Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensmangel. Verletzung der Sachaufklärungspflicht. ursächlicher Zusammenhang von Einwirkungen des Kriegdienstes mit einer Gesundheitsstörung. Überschreiten des Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung. fehlende medizinische Sachkunde

 

Orientierungssatz

1. Zur Verletzung der Sachaufklärungspflicht bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs eines Geschwürsleidens mit Einwirkungen des Kriegsdienstes.

2. Der ursächliche Zusammenhang von Einwirkungen des Kriegdienstes mit einer Gesundheitsstörung umfasst sowohl die Entstehung als auch die Verschlimmerung (vgl BSG vom 30.10.1957 - 8 RV 47/56 = SozR Nr 15 zu § 1 BVG = BSGE 6, 87 und vom 3.7.1958 - 11 RV 112/58 = BSGE 7, 288).

3. § 128 Abs 1 SGG ist verletzt, wenn das Berufungsgericht über eine ärztliche Frage entscheidet, ohne insoweit hinreichende Äußerungen von Sachverständigen zu haben. Dem Gericht ist es verwehrt, seine eigene Auffassung in medizinischen Fragen an die Stelle der von Sachverständigen zu setzen. Dem Gericht fehlt hierzu die besondere Fachkunde.

 

Normenkette

SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, §§ 103, 128 Abs. 1

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 24.11.1959; Aktenzeichen XXX)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 24. November 1959 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger begehrt die Gewährung von Versorgung wegen eines Geschwürleidens am Magen und Zwölffingerdarm, das im Mai 1952 zu einer Magenresektion geführt hat. Nach einer von ihm beigebrachten Bescheinigung vom 29. November 1950 ist er bei dem praktischen Arzt Dr. P... seit 1945 wegen rezidivierenden Magengeschwürs mit Unterbrechung in ärztlicher Behandlung gewesen. Das Versorgungsamt holte ein Gutachten des Oberarztes Dr. Dr. B... ein und lehnte darauf durch Bescheid vom 2. Juni 1953 den Antrag - gestützt auf eine Stellungnahme des ärztlichen Dienstes, Dr. F..., - ab, weil zwischen dem Geschwürsleiden und den Kriegsdienstverhältnissen weder ein ursächlicher noch ein zeitlicher Zusammenhang angenommen werden könne.

Der Kläger hat Berufung nach altem Recht eingelegt, die als Klage an das Sozialgericht (SG) übergegangen ist, und hat von der medizinischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses A. die Bescheinigung vom 26. Oktober 1954 beigebracht welche in Abschrift das Ergebnis einer röntgenologischen Untersuchung vom 20. September 1946 enthält. Das SG hat von dem Facharzt für innere Krankheiten Dr. R... das Sitzungsgutachten vom 4. November 1954 erstatten lassen und durch Urteil vom 4. November 1954 die Klage abgewiesen.

Mit der Berufung hat der Kläger sich insbesondere auf die Abschrift des Röntgenbefundes vom 20. September 1946 bezogen. Das Landessozialgericht (LSG) holte einen Bericht des behandelnden Arztes Dr. M... ein und zog noch die Krankenhausunterlagen des Kreiskrankenhauses O... sowie des Städtischen Krankenhauses A... (chirurgische Abteilung) über die Behandlung des Klägers in den Jahren 1950, 1951 und 1952 herbei. Es hat durch Urteil vom 24. November 1959 die Berufung des Klägers zurückgewiesen, weil das Magen- und Zwölffingerdarmgeschwürsleiden nicht durch den Wehrdienst entstanden und auch nicht wesentlich verschlimmert worden sei. Es bestehe kein Anhalt dafür, daß bei den Magenbeschwerden während des Krieges Geschwüre aufgetreten seien. Auch könne es sich um kein ernsthafteres Leiden gehandelt haben, weil der Kläger nach seinen Angaben weder im Anschluß an die Beschwerden im Jahre 1944 noch während der Gefangenschaft wegen des Magens in ständiger Behandlung des Truppenarztes oder Lazarettarztes gestanden habe. Das im Jahre 1946 durch Dr. Pf... erstmals festgestellte Zwölffingerdarmgeschwür könne nicht mehr auf die Strapazen des Wehrdienstes und der Kriegsgefangenschaft bezogen werden. Die Verwachsungen des Bulbus duodeni, die Dr. Pf... festgestellt habe, ließen keine Rückschlüsse auf den Zeitpunkt zu, wann ein solches Geschwür abgelaufen sei; deshalb lasse sich nicht wahrscheinlich machen, daß die Verwachsungen auf ein während des Wehrdienstes durchgemachtes Geschwür zurückzuführen seien.

Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,

die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Er rügt mit näherer Begründung, daß das LSG nicht das im Jahre 1946 erstattete Gutachten von Prof. Dr. B... herangezogen habe, obwohl der Kläger mit Schriftsatz vom 30. Mai 1959 geltend gemacht habe, dieser Gutachter "habe sein Streitbegehren bejaht." Es hätte sich auch nicht mit der Auskunft der chirurgischen Abteilung des Kreiskrankenhauses begnügen dürfen, sondern auch die medizinische Abteilung dieses Krankenhauses anschreiben müssen. Außerdem habe das LSG über eine medizinische Fachfrage, nämlich über die Rückschlüsse aus der röntgenologisch nachgewiesenen Bulbusdeformation geurteilt, ohne hinreichende ärztliche Unterlagen zu haben.

Der Beklagte hat beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Der Kläger hat die Revision form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Das Rechtsmittel ist vom LSG nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Es findet aber statt, weil ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügt wird und vorliegt (BSG 1, 150).

Das LSG hat festgestellt, daß beim Kläger ein Magen- und Zwölffingerdarmgeschwürsleiden besteht; hiergegen sind Revisionsrügen nicht geltend gemacht worden. Gegen die weitere Feststellung des Berufungsgerichts, es bestehe kein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Geschwürsleiden und den Einwirkungen des Kriegsdienstes, hat der Kläger vorgebracht, das Berufungsgericht habe den Sachverhalt unzureichend aufgeklärt und die Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung überschritten.

Nach § 103 SGG erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Hierbei ist es an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 103 Satz 2 SGG). Demnach bestimmt es allein im Rahmen seines richterlichen Ermessens die Ermittlungen und Maßnahmen, die es für die Aufklärung des Sachverhalts für notwendig erachtet. Sein Ermessen wird allerdings durch die in § 103 SGG festgelegte Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts in dem für die Entscheidung erforderlichen Umfang begrenzt. Es kann dementsprechend ohne Antrag Beweise erheben oder auch von der Erhebung weiterer Beweise, die ein Beteiligter beantragt hat, absehen. Es kommt darauf an, ob es bei seiner Urteilsfällung die ihm bis dahin bekanntgewordenen Tatsachen als ausreichend ansehen durfte oder sich zu weiteren Ermittlungen hätte veranlaßt sehen müssen. Es hat daher sorgfältig zu prüfen, ob im Einzelfall eine weitere Beweiserhebung erforderlich ist (BSG 2, 236 ff, 238).

