Leitsatz (redaktionell)
1. Der bloße Zeitablauf allein kann den Rechtsverlust durch Verwirkung nicht herbeiführen, vielmehr müssen weitere Umstände hinzutreten, die die späte Geltendmachung mit Treu und Glauben als nicht vereinbar erscheinen lassen (vergleiche BSG 1958-05-20 2 RU 285/56 = BSGE 7, 201 und BSG 1961-12-20 2 RU 136/60 = BSGE 16, 83 und BSG 1962-02-21 7 RAr 53/61 = BSGE 16, 210). Die andere Seite muß aus der Untätigkeit geschlossen haben, der Berechtigte werde von seinem Recht keinen Gebrauch mehr machen. Dabei genügt es allerdings nicht, wenn die Versorgungsbehörde die Rente lediglich zu einem späteren Zeitpunkt entzieht, als es nach der Sachlage möglich gewesen wäre. Denn es ist erforderlich, daß dem Rechtspartner, der sich im Vertrauen auf die unterbliebene Geltendmachung des Rechts entsprechend eingerichtet hat, durch das nachträgliche Zurückgreifen auf das bisher nicht ausgeübte Recht ein unbilliger zusätzlicher Nachteil zugefügt würde (vergleiche BSG 1958-05-20 2 RU 285/56 = BSGE 7, 201). Daher wurde in der späteren Entziehung einer langjährig gezahlten, nicht zustehenden Sozialversicherungsrente kein zusätzlicher Nachteil erblickt, der die Berufung auf den Einwand der Verwirkung zuließe (vergleiche BSG 1956-03-22 5 RKn 8/55 = BSGE 2, 284, 289).
2. Der Leistungsempfänger ist zur Rückerstattung der überhobenen Versorgungsbezüge nicht verpflichtet, wenn die erst nach 3 Jahren erfolgte Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs nach den Umständen des Falles gegen Treu und Glauben verstößt.
3. Wird die Rückforderung von Versorgungsbezügen, die auf Grund eines nach SGG § 154 Abs 2 erlassenen Ausführungsbescheides gewährt worden sind, ohne erkennbaren Hinderungsgrund jahrelang nicht geltend gemacht, dann ist der Rückforderungsanspruch der Verwaltungsbehörde verwirkt.
Normenkette
KOVVfG § 47 Fassung: 1960-06-27; BGB § 242; SGG § 154 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. Juni 1964 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
In einem früheren Verfahren hatte das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 16. August 1957 das Urteil des Sozialgerichts (SG) Speyer vom 8. Mai 1954, mit dem dem Kläger Beschädigtenrente zugesprochen worden war, aufgehoben und die Klage abgewiesen. In der Ausführungs-Benachrichtigung des Versorgungsamts (VersorgA) vom 16. September 1957 hieß es, in Vollzug des Urteils des LSG sei die bisher (aufgrund der Benachrichtigung vom 31. Juli 1954) vorschußweise gezahlte Rente Ende August 1957 gemäß § 154 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) eingestellt worden; um Rückgabe der Ausweiskarte sowie Zusendung der Benachrichtigung vom 31. Juli 1954 zwecks Aufnahme eines Berichtigungsvermerks werde gebeten. Am 28. Oktober 1957 gingen beim VersorgA die Ausweiskarte und die Benachrichtigung ein. Die Ausweiskarte wurde eingezogen, die Benachrichtigung noch am gleichen Tage mit einem Ungültigkeitsvermerk an den Kläger zurückgesandt. Mit Bescheid vom 1. September 1960 forderte das VersorgA Versorgungsbezüge in Höhe von 831,50 DM zurück, die aufgrund des sozialgerichtlichen Urteils vorschußweise gezahlt worden und infolge Aufhebung dieses Urteils nach § 47 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) zurückzuerstatten seien. Nach erfolglosem Widerspruch hob das SG den Rückforderungsbescheid auf. Das LSG wies die Berufung des Beklagten mit Urteil vom 