Leitsatz (amtlich)
Wer als Schwerbehinderter vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheidet, braucht auch dann keine Kürzung seines Berufsschadensausgleichs hinzunehmen, wenn die Schwerbehinderung nur zum Teil schädigungsbedingt ist; das Motiv des Ausscheidens ist unerheblich (Ergänzung zu BSG vom 4.7.1989 - 9 RV 16/88 = SozR 3100 § 30 Nr 78).
Normenkette
BVG § 30 Abs 3; BVG § 30 Abs 4 S 1; BSchAV § 8 S 1 Nr 2 Fassung: 1974-06-29; BSchAV § 8 S 3 Fassung: 1974-06-29; BVG § 30 Abs 6 S 1 Halbs 2
Verfahrensgang
SG Kiel (Entscheidung vom 27.06.1988; Aktenzeichen S 11 V 326/86) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte das dem Berufsschadensausgleich des Klägers zugrundeliegende Vergleichseinkommen auf 75 vH kürzen durfte, nachdem der Kläger am 31. Mai 1985 das 60. Lebensjahr vollendet hatte. Er ist zu diesem Zeitpunkt aus dem Erwerbsleben ausgeschieden und bezieht seit dem 1. Juni 1985 Altersruhegeld als Schwerbehinderter nach § 25 Angestelltenversicherungsgesetz. Beim Kläger sind eine Lungentuberkulose sowie eine beiderseitige Schwerhörigkeit als Kriegsbeschädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 vH anerkannt. Außerdem hat er verschiedene schädigungsunabhängige Behinderungen, von denen eine mit einer MdE um 10 vH, die andere mit einer solchen um 30 vH bewertet worden ist. Seine Gesamt-MdE nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) ist auf 60 vH festgesetzt. Der Beklagte setzte das Vergleichseinkommen nach § 8 Satz 1 Berufsschadensausgleichsverordnung (BSchAV) ab Juni 1985 auf 75 vH herab und forderte eine Überzahlung von 2.289,84 DM zurück (Bescheid vom 3. April 1986). Das Sozialgericht (SG) hat diesen Bescheid und den Widerspruchsbescheid vom 20. November 1986 aufgehoben (Urteil vom 27. Juni 1988). Es hat die Entscheidung wie folgt begründet: Daß der Kläger ohne die Schädigungsfolgen noch berufstätig wäre, sei nicht nur glaubhaft mit der Folge, daß das Vergleichseinkommen nicht um 25 vH zu kürzen sei (§ 8 Satz 3 BSchAV). Vielmehr wäre der Kläger ohne die Schädigung zweifelsfrei über sein 60. Lebensjahr hinaus im Arbeitsleben. Da die nicht auf die Schädigung zurückzuführenden Gesundheitsstörungen lediglich einen Grad der MdE von jeweils 30 und 10 vH bedingten, wäre der Kläger ohne die Kriegsverletzungsfolgen kein Schwerbehinderter, so daß er ohne sie das vorgezogene Altersruhegeld nicht hätte in Anspruch nehmen können.
Der Beklagte beanstandet mit der - vom SG zugelassenen - Revision, daß das SG nicht geprüft habe, ob in diesem Einzelfall die Schädigungsfolgen den Kläger wesentlich dazu bestimmt hätten, vorzeitig aus dem Erwerbsleben auszuscheiden. Der Kläger hätte nach seinen Angaben aus finanziellen Gründen (Ausbildung eines Sohnes) eigentlich über das 60. Lebensjahr hinaus berufstätig bleiben müssen. Im Hinblick auf diesen Gesichtspunkt hätte er aber Rentner werden müssen; denn in dieser Lage sei sein Nettoeinkommen höher als bei fortgesetzter Erwerbstätigkeit. Mithin sei nicht glaubhaft, daß der Kläger ohne die Schädigungsfolgen weiterhin im Erwerbsleben stände.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten hat keinen Erfolg. Das SG hat zu Recht die Kürzung des dem Berufsschadensausgleich zugrundeliegenden Vergleichseinkommens um 25 vH ab Übertritt in den Ruhestand mit 60 Jahren aufgehoben.
Diese Kürzung ist zwar grundsätzlich auch für das Ausscheiden eines sechzigjährigen Schwerbehinderten aus dem Erwerbsleben, wenn er das vorgezogene Altersruhegeld in Anspruch nimmt, vorgeschrieben (§ 30 Abs 3 und 4 Satz 1 BVG, hier idF vom 22. Januar 1982 - BGBl I 21 -/4. Juni 1985 - BGBl I 910 -; § 8 Satz 1 Nr 2 BSchAV, hier idF vom 29. Juni 1984 - BGBl I 861 -). Aber beim Kläger ist das Vergleichseinkommen nach § 8 Satz 3 BSchAV nicht auf 75 vH herabzusetzen, weil er glaubhaft gemacht hat, daß er ohne die Schädigung noch erwerbstätig wäre. Dies ist nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats stets als gegeben anzunehmen, wenn der Beschädigte allein wegen der Schädigungsfolgen schwerbehindert ist und deshalb schon mit 60 Jahren in den Genuß des vorzeitigen Altersruhegeldes kommen kann (zur Veröffentlichung bestimmtes Urteil vom 4. Juli 1989 - 9 RV 16/88 -). Diese Entscheidung, auf deren Begründung im einzelnen verwiesen wird, gilt auch für den Kläger, dessen schädigungsbedingte MdE auf 40 vH und dessen Gesamt-MdE als Schwerbehinderter auf 60 vH festgestellt worden war (§ 3 Abs 1 und 3 SchwbG vom 8. Oktober 1979 - BGBl I 1649 -/22. Dezember 1983 - BGBl I 1532 -). Schwerbehinderter wäre er mit einer MdE von wenigstens 50 vH (§ 1 SchwbG).
Auch für den Kläger trifft der tragende Rechtsgedanke dieser Entscheidung zu: Er hätte ohne die Schädigungsfolgen nicht aus dem Erwerbsleben ausscheiden und gleichzeitig eine existenzsichernde Rente aus der Angestelltenversicherung erhalten können; ohne seine Schädigungsfolgen hätte das Aufgeben jeglicher Erwerbstätigkeit keinen Rentenanspruch ausgelöst. Er müßte weiter arbeiten, um seinen Lebensunterhalt sicherzustellen.
Die abweichende Entscheidung, die der Beklagte getroffen hat, läßt sich nicht mit dem allgemeinen Grundsatz rechtfertigen, daß nur Folgen auszugleichen sind, die im Sinn der versorgungsrechtlichen Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung durch die Schädigung verursacht worden sind (§ 1 Abs 1, § 30 Abs 3 BVG). Dieser Kausalitätsbeurteilung unterliegt allein das nicht altersbedingte Ausscheiden aus dem Erwerbsleben mit dem Übergang auf ein Renteneinkommen statt des Erwerbseinkommens. Das altersbedingte Ausscheiden - wie im Fall des Klägers - gilt nach § 30 Abs 6 Satz 1 Halbsatz 2 BVG grundsätzlich nicht als Nachschaden, ist also - entgegen Halbsatz 1 - als eine schädigungsbedingte Minderung des Bruttoeinkommens aus gegenwärtiger Erwerbstätigkeit anzusehen. Lediglich ist nach der bereits genannten Regelung das Vergleichseinkommen deshalb um 25 vH zu kürzen, weil auch Erwerbstätige ohne Schädigungsfolgen regelmäßig bei altersbedingtem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben eine Einkommensminderung erleiden. Dies trifft aber gerade für die Sechzigjährigen nicht allgemein zu, sondern nur dann, wenn sie schwerbehindert sind. Ohne diese Eigenschaft müßten sie, wie bereits dargelegt, weiterhin erwerbstätig bleiben und würden keine Einkommensminderung erleiden. Im Fall des Klägers ist entscheidend und auch ausreichend, daß seine Schädigungsfolgen mit einer MdE um 40 vH eine notwendige Bedingung für Schwerbehinderteneigenschaft sind. Diese Bemessung des Vergleichseinkommens gilt allerdings nur bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres uneingeschränkt. Weil er mit Vollendung des 63. Lebensjahres ohne Rücksicht auf seine Schwerbehinderung Anspruch auf Altersruhegeld haben kann, erfordert § 8 Satz 3 BSchAV eine individuelle Prüfung (vgl BSG SozR 3642 § 8 Nr 3).
Der nicht vom SG festgestellte Sachverhalt, daß der Kläger wegen der Ausbildung seines Sohnes an einem möglichst hohen Einkommen interessiert sei und daß sein Netto-Renteneinkommen mehr betrage als das bei einem Verbleiben im Beruf zu erwartende Nettogehalt, ist nach den §§ 163, 161 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) unbeachtlich. Die Sache ist auch nicht zur Aufklärung darüber aus einem etwa vom SG nicht beachteten Rechtsgrund zurückzuverweisen. Auf den konkreten Einkommensvergleich, aus dem auf das Motiv für die Beendigung der Erwerbstätigkeit geschlossen werden kann, kommt es nicht an. Ein Motiv ist für das Glaubhaftmachen, daß ein Schwerbehinderter mit 60 Jahren ohne seine Schädigungsfolgen noch erwerbstätig wäre, rechtlich nicht zu beachten. Das hat der Senat im Urteil vom 4. Juli 1989 bereits eingehend dargelegt. Die Motivforschung ist auch dann zu unterlassen, wenn sie zu dem klaren Ergebnis führen würde, daß der Entschluß des Klägers, mit der Arbeit aufzuhören, nicht mit Belastungen durch die Schädigungsfolgen in Zusammenhang gebracht werden kann. Es genügt, daß ihm die Schädigungsfolgen zusammen mit anderen Gesundheitsstörungen diesen Entschluß ermöglichten. Im übrigen sind die Nettoeinkommensbeträge für die Voraussetzungen des Berufsschadensausgleichs, der allein von einem Unterschied im tatsächlichen und im hypothetischen Bruttoeinkommen abhängt und nach diesem bemessen wird (§ 30 Abs 4 Satz 1 und Abs 5 BVG), bedeutungslos.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen