Orientierungssatz
Ausschluß der Berufung nach § 148 Nr 3 SGG:
Das Urteil eines Sozialgerichts betrifft nicht die Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse, wenn es über einen Anspruch auf Gewährung der Pflegezulage entscheidet und dem mit der Klage angefochtenen Bescheid ein anderer Bescheid, durch den über die Gewährung einer Pflegezulage erkennbar entschieden worden ist, nicht vorausgegangen ist (vgl BSG 1957-12-12 10 RV 1035/55 = SozR Nr 17 zu § 148 SGG). Das Einsetzen eines Striches bei dem Punkt Pflegezulage auf ein Bescheidformblatt stellt eine solche Entscheidung nicht dar.
Normenkette
SGG § 148 Nr. 3
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 19.12.1956) |
SG Detmold (Entscheidung vom 19.03.1956) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 19. Dezember 1956 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger bezieht seit 1948 Versorgungsrente. Gemäß Umanerkennungsbescheid des Versorgungsamtes (VersorgA.) B vom 26. Juni 1351 in der Fassung des auf den Einspruch des Klägers ergangenen Bescheides vom 10. Januar 1953 erhält er wegen der Schädigungsfolgen
Verlust des rechten Unterschenkels im oberen Drittel mit empfindlichem Stumpf; völlige Versteifung des linken Knies nach operativ entferntem Gelenk; Teilversteifung des linken Fußgelenks und Peronaeuslähmung links; zahlreiche reizlos eingeheilte Stecksplitter in den Weichteilen des linken Oberschenkels; reizlose Narben an Brustkorb, linker Flanke und linkem Handgelenk
Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 90 v. H. nach den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Auf den Formblättern beider Bescheide befindet sich in der Spalte "Pflegezulage (§ 35)" ein Strich.
Am 5. Januar 1954 hat der Kläger beantragt, ihm Pflegezulage zu gewähren. Das VersorgA. hat diesen Antrag nach versorgungsärztlicher Stellungnahme mit Bescheid vom 2. April 1954 abgelehnt, weil der Kläger lediglich beim An- und Ausziehen des linken Schuhes und Strumpfes fremder Hilfe bedürfe und daher die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung der Pflegezulage nicht erfüllt seien. Der gegen diesen Bescheid gerichtete Widerspruch des Klägers und seine Klage sind ohne Erfolg geblieben.
Das Landessozialgericht (LSG.) hat die gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG.) Detmold vom 19. März 1956 gerichtete Berufung des Klägers mit Urteil vom 19. Dezember 1956 als unzulässig verworfen, weil das SG. über eine Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse entschieden habe und die Berufung gegen ein solches Urteil gemäß § 148 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen sei. Um eine "Neufeststellung" im Sinne dieser Vorschrift handele es sich hier deshalb, weil die Pflegezulage einen Teil der Versorgungsbezüge des Klägers darstelle, die schon durch den Umanerkennungsbescheid vom 26. Juni 1951 festgestellt worden seien. Durch den rechtsverbindlich gewordenen Umanerkennungsbescheid sei, wenn auch nicht ausdrücklich, die Gewährung einer Pflegezulage abgelehnt worden, so daß dem Kläger die Zulage nur im Falle einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse nach § 62 BVG gewährt werden könne.
Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 6. April 1957 zugestellte Urteil des LSG. hat der Kläger am 15. April 1957 Revision eingelegt. Er beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. Nordrhein-Westfalen zurückzuverweisen.
Der Kläger rügt eine Verletzung des § 148 Nr. 3 SGG. Er ist der Ansicht, das SG. habe nicht über eine Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse, sondern über die erstmalige Feststellung der Pflegezulage entschieden, so daß die Berufung nicht nach § 148 Nr. 3 SGG ausgeschlossen gewesen sei. Das LSG. hätte daher die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen, sondern über das Rechtsmittel sachlich entscheiden müssen.
Der Beklagte stellt keinen Antrag.
Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG) und daher zulässig; sie ist auch begründet.