4. Juni 1964 zurück und ließ die Revision zu. Zwar nehme der Beklagte zutreffend an, daß der Rückforderungsanspruch nach § 47 Abs. 1 VerwVG zu beurteilen sei; denn die nach § 154 Abs. 2 SGG gewährten Leistungen hätten durch die spätere Aufhebung des Urteils, ohne daß es einer Rücknahme der Benachrichtigung vom 31. Juli 1954 bedurft habe, rückwirkend ihre Rechtsgrundlage verloren. Der Kläger brauche die zu Unrecht empfangenen Leistungen jedoch nicht zurückzuerstatten. Der Rückforderungsanspruch müsse innerhalb einer angemessenen Frist geltend gemacht werden. Der Kläger sei zwar in der Benachrichtigung vom 31. Juli 1954 darauf hingewiesen worden, daß er im Falle der Aufhebung des sozialgerichtlichen Urteils verpflichtet sei, die empfangenen Beträge zurückzuzahlen. Diese Benachrichtigung enthalte jedoch nicht die Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs. Dieser sei erst 3 Jahre nach seiner Entstehung mit Bescheid vom 1. September 1960 erhoben worden, obwohl keine Gründe erkennbar seien, die eine so lange Verzögerung erklärten. Ob dieser lange Zeitablauf allein schon zur Rechtswidrigkeit der Rückforderung führe, könne dahingestellt bleiben. Denn es komme hinzu, daß der Beklagte dem Kläger am 16. September 1957 eine Ausführungsbenachrichtigung erteilt habe, mit der er erklärt habe, daß der Kläger in Vollzug des Urteils des LSG keine Vorschußzahlungen mehr erhalte, und daß er die Benachrichtigung von 1954 sowie die Ausweiskarte einzusenden habe. Der Kläger habe demnach damit rechnen dürfen, daß das Urteil des LSG für ihn keine weiteren Rechtsfolgen zeitigen würde als die in der Ausführungsbenachrichtigung erwähnten, zumal er die vom Beklagten angeforderten Unterlagen alsbald übersandt und die Benachrichtigung zurückerhalten habe, ohne daß der Beklagte innerhalb angemessener Frist Rückforderungsansprüche geltend gemacht oder angekündigt habe. Der Bescheid vom 1. September 1960 verstoße bei dieser Sachlage gegen die Grundsätze von Treu und Glauben und widerspreche pflichtgemäßem Verwaltungsermessen; er sei rechtswidrig, weil der Beklagte die Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs ungebührlich lange verzögert und den Kläger mit der Benachrichtigung von 1957 in den Glauben versetzt habe, daß er mit einer Rückforderung nicht zu rechnen brauche.
Mit der Revision rügt der Beklagte Verletzung des § 47 VerwVG. Weder der Zeitablauf noch der Inhalt der Ausführungsbenachrichtigung vom 16. September 1957 berechtige zu der Annahme, daß die Geltendmachung der Rückforderung gegen die Grundsätze von Treu und Glauben verstieße oder eine Rechtsüberschreitung vorliege. Die Entscheidung in BSG 7, 226 betreffe einen anderen Fall und könne deshalb hier nicht herangezogen werden. Das LSG mißdeute die Benachrichtigung vom 16. September 1957, wenn es darin einen stillschweigenden Verzicht auf Rückforderung erblicke. Der wirkliche Wille der Verwaltungsbehörde sei in der Feststellung, daß der Beklagte (gemeint ist wohl: der Kläger) im Falle der Aufhebung des zusprechenden Urteils verpflichtet sei, die empfangenen Versorgungsbezüge zurückzuzahlen und in der Erteilung des Rückforderungsbescheides selbst hinreichend deutlich zum Ausdruck gekommen. Sonach habe der Beklagte den Kläger nicht in den Glauben versetzt, daß er mit einer Rückforderung nicht mehr zu rechnen habe; daher könne ihm auch keine mißbräuchliche Rechtsausübung vorgeworfen werden.
Der Beklagte beantragt, die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 1. September 1960 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. September 1961 abzuweisen. Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Dem angefochtenen Urteil sei im Ergebnis zuzustimmen. Nach dem Urteil des 10. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 17. April 1964 - 10 RV 1299/61 - (= SozR Nr. 15 zu § 47 VerwVG) trete, soweit es allein auf den Zeitablauf ankomme, der Rechtsverlust unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung zwar erst nach Ablauf von 4 Jahren ein; im angefochtenen Urteil werde jedoch zutreffend auf die besonderen Umstände des Falles abgehoben; berücksichtige man diese, so verstoße die nach 3 Jahren geltend gemachte Rückforderung gegen Treu und Glauben.
Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und daher zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 SGG); sachlich ist sie nicht begründet.
Es besteht kein Streit darüber, daß der Kläger die aufgrund des Urteils des SG vom 8. Mai 1954 nach § 154 Abs. 2 SGG erhaltenen Beträge zu Unrecht empfangen hat und bei rechtzeitiger Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs hätte zurückerstatten müssen. Der Senat verweist daher insoweit lediglich auf BSG 9, 169 (= SozR SGG Nr. 3 zu § 154 SGG) und das Urteil des erkennenden Senats vom 13. Januar 1966 - 9 RV 614/63 -, in denen entschieden wurde, daß der Rückforderung von Versorgungsbezügen, die aufgrund eines nach § 154 Abs. 2 SGG erlassenen Ausführungsbescheides gewährt worden sind, ein Vertrauensschutz in die Bestandskraft des Ausführungsbescheides nicht entgegen steht.
Der Senat hat in seinem vorerwähnten Urteil zwar ausgeführt, daß die Versorgungsbehörde auf den Rückzahlungsanspruch von vorläufigen Leistungen im Sinne des § 154 Abs. 2 SGG - sofern keine besondere Härte im Sinne des § 47 Abs. 4 VerwVG vorliegt - im Rahmen der Anwendung dieser Vorschrift "nicht verzichten" darf; in dem dortigen Fall war jedoch die Rückforderung bereits ordnungsgemäß, nämlich innerhalb kurzer Zeit nach Erlaß des LSG-Urteils geltend gemacht worden, weshalb die Frage einer Verwirkung oder unzulässigen Rechtsausübung nicht zur Erörterung stand. Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles ist jedoch der über 3 Jahre nach Erlaß des früheren LSG-Urteils geltend gemachte Rückforderungsanspruch als verwirkt anzusehen und das angefochtene Urteil daher im Ergebnis zu bestätigen.
Wie das BSG bereits mehrfach entschieden hat, gibt es auch im öffentlichen Recht, so auch in der Sozialversicherung und der Kriegsopferversorgung (KOV) das Rechtsinstitut der Verwirkung materieller Rechte. Ein Recht ist verwirkt, wenn der Berechtigte während einer längeren Zeitspanne dem Rechtspartner gegenüber untätig gewesen ist und besondere Umstände sein Verhalten als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen (BSG 7, 199, 200; vgl. auch Entscheidung des erkennenden Senats vom 25. August 1966, - 9 RV 544/65). Der bloße Zeitablauf allein kann - anders als etwa bei der Verjährung - (vgl. insoweit und zur Frage einer unzulässigen Rechtsausübung bei Rückforderung nach mehr als 4 Jahren das Urteil des BSG in SozR Nr. 15 zu § 47 VerwVG) - den Rechtsverlust durch Verwirkung nicht herbeiführen, vielmehr müssen weitere Umstände hinzutreten, welche die späte Geltendmachung mit der Wahrung von Treu und Glauben als nicht vereinbar und dem Rechtspartner gegenüber wegen der darin liegenden Illoyalität nicht mehr als zumutbar erscheinen lassen (BSG 7, 201; 16, 83; 16, 210). Die andere Seite muß aus der Untätigkeit geschlossen haben, der Berechtigte werde von seinem Recht keinen Gebrauch mehr machen. Dabei genügt es allerdings nicht, wenn der Versicherungsträger oder die Versorgungsbehörde die Rente lediglich zu einem späteren Zeitpunkt entzieht, als es nach Sachlage möglich gewesen wäre. Denn es ist erforderlich, daß dem Rechtspartner, der sich im Vertrauen auf die unterbliebene Geltendmachung des Rechts entsprechend eingerichtet hat, durch das nachträgliche Zurückgreifen auf das bisher nicht ausgeübte Recht ein unbilliger zusätzlicher Nachteil zugefügt würde (BSG 7, 201). Daher wurde in der späten Entziehung einer langjährig gezahlten, nicht zustehenden Sozialversicherungsrente kein zusätzlicher Nachteil erblickt, der die Berufung auf den Einwand der Verwirkung zuließe (vgl. BSG 2, 284, 289).
Nach diesen Grundsätzen erweist sich im vorliegenden Fall der erst 1960 geltend gemachte Rückforderungsanspruch als verwirkt. Nach den von der Revision nicht angegriffenen und daher für das BSG bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) ist der Beklagte zunächst nicht untätig geblieben; er hat alsbald nach Erlaß des LSG-Urteils vom 16. August 1957, nämlich am 16. September 1957, die nach § 154 Abs. 2 SGG vorläufig gezahlte Rente ab Ende August 1957 eingestellt, vom Kläger die Ausweiskarte eingezogen, die frühere Benachrichtigung vom 31. Juli 1954 angefordert und diese mit einem Ungültigkeitsvermerk versehen wieder zurückgesandt. Der Beklagte hat sonach alsbald nach Erlaß des abweisenden Urteils die ihm damals notwendig erscheinenden Maßnahmen durchgeführt. Die Ausführungsbenachrichtigung vom 16. September 1957 enthielt jedoch keinerlei Hinweis, daß die Versorgungsbehörde die in der zurückliegenden Zeit gezahlten Bezüge zurückfordern werde oder sich eine Rückforderung auch nur vorbehalte. Der Kläger mußte zwar zunächst damit rechnen, daß trotzdem noch eine Rückforderung durch Verwaltungsakt geltend gemacht werden könne, denn er war in der früheren Benachrichtigung von 1954 darüber belehrt worden, daß er im Falle der Aufhebung des SG-Urteils die empfangenen Beträge zurückzahlen müsse, und es war ihm zuzumuten, daß er sich 1957 an diese Belehrung erinnere. Zutreffend hat jedoch das LSG darauf hingewiesen, daß mit der Benachrichtigung von 1954 ein Rückforderungsanspruch nicht geltend gemacht worden war; hierzu fehlte es damals auch an jeder rechtlichen Voraussetzung. Der Kläger mußte deshalb aus der Benachrichtigung von 1954 nicht den Schluß ziehen, daß die Versorgungsbehörde noch 1960 trotz ihres entgegengesetzten Verhaltens auf der Rückforderung bestehen werde. Er durfte im Gegenteil aus dem Umstand, daß die Versorgungsbehörde nach Erlaß des LSG-Urteils zwar die Rente eingestellt und weitere aus der Aufhebung des SG-Urteils sich ergebende Maßnahmen ergriffen, jedoch die früher gewährten Beträge nicht zurückgefordert und ohne erkennbaren Hinderungsgrund insoweit jahrelang nichts unternommen hat, schließen, daß die Versorgungsbehörde von ihrem Rückforderungsrecht keinen Gebrauch mehr machen werde. Er konnte sich daher nach Ablauf einer angemessenen Frist jedenfalls vor Ablauf von 3 Jahren nach Erlaß des LSG-Urteils vom 16. August 1957 darauf einrichten, daß die Rückforderung nicht mehr geltend gemacht werde. Es sind nach den Feststellungen des LSG auch keine Gründe erkennbar, die die lange Verzögerung der Rückforderung erklären könnten.
Mit dem nachträglichen Zurückgreifen auf das bisher nicht ausgeübte Recht würde dem Kläger ein unbilliger zusätzlicher Nachteil zugefügt, weshalb unter den Umständen des vorliegenden Falles die späte Geltendmachung der Rückforderung mit der Wahrung von Treu und Glauben nicht vereinbar und dem Kläger die Rückerstattung nicht mehr zuzumuten ist.
Da nach alledem das angefochtene Urteil nicht zu beanstanden war, mußte die Revision als unbegründet zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen