich, weil dem Kläger dann rückwirkend ein Anspruch auf Waisenrente zugestanden hätte. Damit habe der Kläger die Gehaltsvorauszahlungen für seinen Lebensunterhalt verwenden können. Bei vorausschauender Betrachtungsweise sei wegen der zu erwartenden Neuregelung der Besoldung von einer Überschreitung der Entgeltsgrenze auszugehen.
Die Beklagte beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen. Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Weitergewährung der Halbwaisenrente nach § 1267 Abs 1 Satz 2 RVO, weil ihm während des streitigen Zeitraumes aus seinem Ausbildungsverhältnis Bruttobezüge von mehr als 1.000,-- DM monatlich zustanden (§ 1267 Abs 2 RVO). Dem steht nicht entgegen, daß diese Einkommensgrenze nur durch Gehaltsvorauszahlungen überschritten worden ist, die unter dem ausdrücklichen Vorbehalt der Rückforderung gewährt wurden.
Der Gesetzestext selbst trifft keine Aussage darüber, ob das Tatbestandsmerkmal "zustehen" nur bei solchen Gehaltsansprüchen erfüllt ist, die endgültig und nicht vorschußweise unter dem Vorbehalt der Rückforderung geleistet werden. Die Gesetzesmaterialien ermöglichen keine Klärung dieser Frage. Nach dem Bericht des zuständigen Bundestagsausschusses für Arbeit und Sozialordnung (BT-Drucks 8/337 S 88 Art 2 Nr 4) sollte es darauf ankommen, ob die Waise Bruttobezüge von wenigstens 1.000,-- DM monatlich erhält. Dies deutet darauf hin, daß es dem Gesetzgeber auf die Verfügungsmöglichkeit der Waise über das Ausbildungseinkommen ankam.
Die Vorschrift des § 1267 Abs 2 RVO verfolgt erkennbar den Zweck, eine in Ausbildung stehende Waise dann vom Rentenbezug auszuschließen, wenn ihr aus dem Ausbildungsverhältnis finanzielle Mittel in einer Höhe zufließen, die einen durch die Waisenrente zu deckenden Unterhaltsbedarf ausschließt. In solchen Fällen würde die Waisenrente ihren sich aus der Unterhaltsersatzfunktion ergebenden Zweck verfehlen (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 29. September 1980 - 4 RJ 27/79 - SozR 2200 § 1267 Nr 22 S 56).
Die dem Kläger zustehende Ausbildungsvergütung war eine beamtenmäßige Besoldung, die sich nach dem Bundesbesoldungsgesetz richtete. Die Beamtenbesoldung ist ihrem Alimentationscharakter entsprechend regelmäßig alljährlich angehoben worden, um in Relation zu dem Einkommen der anderen Einkommensgruppen zu bleiben. Diese Besoldungsänderungen erfolgten durch Gesetz. Aufgrund der langen Dauer des Gesetzgebungsverfahrens sind die Erhöhungsgesetze regelmäßig in jedem Jahr erst Monate nach dem Zeitpunkt verkündet worden, der als Beginn der Besoldungserhöhung festgelegt worden ist. Unter Beachtung dieser Tatsache haben die öffentlichen Arbeitgeber den Beamten vom Zeitpunkt der Erhöhung an Vorauszahlungen auf die geplante, sich noch im Gesetzgebungsverfahren befindliche Besoldungserhöhung gewährt. Zweck dieser Vorauszahlungen war es, den Beamten bereits vor dem formalen Inkrafttreten der Erhöhungsgesetze den Zugriff auf die erhöhten Bezüge zu ermöglichen. Aus diesem Sacherhalt folgt, daß den Beamten die erhöhten Bezüge bereits vom Beginn der Vorauszahlungen an für ihre Lebenshaltung tatsächlich zur Verfügung standen. Auf diese Tatsache muß aber bei der Auslegung der Vorschrift des § 1267 Abs 2 RVO abgestellt werden. Entscheidend ist, daß die Waise die ihr zur Verfügung gestellte Ausbildungsvergütung zu ihrem Unterhalt verwenden kann. Dies hat das LSG zu Unrecht mit der Begründung verneint, wegen des Rückforderungsvorbehaltes sei der Kläger hierzu nicht in der Lage gewesen.
Der Dienstherr des Klägers hat diesem wie jedem anderen Beamten im Vorgriff auf eine erwartete gesetzliche Neuregelung des Besoldungsrechts höhere Bezüge als laufende Gehaltsvorauszahlung angeboten. Von diesem Angebot konnte der Kläger wie jeder andere Beamte Gebrauch machen. Bei diesem Angebot hat der Dienstherr ein Ermessen nicht etwa in dem Sinne ausgeübt, daß er sich den jederzeitigen Widerruf vorbehalten hat. Vielmehr hat der Dienstherr den Beamten einen Rechtsanspruch auf die höhere Gehaltsvorauszahlung eingeräumt. Sie standen lediglich unter der auflösenden Bedingung, daß die erwartete gesetzliche Neuregelung der Beamtenbezüge keine oder eine geringere Besoldungserhöhung vorgesehen hätte. In diesem Fall hätte der Dienstherr aufgrund seines ausdrücklichen Vorbehaltes einen Rückforderungsanspruch gegenüber dem Kläger erlangt.
Indessen brauchte dieser Rückforderungsanspruch den Kläger nicht zu veranlassen, von einer Verwendung der ihm von seinem Dienstherrn zur Verfügung gestellten Mittel abzusehen. Hätten sich durch das 7. Bundesbesoldungserhöhungsgesetz vom 20. März 1979 (BGBl I, 357) für den Kläger Bezüge unterhalb der Entgeltsgrenze des § 1267 Abs 2 RVO ergeben, dann wäre rückwirkend für den streitigen Zeitraum ein Anspruch auf Weitergewährung der Waisenrente nach § 1267 Abs 1 Satz 2 RVO entstanden.
Der Verzicht des Klägers auf die Gehaltsvorauszahlung ist für seinen Rentenanspruch ohne Bedeutung. Es kommt allein darauf an, ob der Kläger die Möglichkeit hatte, über den gesamten Betrag zu verfügen. Dies war hier der Fall. Wenn der Kläger sich durch eigenes Handeln der Möglichkeit begab, den ganzen ihm zur Verfügung stehenden (= ihm zustehenden) Betrag zu vereinnahmen, so vermag er sich auf dieses Verhalten nicht zu berufen (Grundsatz des venire contra factum proprium).
Nach alldem waren auf die Revision der Beklagten die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen