Entscheidungsstichwort (Thema)
Richtige Besetzung der SG. Geschäftsführerprivileg. Ausschluß des Geschäftsführers einer im Rechtsstreit über eine Regreßforderung beigeladenen Krankenkasse vom Amt des ehrenamtlichen Richters in dieser Sache
Leitsatz (amtlich)
"Partei" iS des SGG § 60 Abs 1 S 1 iVm ZPO § 41 Nr 4 ist auch der Beigeladene.
Die Geltendmachung von Regressen wegen unwirtschaftlicher Verordnungsweise eines Kassenarztes betrifft in der Regel ein laufendes Verwaltungsgeschäft der KK; insoweit ist der Geschäftsführer der KK ihr gesetzlicher Vertreter (SVwG § 15 Abs 4 S 1).
Ist die KK in dem Rechtsstreit über die Regreßforderung gegen den Kassenarzt beigeladen, so ist demnach der Geschäftsführer der KK von der Mitwirkung als ehrenamtlicher Richter ausgeschlossen (SGG § 60 Abs 1 S 1 iVm ZPO § 41 Nr 4).
Leitsatz (redaktionell)
In den Kammern und Senaten für Kassenarztrecht wirken als ehrenamtliche Richter aus den Kreisen der Krankenkassen der Geschäftsführer oder der stellvertretenden Geschäftsführer eines Krankenversicherungsträgers oder eines Verbandes der Krankenversicherung mit (Geschäftsführerprivileg gemäß SGG § 17 Abs 4); in der Mitwirkung ist der Geschäftsführer einer solchen Krankenkasse ausgeschlossen, die zum Rechtsstreit beigeladen wurde.
Orientierungssatz
Das auf zwingenden Gründen der Rechtsstaatlichkeit beruhende Interesse, zu verhindern, daß ein Richter über eine einen von ihm gesetzlich vertretenen Rechtsträger betreffende Sache mitentscheidet, ist im sozialgerichtlichen Verfahren nicht geringer als im Zivilprozeß. Das gilt uneingeschränkt auch für das Kassenarztrecht, wenn auch die allgemeinen Voraussetzungen für das Amt eines ehrenamtlichen Richters in den für das Kassenarztrecht zuständigen Spruchkörpern nicht derart sind, daß diese Richter in jedem Falle dem Idealbild des unbeteiligten Dritten entsprechen.
Im Einzelfall ist zu prüfen, ob besondere Beziehungen vorliegen, die zum Ausschluß in dieser Sache führen. Solche relativen Ausschließungsgründe haben Vorrang vor dem Geschäftsführerprivileg des SGG § 17 Abs 4.
Normenkette
SGG § 60 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 41 Nr. 4; SVwG § 15 Abs. 4 S. 1; SGG § 17 Abs. 4 Fassung: 1972-05-26
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 18. Oktober 1973 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Auf Antrag der beigeladenen Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) vom 7. August 1967 setzte der Prüfungsausschuß der beigeladenen Kassenärztlichen Vereinigung mit Beschluß vom 29. November 1967 gegen den Kläger, einen praktischen Arzt, einen Regreßbetrag wegen unwirtschaftlicher Verordnungsweise in Höhe von 6.048,95 DM fest: Der verlangte Regreßbetrag entspreche 40% der über dem Durchschnitt sämtlicher praktischen Ärzte des Saarlandes liegenden Verordnungskosten des Klägers im III. und IV. Quartal 1966, wo er mit 82,53% und 53,85% über diesem Durchschnitt gelegen habe. Dem Widerspruch des Klägers half der Prüfungsausschuß durch Beschluß vom 29. Mai 1968 teilweise ab und setzte den Regreßbetrag wegen rechnerischer Unrichtigkeit auf 5.669,53 DM fest. Der beklagte Beschwerdeausschuß wies den Widerspruch im übrigen zurück (Beschluß vom 15. November 1968).
Klage (Urteil vom 23. Februar 1972) und Berufung (Urteil vom 18. Oktober 1973) hatten keinen Erfolg.
Das Landessozialgericht (LSG) hat zunächst ausgeführt, es sei vorschriftsmäßig besetzt, obwohl der mitwirkende ehrenamtliche Richter L. Geschäftsführer der beigeladenen AOK sei und den Antrag vom 7. August 1967 unterschrieben habe. Da ein Ablehnungsantrag nicht gestellt worden sei, könne allenfalls ein Ausschließungsgrund in Betracht kommen, und zwar der des § 41 Nr 4 der Zivilprozeßordnung (ZPO) iVm § 60 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). L. sei zwar gesetzlicher Vertreter eines Verfahrensbeteiligten. Wegen des besonderen Interesses, fachkundige ehrenamtliche Richter für die für das Kassenarztrecht zuständigen Spruchkörper zu gewinnen, seien aber keine strengen Anforderungen an das Unbeteiligtsein dieser Personen zu stellen, was sich besonders auch an § 17 Abs 4 SGG zeige, wonach Geschäftsführer von Krankenkassen für Angelegenheiten des Kassenarztrechts gerade nicht ausgeschlossen seien. - In der Sache hat sich das LSG auf den Standpunkt gestellt, zwischen den maßgeblichen durchschnittlichen Verordnungskosten und denjenigen des Klägers bestehe ein offensichtliches Mißverhältnis, so daß ohne Nachprüfung von Einzelfällen eine Erstattungspflicht festgestellt werden könne, deren Höhe mit 40% der Durchschnittsüberschreitung angemessen sei. Die von dem Prüfungsausschuß trotzdem vorgenommene Einzelfallprüfung von 77 Verordnungen bei zwanzig Patienten im III. Quartal 1966 habe das offensichtliche Mißverhältnis bestätigt.
Der Kläger hat die zugelassene Revision eingelegt und beantragt, die Urteile der Vorinstanzen sowie die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen aufzuheben; hilfsweise beantragt er, den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen. Zur Begründung trägt er vor, der Geschäftsführer der AOK für das Saarland sei als ehrenamtlicher Richter ausgeschlossen gewesen, weil er den das vorliegende Verfahren auslösenden Antrag an den Prüfungsausschuß unterzeichnet habe.
Der Beklagte und die Beigeladenen beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Das LSG war nicht vorschriftsmäßig besetzt. Der ehrenamtliche Richter L. war von der Ausübung des Richteramtes in der vorliegenden Streitsache ausgeschlossen, weil diese eine Angelegenheit betrifft, die zu seinem Aufgabenbereich als Geschäftsführer der beigeladenen AOK gehört.
Nach § 41 Nr 4 ZPO, dessen entsprechende Anwendung § 60 Abs 1 SGG anordnet, ist ein Richter von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen in Sachen, in denen er als Prozeßbevollmächtigter oder Beistand einer Partei bestellt oder als gesetzlicher Vertreter einer Partei aufzutreten berechtigt ist oder gewesen ist. L. ist in der vorliegenden Sache berechtigt - und zur Zeit der Einleitung des gegen den Kläger gerichteten Verfahrens auch berechtigt gewesen -, die beigeladene Kasse gerichtlich und außergerichtlich zu vertreten. Diese Berechtigung steht ihm als gesetzlicher Vertreter zu. Seine Eigenschaft als gesetzlicher Vertreter ergibt sich aus den §§ 13 Abs 1, 15 Abs 4 des Selbstverwaltungsgesetzes (SVG) idF vom 23. August 1967 (BGBl I 918). Nach § 13 Abs 1 Satz 2 SVG ist zwar dem Vorstand die Stellung eines gesetzlichen Vertreters allgemein zugewiesen. Im Rahmen der laufenden Verwaltungsgeschäfte des Versicherungsträgers hat aber der Geschäftsführer kraft Gesetzes (§ 15 Abs 4 SVG) die nur durch Satzung einschränkbare Befugnis, den Versicherungsträger gerichtlich und außergerichtlich zu vertreten. Insoweit handelt es sich um ein gegenüber der Vertretungsbefugnis des Vorstandes eigenständiges Recht, auf das bei der Beschreibung der Rechtsstellung des Vorstandes (§ 13 Abs 1 Satz 1 SVG) hingewiesen wird.
Die Frage, ob "die Sache" im Sinne von § 41 Nr 4 ZPO eine Angelegenheit der laufenden Geschäftsführung betrifft und ein Fall der gesetzlichen Vertretung somit tatsächlich vorliegt, ist danach zu beurteilen, ob die von dem Versicherungsträger zu treffende Entscheidung wesentlich von Erwägungen abhängt, die die gesamte Verwaltungspolitik des Versicherungsträgers berühren - und deshalb in die Zuständigkeit des Vorstandes fällt -, oder ob es sich um Angelegenheiten der bloßen Verwaltungsroutine handelt, wozu insbesondere die Beantwortung reiner Rechtsfragen und die hierauf gegründete Verfolgung von Erstattungsansprüchen gehören (vgl Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 28. Februar 1967 - 3 RK 15/67 in SozR § 1436 der Reichsversicherungsordnung - RVO - Nr 1; vgl auch BSG 7, 164, 166 zu der § 15 Abs 4 aaO entsprechenden Vorschrift des § 8 Abs 4 SVG in der ursprünglichen Fassung vom 22. Februar 1951, BGBl I 124). Ein Fall der letztgenannten Art liegt hier vor. Zu Recht hat daher das LSG in der Geltendmachung eines Regresses wegen unwirtschaftlicher Verordnungsweise eine Angelegenheit der laufenden Verwaltung gesehen. Das wird auch dadurch bestätigt, daß L. den Antrag, gegen den Kläger einen Regreßbetrag festzusetzen, im eigenen Namen - nicht etwa in Ausführung eines Beschlusses des Vorstandes - unterzeichnet hat.
L. ist gesetzlicher Vertreter einer "Partei" im Sinne des § 41 Nr 4 ZPO. Das SGG kennt zwar nicht diesen Begriff, sondern den Begriff des Beteiligten (§ 69 SGG). Beteiligte sind hiernach neben dem Kläger und dem Beklagten auch der Beigeladene. Der Begriff der Partei beschränkt sich weder bei unmittelbarer Anwendung des § 41 Nr 4 ZPO im Rahmen des zivilprozessualen Verfahrens noch bei entsprechender Anwendung im sozialgerichtlichen Verfahren auf Kläger und Beklagten. In der zivilprozessualen Literatur wird der Begriff Partei weit ausgelegt, so daß jeder erfaßt wird, für oder gegen den die Entscheidung wirkt, namentlich auch Streithelfer (vgl Wieczorek, ZPO 2. Aufl § 41 Anm C IIa 1; Stein-Jonas-Schönke-Pohle, ZPO § 41 Anm III; Baumbach-Lauterbach, ZPO 32. Aufl § 41 Anm 2; Zöller, ZPO 11. Aufl § 41 Anm 2). Als Streitgehilfe ist zur Beteiligung an einem Prozeß berechtigt, wer ein rechtliches Interesse daran hat, daß eine der streitenden Parteien obsiege (§ 66 Abs 1 ZPO). Diesem Beteiligungsrecht, das durch Beitritt (§ 70 ZPO) verwirklicht wird, entspricht das berechtigte Interesse an dem Ausgang des Verfahrens, das Grundlage für die Beiladung (§ 75 Abs 1 SGG) und die daraus folgende Rechtskrafterstreckung (§ 141 Abs 1 SGG) ist. Auch die prozessuale Rechtsstellung des Beigeladenen im Verhältnis zum Hauptbeteiligten (§ 75 Abs 4 Satz 1 SGG) entspricht der des Streithelfers im Verhältnis zur Hauptpartei (§ 67 ZPO). Nicht beschränkt werden kann die Parteieigenschaft somit auf notwendig (§ 75 Abs 2 SGG) Beigeladene (so bezüglich des in § 239 ZPO verwendeten Parteibegriffs, Urteil des 8. Senats des BSG vom 19. Dezember 1974 - 8/7 RKg 3/74 -) oder auf solche beigeladenen öffentlich-rechtlichen Rechtsträger, die im sozialgerichtlichen Verfahren auch verurteilt und damit zum Hauptbeteiligten werden können (§ 75 Abs 5 SGG). Schon durch die einfache Beiladung wird - wie durch den Beitritt - klargestellt, daß in dem Rechtsstreit nicht nur über Angelegenheiten des Klägers und des Beklagten, sondern auch über Angelegenheiten des Beigeladenen - dessen berechtigte Interessen - mitentschieden wird (§ 141 Abs 1 SGG).
Es liegt kein überzeugender Grund vor, bei der entsprechenden Anwendung des § 41 Nr 4 ZPO im spezialgerichtlichen Verfahren den Kreis der hiernach ausgeschlossenen Richter enger zu ziehen. Das auf zwingenden Gründen der Rechtsstaatlichkeit beruhende Interesse zu verhindern, daß ein Richter über eine ihn - oder einen von ihm gesetzlich vertretenen Rechtsträger - betreffende Sache mitentscheidet, ist im sozialgerichtlichen Verfahren nicht geringer. Das gilt uneingeschränkt auch für das Kassenarztrecht.
Eine andere Beurteilung ist nicht mit der Erwägung zu rechtfertigen, daß die allgemeinen Voraussetzungen für das Amt eines ehrenamtlichen Richters in den für das Kassenarztrecht zuständigen Spruchkörpern nicht derart sind, daß diese Richter in jedem Fall dem Idealbild des unbeteiligten Dritten entsprechen. Das im Interesse der Gewinnung sachkundiger ehrenamtlicher Richter in Kauf zu nehmende berufliche Engagement in dem betreffenden Rechtsgebiet bildet zwar keinen Hinderungsgrund für die Übernahme und Ausübung des Richteramtes (vgl BSG 23, 105 und dem folgend Bundesverfassungsgericht 27, 312), entbindet aber nicht von der Prüfung, ob im Einzelfall besondere Beziehungen vorliegen, die zum Ausschluß in dieser Sache führen. Auch die besondere Regelung - Geschäftsführerprivileg - des § 17 Abs 4 SVG (vgl dazu BSG 21, 237), wonach Geschäftsführer und deren Stellvertreter bei den Trägern und Verbänden der Krankenversicherung sowie den Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen als Sozialrichter in den Spruchkörpern für Angelegenheiten des Kassenarztrechts "nicht ausgeschlossen sind" , läßt die relativen Ausschließungsgründe, dh die Gründe, die zum Ausschluß im einzelnen Fall führen, unberührt. Von der Möglichkeit, Interessenkollisionen, die sich aus der gleichzeitigen Ausübung eines Verwaltungsamts und eines Richteramts ergeben können, von vornherein durch Nichtberufung zum ehrenamtlichen Richter vorzubeugen, wird - im Gegensatz zu anderen Verfahrensordnungen (vgl § 22 Nr 3 Verwaltungsgerichtsordnung und § 19 Nr 3 Finanzgerichtsordnung) - kein Gebrauch gemacht. Wenn aber zu der allgemeinen beruflichen Beteiligung an den zu entscheidenden Sachen noch eine besondere Beziehung zum Einzelfall hinzutritt, die die Voraussetzungen eines relativen Ausschlußgrundes erfüllt, kann von dem Ausschluß nicht aus allgemeinen Erwägungen abgesehen werden.
Ob auch der Ausschließungsgrund des § 60 Abs 2 SGG - Mitwirkung bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren - vorliegt, braucht nicht geklärt zu werden. Da die Überwachung der Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Versorgung - auch der Verordnungsweise - den Prüfungsinstanzen kraft Gesetzes (§ 368n Abs 4 RVO) obliegt, ist zweifelhaft, ob das Prüfungsverfahren antragsabhängig war (so §§ 12, 20 der nach Auffassung des LSG maßgebenden Prüfungsvereinbarung vom 3. März 1967) und der von L. unterzeichnete Antrag eine Mitwirkung darstellt.
Die fehlerhafte Besetzung des LSG, die sich aus der Nichtbeachtung des Ausschließungsgrundes des § 41 Nr 4 ZPO (iVm § 60 Abs 1 SGG) ergibt, stellt einen unbedingten Revisionsgrund im Sinne des § 551 Nr 1 ZPO (iVm § 202 SGG) dar. Das angefochtene Urteil ist daher einschließlich der in ihm getroffenen Feststellungen (BSG 9, 153, 158) aufzuheben.
Da mangels verwertbarer Feststellungen eine Sachentscheidung nicht möglich ist, war der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG), das auch über die Kosten der Revision zu entscheiden hat.
Fundstellen