Leitsatz (amtlich)
Bei der Beurteilung der Frage, ob eine (Schul- oder) Berufsausbildung durch die Erfüllung der gesetzlichen Wehr- (oder Ersatz-) dienstpflicht verzögert wurde, bleiben fehlende Geldmittel zur Deckung von Ausbildungskosten auch dann außer Betracht, wenn geltend gemacht wird, früher vorhandene Geldmittel seien während des Wehrdienstes aufgebraucht worden, und neue Geldmittel hätten erst nach dem Ende des Wehrdienstes aus Arbeitseinkommen erneut angespart werden müssen.
Normenkette
RVO § 1267 S. 3 Fassung: 1964-04-14
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 23. Oktober 1969 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger Waisenrente über das 25. Lebensjahr hinaus gemäß § 1267 Satz 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu gewähren ist.
Der am 27. Dezember 1941 geborene ledige Kläger wurde vom 4. Mai 1957 bis 11. April 1960 als Knappe im Steinkohlenbergbau ausgebildet. Vom 15. November 1960 ab arbeitete er als Hilfsarbeiter im VW-Werk B bei K; vom 3. Januar 1962 bis zum 30. Juni 1963 leistete er Pflichtwehrdienst; von Juli 1963 bis zum 31. Dezember 1966 war er wieder als Hilfsarbeiter im VW-Werk B tätig. Vom 2. Januar bis zum 31. März 1967 durchlief er ein für die Ausbildung zum Masseur und Bademeister erforderliches krankenpflegerisches Pflichtpraktikum im Hessischen Brüderhaus e. V. Anstalten H in T, vom 1. April 1967 bis zum 31. März 1968 nahm er an einem Massagelehrgang in der Kneipp-Gesundheitsschule B/Rhein teil, den er mit der staatlichen Prüfung als Masseur abschloß. Seitdem arbeitet er in diesem Beruf.
Die Beklagte lehnte es ab, dem Kläger, der bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres Waisenrente aus der Rentenversicherung seiner Eltern bezogen hatte, die Waisenrente wegen der Berufsausbildung zum Masseur wieder zu gewähren, da er die Ausbildung zum Bergmann bereits vor der Einberufung zum Wehrdienst beendet und die weitere zum Masseur erst nach dem vollendeten 25. Lebensjahr begonnen habe, so daß durch den Wehrdienst keine Lehrzeit unterbrochen oder verzögert worden sei (Bescheid vom 3. März 1967).
Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. Januar 1967 bis zum 31. März 1968 Waisenrente zu gewähren; es hat die Berufung gemäß § 150 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen (Urteil vom 29. Oktober 1968). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 23. Oktober 1969).
Der Kläger hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Er rügt Verletzung des § 1267 Satz 3 RVO.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 23. Oktober 1969 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 29. Oktober 1968 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision des Klägers ist unbegründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Waisenrente gemäß § 1267 Satz 3 RVO (eingeführt aufgrund § 36 Nr. 5 des Bundeskindergeldgesetzes vom 14. April 1964 - BGBl I 265 -, in Kraft seit dem 1. Juli 1964). Nach dieser Vorschrift wird die Waisenrente im Falle der Unterbrechung oder Verzögerung der Schul- oder Berufsausbildung durch Erfüllung der gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienstpflicht des Kindes auch für einen der Zeit dieses Dienstes entsprechenden Zeitraum über das 25. Lebensjahr hinaus gewährt. Unter diesen gesetzlichen Voraussetzungen ist es, wie dies auch das LSG angenommen hat, unbedenklich, daß der Kläger, ohne dabei Mißbrauch erkennen zu lassen, die Waisenrente für eine weitere Berufsausbildung begehrt, nämlich diejenige zum Masseur. Der Kläger ist zwar bereits als Knappe im Steinkohlenbergbau ausgebildet worden. Jedoch steht der Abschluß einer Berufsausbildung grundsätzlich nicht der Waisenrentenberechtigung entgegen, wenn die Waise nach abgeschlossener Berufsausbildung für einen weiteren Beruf ausgebildet wird, es sei denn, daß die Waisenrente mißbräuchlich in Anspruch genommen wird. Dies hat der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 7. Juli 1965 - 12 RJ 180/62 - (BSG 23, 166 = SozR RVO § 1267 Nr. 17) ausgesprochen; er hält hieran fest.
Gleichwohl hat die Beklagte dem Kläger mit Recht die verlängerte Waisenrente gemäß § 1267 Satz 3 RVO versagt. Diese Vorschrift enthält "im Falle der Unterbrechung oder Verzögerung der Schul- oder Berufsausbildung durch Erfüllung der gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienstpflicht des Kindes" eine besondere Regelung gegenüber derjenigen Vorschrift des § 1267 Satz 2 RVO, nach der Waisenrente längstens bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres ua für ein unverheiratetes Kind gewährt wird, das sich in Schul- oder Berufsausbildung befindet. Es wird dann das Ende der Leistungszeit hinausgeschoben, und zwar um den dieser Zeit entsprechenden Zeitraum über das 25. Lebensjahr hinaus. Das Gesetz bietet so wie gleichgerichtete, wenn auch nicht immer gleichlautende Regelungen in anderen Gesetzen (zB §§ 583 Abs. 3 Satz 2, 595 Abs. 2, 1262 Abs. 3 Satz 2 RVO, § 2 Abs. 2 Satz 3 BKGG, §§ 33 b Abs. 4 Satz 3, 45 Abs. 3 Satz 2 BVG, § 164 Abs. 2 Satz 2 BBG, § 32 Abs. 2 Nr. 2 a) bb) EStG, § 113 Abs. 1 Nr. 2 AFG) einen Ausgleich dafür, daß durch den gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienst einer Waise deren Schul- oder Berufsausbildung unterbrochen oder verzögert worden ist. Der Grund dazu liegt auf der Hand.
Während der Erfüllung des gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienstes entfällt Waisenrente, weil Wehrsold, Verpflegung, Unterkunft, Dienstkleidung, Heilfürsorge usw. gewährt werden (vgl. Pappai, Die Änderung rentenversicherungsrechtlicher Vorschriften durch das Gesetz zur Förderung eines freiwilligen sozialen Jahres und das BKGG, Arbeiter-Versorgung 1964, 148, hier: 149); Wehr- und Ersatzdienst sind keine Berufsausbildung, wie sich aus der Gegenüberstellung im Gesetz ergibt (vgl. BMA, Erlaß vom 8. August 1957 - III b 3 - 2964/57, BB 1957, 1039; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 583 Anm. 21; Verb Kommentar, § 1262 Anm. 21; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band III, S. 690 e). Es wird durch die Regelung des Satzes 3 des § 1267 RVO die Anspruchsberechtigung, die bestanden haben würde, wenn die Waise den Wehr- oder Ersatzdienst nicht zu leisten gehabt hätte, für die darauf entfallende Zeit über das vollendete 25. Lebensjahr hinaus nachgeholt (vgl. Koch/Hartmann/von Altrock/Fürst, AVG, § 39 C II 2 e, Seite V 34 b). Die für die Gewährung dieser verlängerten Waisenrente von Satz 3 des § 1267 RVO geforderten drei Voraussetzungen sind: erfüllter Wehr- oder Ersatzdienst, Schul- oder Berufsausbildung nach vollendetem 25. Lebensjahr und Unterbrechung oder Verzögerung von Schul- oder Berufsausbildung vor dem vollendeten 25. Lebensjahr der Waisen durch die Erfüllung des gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienstes (vgl. Verb Kommentar, aaO). Daß die ersten beiden dieser drei Voraussetzungen im Falle des Klägers erfüllt sind, kann nicht zweifelhaft sein. Insbesondere ist es nicht zu beanstanden, wie das Berufungsgericht die Worte "Unterbrechung" und "Verzögerung" der Schul- oder Berufsausbildung ausgelegt hat. Eine Schul- oder Berufsausbildung ist durch Erfüllung von Wehr- oder Ersatzdienst unterbrochen, wenn sich der Dienst in eine bereits begonnene Ausbildung einschiebt, verzögert ist sie hingegen, wenn der Beginn der Ausbildung durch den Dienst hinausgeschoben wird (vgl. Lauterbach, aaO). Da der Kläger die Ausbildung zum Masseur, zu der auch das Krankenpflege-Praktikum gehörte, erst nach beendetem Wehrdienst aufgenommen hat, durfte das LSG zutreffend von einer Verzögerung der Berufsausbildung des Klägers ausgehen. Mit Recht hat es auch der dritten der drei genannten Voraussetzungen, nämlich derjenigen des ursächlichen Zusammenhangs der verzögerten Berufsausbildung des Klägers mit dessen Wehrdienst, entscheidendes Gewicht beigemessen.
In der Tat fehlt dieser ursächliche Zusammenhang. Dabei ist es nicht entscheidend, worauf es das LSG besonders abgehoben hat, daß nach der Ableistung des Wehrdienstes 3 1/2 Jahre vergangen sind. Denn irgendein zeitlicher Anschluß der Ausbildung an den Wehr- oder Ersatzdienst wird nicht verlangt (vgl. Koch/Hartmann/v. Altrock/Fürst, aaO). Maßgebend ist hier allein als Grund für den späten Beginn der Berufsausbildung, daß der Kläger nicht über genügende Geldmittel verfügt haben will, um damit die vorgesehene Berufsausbildung aufnehmen zu können. Fehlen Geldmittel zur Deckung der Ausbildungskosten, ist dies auch dann für den genannten ursächlichen Zusammenhang unerheblich, wenn vor Beginn des Wehrdienstes vorhandene, zur Bestreitung der Ausbildungskosten angesammelte Geldmittel während des Wehrdienstes aufgebraucht werden und neue Geldmittel erst nach Ende des Wehrdienstes aus Arbeitseinkommen wieder angespart werden müssen, um dann mit ihrer Hilfe die Kosten der verspäteten Berufsausbildung zu bestreiten. Die gegenteilige Auffassung der Revision verkennt insbesondere die Verknüpfung mit der Ausgangsnorm des Satzes 2 des § 1267 RVO. Hätte nämlich der Kläger seine für denselben Zweck bestimmten Ersparnisse zu anderer Zeit als während des Wehrdienstes vor der Vollendung des 25. Lebensjahres verausgabt, so daß er wegen fehlender Rücklagen die Kosten einer Ausbildung nicht hätte bestreiten und die Ausbildung daher nicht hätte aufnehmen können, so wäre dies im Rahmen des Satzes 2 des § 1267 RVO unbeachtlich gewesen, weil es dort nur auf die Tatsache der Schul- oder Berufsausbildung ankommt. Wenn sich zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr eine unverheiratete Waise in Schul- oder Berufsausbildung befindet, hat sie Anspruch auf Waisenrente (§ 1267 Satz 2 RVO). Findet eine Ausbildung aber nicht statt, und zwar unabhängig davon, ob eine solche Ausbildung aus wirtschaftlichen oder sonstigen Gründen unterbleibt, besteht kein Waisenrentenanspruch. Die Vergünstigung des Satzes 3 des § 1267 RVO ändert daran nichts. Daher schlägt auch das Argument der Revision, für die 1 1/4 Jahre, für die der Kläger Waisenrente beanspruche, sei er letzten Endes 1 1/2 Jahre Soldat gewesen, nicht durch.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen