Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulässigkeit der Berufung im sozialgerichtlichen Verfahren

 

Orientierungssatz

Zur Zulässigkeit der Berufung im sozialgerichtlichen Verfahren:

1. Urteile in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung können mit der Berufung nicht angefochten werden, wenn sie die Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse betreffen.

2. Wird in einem Bescheid der Anspruch auf Pflegezulage erstmals nach dem BVG geregelt, so liegt keine Neufeststellung vor.

 

Normenkette

SGG § 148 Nr. 3; BVG §§ 35, 62

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 14.11.1957)

SG Koblenz (Entscheidung vom 05.10.1956)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 14. November 1957 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht? zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger erhielt nach dem Landesversorgungsgesetz von Rheinland-Pfalz vom 18. Januar 1949 (GVBl S. 11) wegen "Amputation des rechten Unterschenkels im mittleren Drittel" und "Amputation des linken Mittelfußes" eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v.H., eine Zusatzrente und eine Pflegezulage als Doppelamputierter. Durch Umanerkennungsbescheid vom 22. Juni 1951 wurde ihm die Rente wegen "Verlust des rechten Unterschenkels mit Knochenschwund im rechten Knie" und wegen "Verlust des linken Fußes nach Lisfrane mit ungünstigen Narbenverhältnissen nach Plastik" nach dem gleichen Grad der MdE auch nach den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) bewilligt; das Versorgungsamt (VersorgA) lehnte es jedoch ab, dem Kläger auch eine Pflegezulage zu gewähren, weil es annahm, daß der beim Kläger bestehende Zustand nicht dem Verlust beider Unterschenkel gleichgesetzt werden könne und selbst dieser grundsätzlich nicht zum Bezug von Pflegezulage berechtige. Da dieser Bescheid ohne vorherige Nachuntersuchung ergangen war, hob ihn das Versorgungsgericht Koblenz mit Urteil vom 17. April 1953 auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an die Versorgungsbehörde zurück. Am 2. Juli 1953 erließ das VersorgA einen neuen Umanerkennungsbescheid nach dem BVG, in dem wieder die Gewährung einer Pflegezulage abgelehnt wurde. Die in diesem Bescheid enthaltene Rechtsmittelbelehrung war mit Tinte durchgestrichen.

Im September 1953 beantragte der Kläger eine Pflegezulage unter Hinweis auf die Zweite Novelle zum BVG vom 7. August 1953. Seinen Antrag lehnte das VersorgA mit Bescheid vom 30. November 1953 ab, weil es den Kläger weder als Doppelamputierten im Sinne der Verwaltungsvorschriften (VV) zu § 35 Nr. 8 Abs. 1 BVG noch als hilflos ansah. Mit der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage machte der Kläger geltend, daß das VersorgA an die frühere Bewilligung der Pflegezulage nach dem Landesversorgungsgesetz auch nach dem BVG gebunden sei. Darüber hinaus sei er auch wegen der Schwere der Verletzung seines linken Fußes einem Doppelamputierten gleichzusetzen. In jedem Falle müsse ihm aber die Pflegezulage wegen Hilflosigkeit deshalb gewährt werden, weil er in erheblichem Umfange auf fremde Hilfe angewiesen sei. Seine Klage hatte keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts - SG - Koblenz vom 5. Oktober 1956).

Die gegen das Urteil des SG eingelegte Berufung wurde durch Urteil des Landessozialgerichts (LSG) vom 14. November 1957 als unzulässig verworfen. Das LSG führte aus: Die Unzulässigkeit der Berufung ergebe sich aus § 148 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Nach dieser Vorschrift seien in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung Urteile mit der Berufung nicht anfechtbar, wenn sie die Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse betreffen. Das Urteil des SG habe über eine Neufeststellung im Sinne des § 148 Nr. 3 SGG entschieden, weil der Antrag des Klägers auf Gewährung einer Pflegezulage auf die nach der Zweiten Novelle zum BVG neu erlassenen VV zu § 35 BVG gestützt gewesen sei und diese Neufestsetzung ... der VV eine Änderung der Verhältnisse darstelle. Um eine Erstfeststellung der Versorgungsbezüge handele es sich deshalb nicht, weil der Umanerkennungsbescheid vom 2. Juli 1953 inzwischen rechtskräftig geworden sei. Die Frist zur Einlegung des Rechtsmittels gegen diesen Bescheid sei spätestens am 31. Dezember 1954 abgelaufen (§ 66 Abs. 2 Satz 1 1. Halbs. SGG). Der Sondertatbestand des § 66 Abs. 2 Satz 1 2. Halbs. SGG finde keine Anwendung, weil eine durchgestrichene Rechtsmittelbelehrung als eine unterbliebene, nicht aber als eine dahingehende Belehrung aufzufassen sei, daß ein Rechtsbehelf nicht gegeben sei. Die Zulässigkeit der Berufung werde auch nicht durch § 150 Nr. 2 SGG begründet. Die Rüge des Klägers, das SG habe unter Verletzung des § 85 BVG nicht beachtet, daß ihm die Pflegezulage bereits nach dem Landesversorgungsgesetz zuerkannt gewesen sei, betreffe nur materielles, nicht aber Verfahrensrecht. Das LSG ließ die Revision zu.

Mit der Revision beantragt der Kläger,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Revision rügt die Verletzung des § 148 Nr. 3 SGG. Sie ist der Auffassung, daß das Urteil des SG keine Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse betrifft. Eine solche Feststellung setze voraus, daß sich die tatsächlichen oder rechtlichen Grundlagen des Anspruchs geändert haben. Durch die VV zum BVG werde jedoch die Rechtsgrundlage eines Anspruchs nach dem BVG nicht beeinflußt. Das ergebe sich schon daraus, daß die VV nicht einmal eine authentische Auslegung der gesetzlichen Vorschriften darstellen. Darüber hinaus könne eine Neufeststellung aber auch deshalb nicht angenommen werden, weil es an einer bindenden Erstfeststellung der Pflegezulage nach dem BVG fehle. Ein Neufeststellungsbescheid dürfe nur erlassen werden, wenn ein Erstfeststellungsbescheid bereits bindend geworden sei. Bei Erteilung des Bescheides vom 30. November 1953 sei die Bindungswirkung des Umanerkennungsbescheides vom 2. Juli 1953 aber noch nicht eingetreten gewesen, weil die Frist zur Einlegung eines Rechtsmittels gemäß § 66 Abs. 2 SGG nicht vor dem 31. Dezember 1954 abgelaufen wäre.

Der Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers gegen das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 14. November 1957 zurückzuweisen.

Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG) und damit zulässig. Sie ist auch begründet. Der Kläger rügt zu Recht, daß das LSG § 148 Nr. 3 SGG verletzt habe. Nach dieser Vorschrift, die in der Fassung vor dem Zweiten Gesetz zur Änderung des SGG vom 25. Juni 1958 (BGBl I, 409) anzuwenden ist, weil die Berufung vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eingelegt wurde (BSG 8, 135), können in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung Urteile mit der Berufung nicht angefochten werden, wenn sie - abgesehen von den hier nicht einschlägigen Ausnahmen - die Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse betreffen. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt.

Entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts betraf das Urteil des SG nicht nur eine Neufeststellung der Pflegezulage wegen einer Änderung der Verhältnisse. Hierbei kann es dahingestellt bleiben, ob der angefochtene Bescheid vom 30. November 1953 überhaupt einen Neufeststellungsbescheid im Sinne des § 62 BVG darstellt oder ob ein solcher Feststellungsbescheid deshalb nicht anzunehmen ist, weil nur die VV zu § 35 BVG, nicht aber diese gesetzliche Vorschrift selbst geändert wurde oder weil bei einem Neufeststellungsbescheid grundsätzlich ein bindender Erstfeststellungsbescheid vorausgesetzt wird (so schon für das Reichsversorgungsgericht - RVGer 2, 48; 13, 189). Die Klage richtete sich nämlich nicht nur gegen den Bescheid vom 30. November 1953, sondern auch gegen den vorausgegangenen Umanerkennungsbescheid vom 2. Juli 1953.

Als Klage gegen den Umanerkennungsbescheid vom 2. Juli 1953 hätte der Beklagte bereits das Schreiben des Klägers vom 24. September 1953 auffassen können. Das in diesem Schreiben zum Ausdruck gebrachte Begehren enthält lediglich den Satz: "Hiermit beantragen wird die Zahlbarmachung der oben angeführten Pflegezulage". Damit hat der Kläger ohne irgendeine Einschränkung die Gewährung von Pflegezulage begehrt und somit zum Ausdruck gebracht, daß er mit der Ablehnung der Pflegezulage im Umanerkennungsbescheid vom 2. Juli 1953 nicht einverstanden ist. Unter "Betr.:" hieß es allerdings: "Antrag auf Pflegezulage gem. der Zweiten Novelle zum BVG für Ernst Retterath, geb. am 27. Juli 1917, wohnhaft in Boos. Grdl. Nr. II/20 95 972". Hieraus mußte der Beklagte jedoch nicht entnehmen, daß der Kläger die Gewährung einer Pflegezulage nur wegen einer Änderung der Verhältnisse, nämlich wegen der Neufassung der VV zu § 35 BVG, beansprucht. Der rechtliche Hinweis des Klägers bezog sich ausdrücklich nur auf die Zweite Novelle zum BVG, nicht aber auch auf die auf Grund dieses Gesetzes neugefaßten VV. Da die gesetzliche Vorschrift des § 35 BVG durch die Zweite Novelle aber selbst nicht geändert wurde, gab der gesamte Wortlaut des Schreibens vom 24. September 1953 dem Beklagten keine hinreichend begründete Veranlassung, darin einen Neuantrag wegen Änderung der Verhältnisse zu erblicken. Möglicherweise hat der Beklagte dies auch erkannt, denn er hat im Bescheid vom 30. November 1953 den Anspruch des Klägers auf Pflegezulage von Grund auf erneut geprüft, zumal der Umanerkennungsbescheid zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht bindend geworden war. Dies konnte der Beklagte aus der in diesem Bescheid zu Unrecht durchgestrichenen Rechtsmittelbelehrung mühelos erkennen. Da dieser Bescheid nach § 15 des Landesversorgungsgesetzes in Verbindung mit § 87 des Gesetzes über das Verfahren in Versorgungssachen (VerfG) in der Fassung vom 20. März 1928 (RGBl I, 71) noch nicht bindend war, hätte das VersorgA, ohne an dem buchstäblichen Sinn... des Wortes "Antrag" haften zu bleiben, das Schreiben des Klägers vom 24. September 1953 ohnedies als gegen die im Umanerkennungsbescheid ausgesprochene Ablehnung der Pflegezulage gerichtet ansehen können. Selbst wenn man aber dieses Schreiben nicht so auslegen wollte, würde kein anderes Ergebnis erzielt, weil der Bescheid vom 2. Juli 1953 jedenfalls als mit der Berufungsschrift vom 17. Dezember 1953 angefochten zu erachten ist.