Für die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs des Geschwürsleidens mit Einwirkungen des Kriegsdienstes lagen dem Berufungsgericht das Gutachten des Oberarztes Dr. Dr. B... vom 10. April 1951 und die Stellungnahmen der Dres. F... und R... vor. Diese haben die Frage der Entstehung des Geschwürsleidens unterschiedlich beurteilt. Dr. Dr. B... bejahte eine Entstehung, während Dr. F... sowohl die Entstehung als auch die Verschlimmerung ausgeschlossen hat und Dr. R... anscheinend nur eine Entstehung verneint, sich im übrigen aber zur Verschlimmerung nicht geäußert hat. Der ursächliche Zusammenhang von Einwirkungen des Kriegsdienstes mit einer Gesundheitsstörung umfaßt sowohl die Entstehung als auch die Verschlimmerung (vgl. hierzu BSG 6, 87 ff, 89 - 90, 192 - 194; 7, 288 ff, 291). Dies hat das LSG zwar nicht verkannt. Es ist der Ansicht gewesen, die von Dr. Pf... angegebenen und in dem Röntgenbericht vom 20. September 1946 beschriebenen Veränderungen am Bulbus ließen keine Rückschlüsse auf den Zeitpunkt zu, wann ein Geschwür abgelaufen sei. Das Berufungsgericht hätte sich aber, wie der Kläger zu Recht rügt, zunächst wegen des 1946 am Bulbus erhobenen Befundes nicht auf die Kenntnis der Abschrift des Röntgenberichts vom 20. September 1946 beschränken dürfen. Vielmehr hätte es versuchen müssen, diese Röntgenaufnahme zu erhalten, zumal sie anscheinend im Jahre 1954 noch vorhanden war. Der Kläger hat ebenfalls richtig darauf hingewiesen, daß das LSG auch nicht etwa im Hinblick auf die Auskunft des Städtischen Krankenhauses A... vom 17. September 1959 von weiteren Nachforschungen hätte absehen dürfen; denn diese Auskunft war von der chirurgischen Abteilung erteilt worden, während die Röntgen-Unterlagen in der medizinischen Abteilung gelagert haben. Dies konnte das LSG aus dem Briefkopf des bei den Akten des SG befindlichen Schreibens vom 26. Oktober 1954 ohne weiteres ersehen. Es hätte auch auf Grund der 1946 erhobenen Befunde, insbesondere der Röntgenaufnahme und einer allenfalls noch vorhandenen gutachtlichen Stellungnahme durch weitere ärztliche Gutachten klären müssen, welcher krankhafte Zustand damals bestanden hatte und ob neben dem zeitlichen auch ein ursächlicher Zusammenhang mit den vom Kläger geltend gemachten und nicht widerlegten Magenbeschwerden während des Kriegsdienstes wahrscheinlich zu machen ist. Da das LSG dies unterlassen hat, ist § 103 SGG verletzt.

Aber auch die weiter erhobene Rüge einer Überschreitung der Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung greift durch. Gemäß § 128 Abs. 1 SGG entscheidet das Gericht nach seiner freien aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung; in seinem Urteil hat es die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Ein Mangel des Verfahrens in bezug auf die Beweiswürdigung liegt nur dann vor, wenn das Gericht die gesetzlichen Grenzen seines Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung überschritten hat; insoweit kommt insbesondere ein Verstoß gegen Erfahrungssätze des täglichen Lebens oder Denkgesetze in Betracht (BSG 2, 236, 237). Das Berufungsgericht hat hier über eine ärztliche Frage entschieden, ohne insoweit hinreichende Äußerungen von Sachverständigen zu haben. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (BSG in SozR SGG § 128 Bl. Da 1 - 2 Nr. 2) ist es dem Gericht verwehrt, seine eigene Auffassung in medizinischen Fragen an die Stelle der von Sachverständigen zu setzen. Dem Gericht fehlt hierzu die besondere Fachkunde. Seine Ausführungen über den ursächlichen Zusammenhang betreffen auch nicht etwa das Abwägen zwischen verschiedenen ärztlichen Gutachten, sondern behandeln eine medizinische Fachfrage über die Deutung eines röntgenologisch ermittelten Ulkus ventriculi am Angulusteil des Magens bei narbig deformiertem Bulbus duodeni. Es ist nicht ersichtlich, woraus das Berufungsgericht seine Sachkenntnisse auf diesem Gebiete geschöpft hat. Demgemäß ist auch die weiter erhobene Rüge einer Verletzung des § 128 SGG gegeben.

Da sonach die form- und fristgerecht gerügten Mängel des Verfahrens vorliegen, ist die Revision statthaft und zulässig. Das Rechtsmittel ist auch begründet, weil die Möglichkeit besteht, daß die Entscheidung anders ausgefallen wäre, wenn das LSG die erforderlichen Ermittlungen angestellt hätte. Das angefochtene Urteil war mithin aufzuheben. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt von dem Ergebnis weiterer Ermittlungen ab, die der Senat nicht vornehmen kann. Mithin war die Sache, wie geschehen, an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorzubehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324673

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