Entscheidungsstichwort (Thema)

Haftung des Zwischenunternehmers. zahlungsunfähiger Unternehmer. nicht gewerbsmäßige Bauarbeiten. handwerksähnlicher Betrieb. Gewerbeuntersagung wegen Unzuverlässigkeit

 

Orientierungssatz

1. Die Berufsgenossenschaft ist nicht berechtigt, den Zwischenunternehmer wegen des Haftungsanspruchs aus § 729 Abs 2 S 2 RVO durch Erlaß eines Verwaltungsaktes in Anspruch zu nehmen.

2. Die nach dem Wortlaut und ihrem Sinn und Zweck eindeutige Haftungsvorschrift des § 729 Abs 2 RVO ist mit dem GG vereinbar (vgl BSG vom 26.1.1988 2 RU 25/87 = BSGE 63, 29).

3. Die Verletzungen sozialversicherungsrechtlicher Verpflichtungen, insbesondere aber die Verletzung der Beitragsverpflichtung gegenüber der gesetzlichen Unfallversicherung sind eindeutige Kriterien für die Gewerbeuntersagung nach § 35 Abs 1 GewO wegen Unzuverlässigkeit. Kann die Weiterführung des Betriebes damit jederzeit durch behördliche Maßnahmen verhindert werden, ist allein schon aus diesen Gründen ein solches Unternehmen in seinem Bestand nicht gesichert.

 

Normenkette

RVO § 729 Abs 2 S 2; GewO § 35 Abs 1; GG Art 3 Abs 1

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 08.03.1989; Aktenzeichen L 4 U 67/88)

SG Kiel (Entscheidung vom 19.04.1988; Aktenzeichen S 4 U 11/86)

 

Tatbestand

Die Klägerin nimmt das beklagte Bauunternehmen für Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung in Anspruch, die ihr der Beigeladene schuldet.

Der Beigeladene verrichtete in den Jahren 1978 bis 1984 für verschiedene Baufirmen, ua die Beklagte, als Subunternehmer zusammen mit arbeitslos gemeldeten Personen Fugearbeiten. Die Anmeldung dieses Gewerbes und seine Registrierung im Verzeichnis der Inhaber handwerksähnlicher Betriebe (§ 18 der Handwerksordnung -HwO-) erfolgten erst im April/Mai 1984. Nachdem die Klägerin im März 1984 Hinweise über die Betätigungen des Beigeladenen erhalten und vom zuständigen Finanzamt den geschätzten Lohnaufwand für die Jahre 1978 bis 1983 erfahren hatte, stellte sie durch bindenden Bescheid vom 25. Oktober 1984 die Mitgliedschaft des Beigeladenen zur Bau-BG Hamburg als Unternehmer nicht gewerbsmäßiger Bauarbeiten fest und forderte Beiträge zur Unfallversicherung für die Zeit von 1978 bis 1983 in Höhe von 8.779,- DM. Anschließende Vollstreckungsversuche blieben ohne Erfolg.

Mit Schreiben vom 2. September 1985 unterrichtete die Klägerin die Beklagte über ihre Haftung gemäß § 729 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und forderte sie ua auf, zur Feststellung der ihr Unternehmen betreffenden anteiligen Beiträge das Auftragsvolumen und den Zeitraum der vom Beigeladenen erbrachten Arbeiten mitzuteilen. Die Beklagte gab unter dem 4. September 1985 an, der Beigeladene habe von Mai bis August 1982 und von April bis September 1983 Fugearbeiten auf verschiedenen ihrer Baustellen ausgeführt. Die Klägerin verlangte daraufhin am 30. September 1985 von der Beklagten die Zahlung eines Beitragsanteils in Höhe von 1.842,- DM zuzüglich eines Säumniszuschlages von 121,55 DM. Die Beklagte lehnte die Zahlung ab.

Auf die im Februar 1986 erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte zur Zahlung des Beitragsanteils verurteilt; hinsichtlich des Säumniszuschlages hat es die Klage abgewiesen (Urteil vom 19. April 1988). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 8. März 1989) und zur Begründung ua ausgeführt: Die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Beklagten gemäß § 729 Abs 2 RVO seien gegeben. Der Beigeladene habe als Subunternehmer in den Jahren 1982 und 1983 für die Beklagte als Zwischenunternehmerin nicht gewerbsmäßige Bauarbeiten (Fugearbeiten) ausgeführt. Der Bestand seines Unternehmens sei allerdings nicht gesichert gewesen. Der Beigeladene sei gewerberechtlich nicht eingetragen gewesen und sei erst im April 1984 als Inhaber eines handwerksähnlichen Betriebes registriert worden. Je nach Arbeitslage habe er Fugerkolonnen eingestellt, die er, ohne Sozialversicherungsbeiträge abzuführen, nach Beendigung der Arbeit bar auszahlte. Das gesamte Geschäftsgebaren zeige, daß der Beigeladene die gesetzlichen Vorschriften und die behördlichen Kontrollen umgangen und die Fugearbeiten mit Hilfe von Schwarzarbeitern nach Beendigung der Arbeit bar auszahlte. Das gesamte Geschäftsgebaren zeige, Bestandssicherung gefehlt. Die Forderung sei auch der Höhe nach nicht zu beanstanden. Die Klägerin habe mangels anderer Anhaltspunkte die Beitragsforderung zu Recht nach den Unterlagen der Beklagten geschätzt. Es seien keine Gründe ersichtlich, daß das Ergebnis der Schätzung grob unbillig oder überhöht sei.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine fehlerhafte Anwendung materiellen Rechts (§ 729 Abs 2 Satz 2 RVO). Die - vom LSG angewandte - Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei verfassungswidrig, in der Rechtsanwendung fehlerhaft und für den vorliegenden Fall nicht einschlägig. Das BSG habe nämlich ein gesetzlich nicht vorhandenes Tatbestandsmerkmal (das der sog Bestandssicherung) verwandt. Es sei nicht zulässig, das Tatbestandsmerkmal "nicht gewerbsmäßig" danach zu bestimmen, wie ein Unternehmer sich im Wirtschafts- und Rechtsleben verhalte. Auch die neuere Rechtsprechung des BSG (s Urteil vom 26. Januar 1988, BSGE 63, 29) räume die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 729 Abs 2 RVO nicht aus, denn alle Fragen nach dem Zweck des Gesetzes blieben sekundär, wenn der Wortlaut des Gesetzes solche Fragen wegen der gesetzgeberisch unklaren Formulierung rechtssachlicherweise gar nicht erst aufkommen lasse. Schließlich sei es nicht angängig, sich der Höhe der Forderung der Klägerin in der vom LSG festgestellten Weise zu nähern. Denn dem Berufungsgericht fehle es an Sachverstand für die Beurteilung, wieviel Prozent des Auftragsvolumens als Lohnsumme zu betrachten sei; die Schätzung beruhe auf Annahmen, die überhaupt nicht objektiviert seien.

Die Beklagte beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts vom 19. April 1988 und Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts vom 8. März 1989 die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Die von der klagenden Berufsgenossenschaft erhobene Leistungsklage, mit der sie ihren Haftungsanspruch gegen die Beklagte als Zwischenunternehmerin aus § 729 Abs 2 Satz 2 RVO geltend macht, ist nach § 54 Abs 5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig. Wie der Senat in seinem Urteil vom 18. Dezember 1969 (BSGE 30, 230, 232/233) entschieden und eingehend dargelegt hat, kann die Berufsgenossenschaft ihren Haftungsanspruch gegen den Bauherrn aus § 729 Abs 2 Satz 1 RVO nicht durch einen an ihn gerichteten Bescheid geltend machen, weil dieses Recht eine von der Mitgliedschaft des Unternehmers getrennte und insoweit selbständige, lediglich der Sicherung des Aufkommens der Mittel dienende Rechtsbeziehung zwischen der Berufsgenossenschaft und dem Bauherren darstellt. Das gleiche gilt auch für die dem Bauherrn vorgehende Haftung des Zwischenunternehmers. Auch seine als eine Art Bürgschaft anzusehende Haftung (s BSGE aaO S 233) ist von seiner Mitgliedschaft zur Berufsgenossenschaft unabhängig und begründet insoweit eine selbständige Rechtsbeziehung mit dem Haftungsgrund aus § 729 Abs 2 Satz 2 RVO. In Fällen dieser Art ist die Berufsgenossenschaft daher nicht berechtigt, den Zwischenunternehmer durch Erlaß eines Verwaltungsaktes in Anspruch zu nehmen.

Das LSG hat auch zu Recht die Voraussetzungen des geltend gemachten Haftungsanspruches nach § 729 Abs 2 Satz 2 RVO als gegeben angesehen. Nach dieser Vorschrift haftet bei nicht gewerbsmäßigen Bauarbeiten der Bauherr für Beiträge und die übrigen Leistungen zahlungsunfähiger Unternehmer während eines Jahres, nachdem die Verbindlichkeit endgültig festgestellt ist. Zwischenunternehmer haften vor dem Bauherrn.

Nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) führte der Beigeladene in den Jahren 1982 und 1983 für das beklagte Bauunternehmen Fugearbeiten - das sind Bauarbeiten - aus. Die Beklagte haftet daher für die von dem Beigeladenen geschuldeten Beiträge zur Berufsgenossenschaft, da auch die übrigen Voraussetzungen des § 729 Abs 2 RVO vorliegen.

Bei den von dem Beigeladenen für die Beklagte verrichteten Fugearbeiten hat es sich um nicht gewerbsmäßige Bauarbeiten gehandelt. Für die Abgrenzung der nicht gewerbsmäßigen Bauarbeiten iS des § 729 Abs 2 RVO von den gewerbsmäßigen Bauarbeiten ist entscheidend die Bestandssicherung des die Bauarbeiten ausführenden Unternehmens. Der erkennende Senat hat dies in seinem Urteil vom 18. Dezember 1969 (BSGE 30, 230) im einzelnen, insbesondere unter Bezug auf die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes (RVA) zu der normengleichen Bestimmung des § 819 RVO aF (s BSGE aaO S 234) dargelegt. An dieser Rechtsprechung hat der Senat nachfolgend ständig festgehalten und auch angesichts der vom 9b Senat des BSG geäußerten rechtsstaatlichen Bedenken (BSG SozR 2200 § 729 Nr 2) entschieden, daß die nach dem Wortlaut und ihrem Sinn und Zweck eindeutige Haftungsvorschrift des § 729 Abs 2 RVO mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar ist (s ua Urteile vom 26. September 1986 - 2 RU 60/85 - HV-Info 1986, 1892 und vom 30. Juli 1987 - 2 RU 37/85 - HV-Info 1987, 1714). Neue und überzeugende Gegenargumente hat die Beklagte nicht vorgebracht. Der Senat verweist daher auf die nochmalige eingehende Begründung in seiner Entscheidung vom 26. Januar 1988 (BSGE 63, 29, 30).

Die Revision weist zwar zu Recht auf die Zweckrichtung der Gewerbeordnung (GewO) hin, die Gewerbefreiheit zu sichern und der gewerblichen Betätigung eine Ordnung zu geben (BSGE 30, 230, 234 mwN), so daß bereits die Absicht, eine Erwerbshandlung (hier der Betrieb des Fuggeschäfts) planmäßig zu wiederholen, regelmäßig zu der Annahme einer gewerbsmäßigen Betätigung führt. Während hiernach ein Baubetrieb gewerbsmäßig ausgeübt werden kann, ohne daß sein Bestand gesichert sein muß, ist jedoch für die Abgrenzung der nicht gewerbsmäßigen Bauarbeiten iS des § 729 Abs 2 RVO nach der Rechtsentwicklung und der ständigen Rechtsübung das Merkmal der Bestandssicherung maßgebend (BSGE 30, 230, 235; s auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 532). Die nicht gewerbsmäßigen Bauarbeiten iS des § 729 Abs 2 RVO stellen einen untypischen Sachverhalt in der gesetzlichen Unfallversicherung dar, dem die untypische Haftungsregelung entspricht. Das Risiko des Beitragsausfalls kann nicht allein den übrigen Mitgliedern der Berufsgenossenschaft auferlegt werden. Daher ist es zweckmäßig und verhältnismäßig, nicht nur den Bauherren, sondern auch jeden Zwischenunternehmer, der die Ausführung von Bauarbeiten zwar für eigene Rechnung übernimmt, die Arbeiten oder einen Teil von ihnen aber an einen anderen Unternehmer (Subunternehmer) weitergibt, in diesen Fällen wie einen Bürgen haften zu lassen (BSGE 63, 29, 31). Zudem weist die Klägerin zu Recht darauf hin, daß dem Zwischenunternehmer sogar noch ganz andere Möglichkeiten einer wirksamen Kontrolle seines Subunternehmers zur Verfügung stehen als dem privaten Bauherrn.

Das LSG hat zu Recht entschieden, daß das Unternehmen des Beigeladenen in den Jahren 1982/83 in seinem Bestand nicht gesichert war.

Bei dem Handwerksbetrieb einer natürlichen Person fehlt es an der Bestandssicherung in der Regel schon dann, wenn die materiell rechtlichen Voraussetzungen für eine Eintragung in die Handwerksrolle nicht gegeben sind; weitere Anhaltspunkte für eine mangelnde Bestandssicherung brauchen - kumulativ - nicht vorhanden zu sein (BSG Urteil vom 26. September 1986 - 2 RU 60/85 - HV-Info 1986, 1982). Das Fuggeschäft des Beigeladenen war zwar kein Handwerksbetrieb iS des § 1 Abs 2 HwO, der der Eintragung in die Handwerksrolle (§§ 6, 7 HwO) bedurfte. Sein handwerksähnlicher Betrieb (vgl Anlage B Gruppe I Nr 5 zur HwO) unterlag lediglich der Anzeigepflicht bei der Handwerkskammer (§ 18 Abs 1 Satz 1 HwO). Hier kam jedoch eine jederzeitige Gewerbeuntersagung nach § 35 Abs 1 GewO in Betracht, weil sich der Beigeladene als unzuverlässig erwiesen hatte.

Nach den Feststellungen des LSG war der Beigeladene in den Jahren 1982/83 nicht seiner unverzüglichen Anzeigepflicht bei der Handwerkskammer nachgekommen (§ 18 Abs 1 Satz 1 HwO). Er war dementsprechend auch nicht als Inhaber eines handwerksähnlichen Betriebes registriert (§ 19 HwO). Ebensowenig kam der Beigeladene seinen sozialversicherungsrechtlichen Verpflichtungen, insbesondere seiner Anzeigepflicht zur klagenden Berufsgenossenschaft nach (s § 661 RVO). Lohnnachweise für die für den Beigeladenen arbeitenden Arbeitnehmer, die als arbeitslos Gemeldete Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) bezogen, wurden nicht geführt. Sozialversicherungsbeiträge wurden schließlich nicht abgeführt.

Bereits diese Verletzungen sozialversicherungsrechtlicher Verpflichtungen, insbesondere aber die Verletzung der Beitragsverpflichtung gegenüber der gesetzlichen Unfallversicherung sind eindeutige Kriterien, die die zuständige Behörde (s § 35 Abs 7 GewO) berechtigt hätte, jederzeit das Gewerbe des Beigeladenen nach § 35 Abs 1 GewO wegen Unzuverlässigkeit zu untersagen (Landmann/Rohmer, Gewerbeordnung und ergänzende Vorschriften, 14. Aufl, Band 1, § 35 RdNr 55). Diese Vorschrift findet auf alle der GewO unterliegenden Gewerbetreibenden Anwendung (Landmann/Rohmer, aaO § 35 RdNr 13); sie ist das notwendige Korrelat zur Gewerbefreiheit und soll den schrankenlosen Gebrauch von der Gewerbefreiheit ohne Rücksicht auf entgegenstehende Belange der Allgemeinheit verhindern (Landmann/Rohmer aaO § 35 RdNr 16). Die Weiterführung des Betriebes des Beigeladenen konnte damit jederzeit durch behördliche Maßnahmen verhindert werden. Allein schon aus diesen Gründen war das vom Beigeladenen betriebene Fuggeschäft in den Jahren 1982/83 in seinem Bestand nicht gesichert.

Die Beitragsforderung der Klägerin ist auch der Höhe nach nicht zu beanstanden. Mangels anderer Anhaltspunkte und Unterlagen konnte die Klägerin die Lohnsummen aufgrund der Angaben der Beklagten schätzen (§ 743 RVO). Diese Schätzung ist nicht grob unbillig oder überhöht; sie entspricht vielmehr, soweit unter diesen Umständen eine Beurteilung überhaupt möglich ist, den tatsächlichen Verhältnissen. Substantiierte Rügen gegen die Feststellungen des LSG hat die Beklagte nicht erhoben.

Da der Senat nicht von der Verfassungswidrigkeit der von der Beklagten angegriffenen Gesetzesregelung des § 729 Abs 2 RVO ausgeht, war nicht nur ihre Revision zurückzuweisen, sondern auch ihrem Hilfsantrag nicht zu entsprechen, die Sache dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1667205

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