Aus der Berufungs (jetzt Klage-) schrift vom 17. Dezember 1953 ist mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, daß der Kläger auch die Ablehnung der Pflegezulage im Umanerkennungsbescheid für rechtswidrig angesehen hat. Er hat den von ihm geltend gemachten Anspruch auf Pflegezulage unter Hinweis auf § 35 BVG in erster Linie damit begründet, daß es nicht rechtens sein könne, ihm die nach dem Landesversorgungsgesetz zuerkannte Pflegezulage nach dem BVG zu versagen. Diese Begründung stützt den Anspruch auf Pflegezulage nicht auf eine Änderung der Verhältnisse; mit ihr wird vielmehr geltend gemacht, daß die frühere Bewilligung der Pflegezulage nach dem Sonderrecht auch nach dem BVG rechtsverbindlich bleiben müsse. Der Annahme, daß der Kläger mit der Klageschrift gleichzeitig auch den Umanerkennungsbescheid vom 2. Juli 1953 angefochten hat, steht nicht entgegen, daß nicht dieser Bescheid, sondern nur der spätere Bescheid vom 30. November 1953 genannt worden ist. Denn § 94 VerfG verlangt ebenso wie § 92 Satz 2 SGG nicht zwingend, daß die Berufung bzw. die Klage die angefochtene Entscheidung (Verwaltungsakt) benennt; es reicht aus, wenn aus dem Inhalt der Klageschrift zu entnehmen ist, gegen welche Entscheidung (Verwaltungsakt) sich die Klage richtet. Da der Beklagte denselben Anspruch mit dem späteren Bescheid vom 30. November 1953 nochmals abgelehnt hatte, schadete es nicht, daß der Kläger in seiner Berufungsschrift nur diesen bezeichnete. Hiernach ist aus der Begründung des Schriftsatzes vom 17. Dezember 1953 erkennbar zu entnehmen, daß sich der Kläger auch - wenn nicht sogar in erster Linie - gegen die Ablehnung der Pflegezulage im Bescheid vom 2. Juli 1953 gewandt hat. Dieser Bescheid ist somit als mitangefochten anzusehen. Die Anfechtung des Umanerkennungsbescheides erfolgte auch rechtzeitig, weil auf Grund der in diesem Bescheid durchgestrichenen Rechtsmittelbelehrung die Berufungs- (jetzt: Klage-) frist am 18. Dezember 1953 (Eingang beim Versorgungsamt Koblenz, vgl. § 93 VerfG) noch nicht abgelaufen war (§ 90 Abs. 8 Satz 2 in Verbindung mit § 87 VerfG).

Durch die Anfechtung des Umanerkennungsbescheides erhielt der Streitgegenstand im Verfahren vor dem SG einen Umfang der durch den Berufungsausschließungsgrund in § 148 Nr. 3 SGG nicht gedeckt wird. Der Bescheid vom 2. Juli 1953 enthielt keine Neufeststellung der Pflegezulage wegen Änderung der Verhältnisse, weil in ihm der Anspruch auf Pflegezulage erstmals nach dem BVG geregelt wurde. Auch das SG hat sich mit dem Umanerkennungsbescheid befaßt, denn es hat in den Entscheidungsgründen ausgeführt, bei der Umanerkennung nach dem BVG sei dem Kläger "durchaus zu Recht" die nach dem Landesversorgungsgesetz zuerkannte Pflegezulage entzogen worden. Das LSG hätte demnach die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben, ohne daß es noch auf die Frage ankam, wie das bloße Durchstreichen einer Rechtsmittelbelehrung im Sinne des § 66 Abs. 2, 2. Halbs. SGG rechtlich zu beurteilen ist.

Da das LSG keine tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, aus denen gefolgert werden kann, ob beim Kläger eine Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG vorliegt, kann der Senat in der Sache selbst nicht entscheiden. Der Rechtsstreit war deshalb gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Das LSG wird bei der neuen Entscheidung auch zu prüfen haben, ob die Amputation des linken Fußes des Klägers angesichts der durch den versorgungsärztlichen Dienst festgestellten ungünstigen Stumpfverhältnisse (vgl. Bl. 108 der VersA) nicht zumindest einem Gliedverlust gleichzusetzen ist.

Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2277296

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