Der Kläger wendet sich mit der Revision gegen die Rechtsansicht des LSG., die gegen das Urteil des SG. eingelegte Berufung sei ausgeschlossen und damit unzulässig gewesen. Nach § 158 Abs. 1 SGG ist eine Berufung als unzulässig zu verwerfen, wenn sie nicht statthaft oder nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Form und Frist eingelegt worden ist. Hiermit sind die Fälle, in denen die Berufung als unzulässig verworfen werden kann, abschließend aufgezählt. Eine Verletzung dieser verfahrensrechtlichen Norm liegt dann vor, wenn die Berufung als unzulässig verworfen worden ist, obwohl die Voraussetzungen, unter denen eine derartige Verwerfung stattfinden kann und muß, nicht erfüllt waren und das Berufungsgericht eine Sachentscheidung hätte treffen müssen (BSG. 1 S. 284; BSG. in SozR. SGG § 162 Bl. Da 3 Nr. 21 und § 215 Bl. Da 4 Nr. 17). Das LSG. durfte mithin, da der Kläger die Berufung form- und fristgerecht eingelegt hat, dieses Rechtsmittel nur dann als unzulässig verwerfen, wenn es nach den §§ 143 ff. SGG, die eine erschöpfende Aufzählung der Berufungsausschließungsgründe enthalten, nicht statthaft war. Das ist nicht der Fall.
Das LSG. hat die Berufung des Klägers nach § 148 Nr. 3 SGG als ausgeschlossen angesehen. Nach dieser Vorschrift können in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung Urteile mit der Berufung nicht angefochten werden, wenn sie "die Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse" betreffen. Eine "Neufeststellung" liegt nur dann vor, wenn eine frühere Feststellung gleichartiger Versorgungsbezüge vorausgegangen ist; denn nur die Feststellung gleichartiger Versorgungsbezüge kann miteinander verglichen werden, weil die Anspruchsvoraussetzungen der verschiedenen Arten der Versorgungsbezüge, z. B. der Grund- und Ausgleichsrenten der Beschädigten und Hinterbliebenen, der Elternrente, der Pflegezulage, unterschiedlich sind. Die Ablehnung der Pflegezulage ist daher keine Neufeststellung, sondern eine Erstfeststellung, wenn sich die früheren Bescheide auf andere Versorgungsleistungen beziehen.
Das Berufungsgericht ist zu Unrecht davon ausgegangen, daß durch den Umanerkennungsbescheid vom 26. Juni 1951 auch über die Gewährung der Pflegezulage entschieden worden ist. Eine solche Entscheidung setzt, wie das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung (BSG. 3 S. 271; BSG. in SozR. SGG § 148 Bl. Da 5 Nr. 13 und Bl. Da 6 Nr. 17) ausgeführt hat, einen ausdrücklichen bejahenden oder verneinenden Ausspruch voraus, der sowohl in dem Umanerkennungsbescheid als auch in dem Bescheid vom 10. Januar 1953 fehlt. Aus diesen Bescheiden ist weder ersichtlich, ob das VersorgA. die rechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Pflegezulage geprüft hat, noch aus welchen Gründen etwa eine Ablehnung erfolgte. Das Einsetzen eines Striches in die Bescheidformblätter genügt nicht, um den Willen, eine Versorgungsleistung abzulehnen, zum Ausdruck zu bringen. Die Entscheidung, daß dem Kläger ein Anspruch auf Pflegezulage nicht zustehe, ist erstmalig in dem Bescheid vom 2. April 1954 getroffen worden, und zwar auf den im Januar 1954 erstmalig gestellten Antrag des Klägers auf Pflegezulage hin. Bei der in dem angefochtenen Bescheid vom 2. April 1954 getroffenen Entscheidung über die Nichtgewährung der Pflegezulage handelt es sich mithin um eine Erstfeststellung.
Da hiernach die Berufung nach § 148 Nr. 3 SGG nicht ausgeschlossen war und ein sonstiger Berufungsausschließungsgrund nicht ersichtlich ist, hat das LSG. dieses Rechtsmittel zu Unrecht als unzulässig verworfen. Die Revision ist somit begründet; denn das angefochtene Urteil beruht auf diesem Verfahrensmangel. In der Sache selbst konnte der Senat nicht entscheiden, weil das LSG. seiner Rechtsansicht entsprechend keine Feststellungen getroffen hat, die eine Prüfung ermöglichen, ob die in § 35 BVG genannten Voraussetzungen zur Gewährung der Pflegezulage erfüllt sind. Das angefochtene Urteil war daher nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen