Leitsatz (amtlich)
1. Ist im Urteilstenor nur die Berufung als unzulässig verworfen worden, ergeben aber die Urteilsgründe klar und eindeutig, daß das Gericht auch eine vom Berufskläger erhobene Widerklage für unzulässig gehalten hat, so ist davon auszugehen, daß eine Entscheidung über die Widerklage vorliegt; die Revision gegen das Urteil richtet sich auch gegen diese Entscheidung.
2. Für die Widerklage, mit der ein Versorgungsträger die Berichtigung eines von ihm erlassenen Bescheides begehrt, besteht kein Rechtsschutzbedürfnis (Vergleiche BSG 1956-07-03 1 RA 87/55 = BSGE 3, 135-141).
Normenkette
SGG § 100 Fassung: 1953-09-03, § 153 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 136 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1953-09-03, Nr. 6 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 7. Oktober 1955 wird aufgehoben, soweit die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. September 1954 verworfen worden ist; die Sache wird insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückverwiesen.
Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten; die Kostenentscheidung im übrigen bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Kläger erhielt wegen der Folgen einer Verwundung im ersten Weltkrieg seit 1918 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 40 v. H. Seine Leiden wurden seit 1922 bezeichnet mit "fast völlige Blindheit des rechten Auges, geringe Schwerhörigkeit beiderseits und geringe Versteifung des rechten Zeigefingers". Sie wurden auch nach dem Berliner Gesetz über die Versorgung von Kriegs- und Militärdienstbeschädigten sowie ihren Hinterbliebenen vom 24. Juli 1950 (KVG) mit derselben MdE. anerkannt. Am 23. August 1950 beantragte der Kläger wegen Verschlimmerung seines Leidens Änderung der Leidensbezeichnung und Rente nach einer MdE. von 50 v. H. Bei der Umanerkennung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) bezeichnete das Versorgungsamt III B in dem Bescheid vom 4. Januar 1952 das Leiden mit "fast völlige Blindheit des rechten Auges, geringe Versteifung des rechten Zeigefingers, geringe Trommelfellnarben beiderseits mit geringer Schwerhörigkeit rechts und Taubheit links" und gewährte weiterhin Rente nach einer MdE. von 40 v. H.; den Einspruch gegen diesen Bescheid wies das Landesversorgungsamt Berlin durch Bescheid vom 13. April 1953 mit der Maßgabe zurück, daß nunmehr die vollständige "Blindheit" des rechten Auges anerkannt wurde. Auf die Klage, die der Kläger beim Versorgungsgericht Berlin erhoben hatte und die mit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) am 1. Januar 1954 auf das Sozialgericht (SG.) Berlin übergegangen war, änderte das SG. durch Urteil vom 10. September 1954 die Bescheide nach dem KVG und nach dem BVG und setzte vom 1. Juli 1950 an die MdE. auf 50 v. H. fest, weil eine erhebliche Verschlimmerung der anerkannten Leiden eingetreten und der Kläger dadurch in seinem Beruf in erheblich höherem Maße als bisher beeinträchtigt sei. Der Beklagte legte mit Schriftsatz vom 7. Oktober 1954 beim Landessozialgericht (LSG.) Berlin Berufung ein und erhob mit Schriftsatz vom 28. April 1955 Widerklage mit dem Antrag, dem Kläger das Versorgungsleiden "Taubheit links" abzuerkennen und die Krankheitsbezeichnung als "Blindheit des rechten Auges, geringe Versteifung des rechten Zeigefingers, geringe Trommelfellfellnarben beiderseits mit beiderseitiger geringer Schwerhörigkeit" neu festzusetzen. Der Kläger beantragte, die Berufung zurückzuweisen. Durch Urteil vom 7. Oktober 1955 verwarf das LSG. die Berufung nach § 148 Nr. 3 SGG als unzulässig: Der Kläger sei nach seiner glaubhaften und als zutreffend zu erachtenden Erklärung schon seit 1949 als Schwerbeschädigter nach dem Schwerbeschädigtengesetz anerkannt, die "Schwerbeschädigteneigenschaft" im Sinne von § 148 Nr. 3 SGG sei also nicht mehr im Streit; die Widerklage könne - so wurde in den Gründen des Urteils ausgeführt - sachlich nicht geprüft werden, da sie "wirksam nur durch ein zulässiges Rechtsmittel in den Streit hätte eingeführt werden können". Die Revision wurde zugelassen.
Am 17. November 1955 legte der Beklagte gegen das ihm am 1. November 1955 zugestellte Urteil Revision ein und beantragte,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung über die Berufung und die Widerklage an das LSG. zurückzuverweisen.
Am 20. Dezember 1955 begründete er die Revision: der Tatbestand sei vom LSG. nicht ordnungsmäßig festgestellt; das LSG. habe auch zu Unrecht nicht über die Widerklage entschieden; diese sei ohne Rücksicht auf die Frage der Zulässigkeit der Berufung Gegenstand des Verfahrens vor dem LSG. geworden, sie stehe der Versorgungsbehörde nach § 100 SGG während des Schwebens eines Streitverfahrens wahlweise neben der Möglichkeit des Erlasses von Rentenänderungs- oder Berichtigungsbescheiden zur Durchsetzung ihrer Interessen zur Verfügung. Schließlich sei auch § 148 Nr. 3 SGG vom LSG. verletzt worden; die "Schwerbeschädigteneigenschaft" im Sinne dieser Bestimmung sei nach dem BVG und nicht nach dem Schwerbeschädigtengesetz zu beurteilen.
Der Kläger stellte keinen Antrag.
II.
Die Revision ist zulässig, sie ist aber nur teilweise begründet.
1.) Zu Unrecht hat das LSG. angenommen, die Berufung sei nach § 148 Nr. 3 SGG unzulässig; der Ausnahmefall, daß von dem Grad der MdE. die "Schwerbeschädigteneigenschaft" abhänge, liege hier nicht vor, weil der Kläger die Anerkennung als Schwerbeschädigter schon seit 1949 besitze. Hierzu hat der Senat in dem Urteil vom 7. November 1957, 9/11 RV 1036/55, dargelegt, daß § 148 Nr. 3 SGG sich nur auf die Schwerbeschädigteneigenschaft im Sinne des § 29 Abs. 2 BVG bezieht. Die Schwerbeschädigteneigenschaft in diesem Sinne hängt im vorliegenden Fall vom Grad der MdE. ab. Die Berufung ist deshalb zulässig gewesen. Soweit das LSG. die Berufung verworfen hat, ist das Urteil des LSG. aufzuheben; nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG ist die Sache insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen. Die tatsächlichen Feststellungen (vgl. § 163 SGG) die das Urteil des LSG. in einem kurzen Absatz auf Bl. 2 unter "Tatbestand und Entscheidungsgründe" enthält, reichen für eine Entscheidung über die Klage durch das Bundessozialgericht (BSG.) selbst (vgl. § 170 Abs. 2 S. 1 SGG) nicht aus.
2.) Die Widerklage hat das LSG. nicht, wie der Beklagte annimmt, in seiner Entscheidung übergangen. In den Gründen des angefochtenen Urteils ist ausgeführt, die Widerklage könne "nicht sachlich" nachgeprüft werden, weil sie "wirksam nur durch ein zulässiges Rechtsmittel in das Verfahren hätte eingeführt werden können". Die Widerklage ist also nicht unbeachtet geblieben, sondern ebenso wie die Berufung vom LSG. als unzulässig abgewiesen worden, auch wenn dies im Tenor des Urteils nicht ausdrücklich gesagt ist; zur Erläuterung und Ergänzung der Urteilsformel sind auch die Gründe heranzuziehen, sofern sie - wie im vorliegenden Fall - klar und eindeutig sind (vgl. Beschluß des BSG. vom 11.10.1956, 1 RA 53/56, sowie RGZ. 5 S. 390; Rosenberg, 7. Auflage, § 57, I 3 c, S. 253).
Das LSG. hat die Widerklage im Ergebnis auch zu Recht abgewiesen. Auch die Widerklage setzt ein Rechtsschutzbedürfnis voraus (BSG. 3 S. 136 ff.). An diesem Rechtsschutzbedürfnis fehlt es im vorliegenden Fall. Der Beklagte begehrt mit der Widerklage eine Abänderung des Bescheids vom 4. Januar 1952 zu Ungunsten des Klägers; er ist der Auffassung, die Widerklage stehe ihm "während des schwebenden Streitverfahrens wahlweise neben der Möglichkeit des Erlasses von Rentenänderungs- oder Berichtigungsbescheiden" zur Verfügung; er geht also davon aus, daß er an sich die Möglichkeit gehabt hat, den Bescheid vom 4. Januar 1952 selbst zu ändern. Dies ist auch richtig; der Auffassung, der Bescheid vom 4. Januar 1952 sei fehlerhaft, hat der Beklagte nach § 40 Abs. 4 KVG durch einen neuen Bescheid zu Ungunsten des Klägers Rechnung tragen können; er kann dies seit dem Inkrafttreten des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren in der Kriegsopferversorgung vom 2. Mai 1955 (BGBl. I S. 202) auch nach § 41 Abs. 1 dieses Gesetzes. Das Rechtsschutzbedürfnis für eine Widerklage fehlt aber dann, wenn der Widerkläger das mit der Widerklage angestrebte Ziel durch einen Verwaltungsakt, für dessen Erlaß er selbst zuständig ist, erreichen kann; soweit und so lange eine Verwaltungsbehörde einen Sachverhalt selbst durch Erlaß eines Verwaltungsakts "regeln" kann, hat sie keinen Anspruch auf ein Tätigwerden gerichtlicher Instanzen.
Die Revision ist deshalb unbegründet, soweit das LSG. - wenn auch mit anderer Begründung - die Widerklage als unzulässig abgewiesen hat.
3.) Die Kostenentscheidung bleibt, soweit die Revision die Berufung des Klägers betrifft, dem Schlußurteil vorbehalten; im übrigen beruht sie auf § 193 SGG.
Fundstellen