Entscheidungsstichwort (Thema)
Ziviles Beschäftigungsverhältnis als Überbrückungstatbestand
Leitsatz (amtlich)
Zur Überbrückung der Zeit zwischen Kriegsgefangenschaft und Arbeitslosigkeit durch ein Arbeitsverhältnis in Großbritannien (Anschluß an BSG vom 4.5.1976 - 1 RA 49/75 = SozR 2200 § 1251 Nr 21).
Orientierungssatz
Die Beendigung der Kriegsgefangenschaft in England und die Aufnahme einer elf Monate dauernden zivilen Beschäftigung dort mit Unterbringung weiterhin im Lager und Beschränkungen in der Freizügigkeit kann nicht als Wiedereingliederung in Beruf und Arbeit verstanden werden, durch die der unverschuldete, kriegsbedingte Verlust von Beitragszeiten mit einer gewissen Dauerwirkung beendet worden ist. Die besonderen Bedingungen einer solchen Beschäftigung unterstreichen ihre vorübergehende Natur und zielen nicht auf ein Verbleiben im Ausland ab. Sie lassen Zweifel an dem Rückkehrwillen des Kriegsgefangenen in die Heimat nicht zu.
Normenkette
RVO § 1251 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 28.02.1989; Aktenzeichen L 2 J 460/87) |
SG Braunschweig (Entscheidung vom 08.10.1987; Aktenzeichen S 2 J 325/86) |
Tatbestand
Die Klägerin begehrt eine höhere Witwenrente, bei der die Zeit vom 27. Dezember 1949 bis zum 16. Juli 1950 als sog Anschlußersatzzeit berücksichtigt wird.
Nach dem Tod des Ehemannes der Klägerin, des Versicherten R. N. , am 25. Januar 1979 bewilligte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 6. September 1979 Witwenrente. Dabei berücksichtigte die Beklagte die Zeiten der Kriegsgefangenschaft vom 9. Mai 1945 bis zum 7. Januar 1948 und der Internierung vom 8. Januar bis zum 4. Juli 1948 als Ersatzzeiten. Die im Versicherungskonto vermerkte Zeit der Arbeitslosigkeit vom 27. Dezember 1949 bis zum 16. Juli 1950 wurde nicht angerechnet.
Im November 1985 beantragte die Klägerin eine Neufeststellung ihrer Rente, da die Zeit der Arbeitslosigkeit als Anschlußersatzzeit berücksichtigt werden müsse. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28. Februar 1986 ab. Der Versicherte habe vom 5. Juli 1948 bis zum 18. Dezember 1949 eine Beitragszeit in England zurückgelegt. Deshalb könne die Zeit der Arbeitslosigkeit ab 19. Dezember 1949 nicht mehr als Ersatzzeit angesehen werden. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 27. August 1986).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteile vom 8. Oktober 1987 und 28. Februar 1989). Das LSG hat ausgeführt, die Voraussetzungen des § 44 Abs 1 des Sozialgesetzbuchs - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) seien nicht erfüllt. Der streitige Zeitraum könne nicht als Ersatzzeit iS des § 1251 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) angesehen werden. Die Zeit der Arbeitslosigkeit schließe nicht an die Kriegsgefangenschaft in England an, die am 12. Januar 1948 beendet worden sei. Zu diesem Zeitpunkt habe der Versicherte in Großbritannien eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen, auch sei er in die englische Sozialversicherung eingetreten.
Die Klägerin hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Zur Begründung trägt die Klägerin im wesentlichen vor, den in Großbritannien gefangen gehaltenen Deutschen sei es Anfang 1948 freigestellt worden, sich unter Lageraufsicht in ein ziviles Beschäftigungsverhältnis zu begeben. Großbritannien hätten diese Deutschen nicht verlassen dürfen und in der Regel auch nicht den Beschäftigungsort. Ihr Ehemann habe sich wegen der besseren Verpflegung außerhalb des Lagers für das Arbeitsverhältnis entschieden. Nach dem Willen des Gesetzgebers solle die Anschlußersatzzeit Nachteile bei denjenigen Versicherten ausgleichen, die krank aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden seien oder nach ihrer Rückkehr nicht sogleich in das Berufsleben wieder eingegliedert werden konnten. Letzteres sei auch bei ihrem Ehemann der Fall gewesen. Zumindest müsse die streitige Zeit als Ausfallzeit berücksichtigt werden.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
unter Aufhebung der Urteile des LSG und des SG sowie des angefochtenen Bescheides die Beklagte zu verurteilen, bei der Rentenberechnung die Zeit vom 27. Dezember 1949 bis zum 16. Juli 1950 als Anschlußersatzzeit rentensteigernd zu berücksichtigen, hilfsweise, eine Berücksichtigung als Ausfallzeit.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Der streitige Zeitraum ist als Ersatzzeit anzurechnen.
Der Bescheid der Beklagten vom 6. September 1979 über die Gewährung der Witwenrente ist zwischen den Beteiligten bindend iS des § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Dieser Verwaltungsakt ist jedoch nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 zurückzunehmen, weil sich ergeben hat, daß bei Erlaß des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewendet worden ist und der Klägerin deshalb Sozialleistungen (Witwenrente) zu Unrecht nicht in der richtigen Höhe erbracht worden sind.
Als Ersatzzeiten werden gemäß § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO ua Zeiten der Kriegsgefangenschaft und einer anschließenden Krankheit oder unverschuldeten Arbeitslosigkeit angerechnet. Nach den unangegriffenen und für den erkennenden Senat gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG war der Versicherte in der Zeit vom 12. Januar 1948 bis zum 18. Dezember 1948 in Großbritannien mit Unterbrechungen versicherungspflichtig beschäftigt. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob wegen dieses Beschäftigungsverhältnisses seine Kriegsgefangenschaft am 12. Januar 1948 endete oder ob sie bis zu seiner Heimschaffung nach Deutschland andauerte (vgl dazu das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des erkennenden Senats vom 28. April 1989 - 5/4a RJ 43/87 -). Im letzteren Fall ist der Anschluß der Arbeitslosigkeit an die Kriegsgefangenschaft - was keiner näheren Begründung bedarf - schon wegen des engen zeitlichen Zusammenhangs gewahrt. Aber auch dann, wenn die Kriegsgefangenschaft schon Anfang 1948 beendet war, wird durch das "zivile" Arbeitsverhältnis in Großbritannien mit seinen Besonderheiten der Anschluß zwischen Gefangenschaft und Arbeitslosigkeit überbrückt.
Wie der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) bereits im Urteil vom 4. Mai 1976 (SozR 2200 § 1251 Nr 21 mwN) ausgeführt hat, ist in den Ersatzzeittatbeständen der Krankheit oder der Arbeitslosigkeit allein auf den zeitlichen Zusammenhang zwischen der Kriegsgefangenschaft und dem unverschuldeten Verlust von Beitragszeiten infolge von Krankheit oder Arbeitslosigkeit abgestellt worden. Dieser zeitliche Zusammenhang erfordert jedoch nicht einen "nahtlosen" Anschluß der Arbeitslosigkeit an die Gefangenschaft. Feste Regeln, so hat der 1. Senat (aaO) ausgeführt, ließen sich kaum aufstellen und Fristen nicht festlegen. Abzustellen sei in solchen Fällen in erster Linie auf die jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalles. Wie bei den Ausfallzeiten läßt die Rechtsprechung des BSG auch bei den Ersatzzeiten "Überbrückungstatbestände" zu, die den Anschluß zwischen den im Gesetz jeweils definierten Zeiten im Rechtssinne wahren (vgl dazu Urteil des 1. Senats vom 5. Juli 1978 aaO Nr 50 mwN; vgl auch BSG aaO Nr 127). Von diesen Grundsätzen geht auch der erkennende Senat aus.
Das LSG hat unter Hinweis auf die Entscheidung des 1. Senats vom 4. Mai 1976 (aaO) ausgeführt, der zeitliche Zusammenhang lasse sich nicht mehr annehmen, wenn der Versicherte zwischen Ersatzzeit und Anschlußersatzzeit in das Arbeitsleben bereits wieder eingegliedert war. Damit wird die Rechtsprechung des BSG nicht vollständig und nicht zutreffend wiedergegeben. Es heißt im genannten Urteil: "Maßgeblich ist vor allem, ob dem Versicherten durch die Zwischenbeschäftigungen bereits eine wirkliche Wiedereingliederung in das Arbeitsleben gelungen war". Die Beendigung der Kriegsgefangenschaft in England 1948 und die Aufnahme einer Beschäftigung dort mit Unterbringung weiterhin im Lager und Beschränkungen in der Freizügigkeit kann nicht als Wiedereingliederung in Beruf und Arbeit verstanden werden, durch die der unverschuldete, kriegsbedingte Verlust von Beitragszeiten mit einer gewissen Dauerwirkung beendet worden ist. Die besonderen Bedingungen dieser Beschäftigung in Großbritannien unterstreichen ihre vorübergehende Natur und zielen nicht auf ein Verbleiben im Ausland ab. Sie lassen Zweifel an dem Rückkehrwillen des - möglicherweise ehemaligen - Kriegsgefangenen in die Heimat nicht zu. Beim Ehemann der Klägerin kann von einer wirklichen Wiedereingliederung nach Kriegsdienst, Kriegsgefangenschaft und den Folgewirkungen erst nach Beendigung der Arbeitslosigkeit im Juli 1950 ausgegangen werden.
Die von der Beklagten zugunsten der Klägerin festgestellte Witwenrente muß daher unter Berücksichtigung der Anschlußersatzzeit neu berechnet werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen