Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Verstoß gegen § 110 S 1 SGG. unrichtige Mitteilung der Uhrzeit der mündlichen Verhandlung. Grundsatz der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Verhandlung vor dem erkennenden Gericht
Orientierungssatz
Die mündliche Verhandlung ist ein Mittel zur Verwirklichung des dem Beteiligten verbürgten rechtlichen Gehörs. Die Beteiligten haben deshalb ein Recht darauf, Ort und Zeit der mündlichen Verhandlung zu erfahren und zu dieser zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Infolgedessen liegt ein Verstoß gegen § 110 S 1 SGG vor, wenn dem Kläger nicht die auf dem Terminzettel vermerkte richtige Uhrzeit mitgeteilt worden ist und es ihm deshalb nicht möglich gewesen ist, in der mündlichen Verhandlung zu erscheinen und Ausführungen zu machen.
Normenkette
SGG §§ 62, 110 S. 1, § 124 Abs. 1, § 162 Abs. 1 Nr. 2
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 29. Januar 1959 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger begehrt die Gewährung von Versorgung hauptsächlich wegen Leistenbruch, Kreislaufstörungen und perniciöser Anämie. Diese Leiden hat er sich nach seiner Ansicht in der amerikanischen und französischen Kriegsgefangenschaft während der Zeit vom August 1944 bis Mai 1946 zugezogen. Das Versorgungsamt (VersorgA.) lehnte - gestützt auf das ärztliche Gutachten des Facharztes für innere Krankheiten Dr. H vom 31. Oktober 1952 - den Antrag ab, weil die geltend gemachten Leiden, nämlich Zustand nach Leistenbruchoperation und Leistenschwäche rechts, vegetative Ausgleichsstörungen und voll kompensierte perniciöse Anämie, anlagebedingt seien und dem Wehrdienst sowie der Kriegsgefangenschaft nicht zur Last gelegt werden könnten. Aus den gleichen Gründen blieben die Klage - als solche ist die Berufung nach altem Recht auf das Sozialgericht (SG.) übergegangen - und die Berufung an das Landessozialgericht (LSG.) nach Einholung eines Gutachtens durch den Facharzt für Chirurgie Dr. C erfolglos.
Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Er rügt mit näherer Begründung eine Verletzung der §§ 110 und 62 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), weil der Kläger zu einer Terminsstunde um 10.00 Uhr geladen worden sei, während der Termin um 9.00 Uhr stattgefunden habe. Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers gegen das Urteil des 19. Senats des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. Januar 1959 als unzulässig zu verwerfen; hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält die Revision in sachlicher Hinsicht für unbegründet.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die Revision ist zwar vom LSG. nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie findet aber statt, weil ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügt wird und vorliegt (BSG. 1 S. 150). Der Kläger hat das Rechtsmittel form- und fristgerecht eingelegt und begründet, so daß die Revision zulässig ist.
Zu Recht rügt der Kläger eine Verletzung des § 110 SGG. Nach Satz 1 dieser Vorschrift bestimmt der Vorsitzende Ort und Zeit der mündlichen Verhandlung und teilt sie den Beteiligten in der Regel zwei Wochen vorher mit. Hier ist zwar der Kläger durch die Ladung vom 14. Januar 1959 zum Termin am 29. Januar 1959 geladen worden. Die Ladung enthielt in der Ladungsverfügung und in der vom Kläger vorgelegten Ausfertigung die Angabe der Terminsstunde mit 10.00 Uhr. Der Terminszettel hat demgegenüber als Terminsstunde 9.00 Uhr enthalten, wobei der Sozialrechtsstreit des Klägers als erster Streitfall zu dieser Terminsstunde aufgeführt worden ist. Die Sache ist auch - wie aus der Äußerung des Senatsvorsitzenden des LSG. vom 9. Mai 1959 geschlossen werden muß - vor der dem Kläger mitgeteilten Terminsstunde verhandelt worden.
Zu Unrecht ist der Beklagte der Ansicht, ein Mangel des Verfahrens liege deshalb nicht vor, weil der Kläger Gelegenheit gehabt habe, sich zum Streitstoff in vorbereitenden Schriftsätzen zu äußern, seine Anträge schriftlich gestellt habe und in der ohne seine Anwesenheit durchgeführten Verhandlung keine neuen Tatsachen und Gesichtspunkte vorgebracht seien, zu denen er sich nicht schon vorher schriftlich geäußert habe. Das Kernstück der mündlichen Verhandlung stelle aber nur die Darstellung des Sach- und Streitstandes dar; wenn daher dieser Sach- und Streitstand in vorbereitenden Schriftsätzen hinreichend behandelt worden sei, könnten die anderen Teile der mündlichen Verhandlung, Mündlichkeit, Unmittelbarkeit und Einheit der Verhandlung, auch fehlen. Dem kann nicht gefolgt werden.
Es kann unerörtert bleiben, ob ein Verstoß gegen § 62 SGG - hierauf nehmen die Ausführungen des Beklagten in erster Linie Bezug - dann nicht vorliegt, wenn der Kläger Gelegenheit gehabt hat, sich schriftlich das Gehör zu verschaffen. Denn es handelt sich vorliegend in erster Linie um eine Verletzung der Vorschrift des § 110 SGG, nämlich um die Möglichkeit des Klägers, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. BSG. 1 S. 277 ff., 7 S. 218 ff.) gehört der Grundsatz der mündlichen Verhandlung (§ 124 Abs. 1 SGG) zu den Grundgedanken, die das Verfahren vor den Sozialgerichten bestimmen. Wenn das Gericht auch im sozialgerichtlichen Verfahren den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen hat (§ 103 SGG), so behält die mündliche Verhandlung doch auch in diesem Verfahren die vom Gesetzgeber als wesentlich erachtete Aufgabe, den Streitstoff mit den Beteiligten erschöpfend zu erörtern. Die mündliche Verhandlung ist ein Mittel zur Verwirklichung des dem Beteiligten verbürgten rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG). Die Beteiligten haben deshalb grundsätzlich ein Recht darauf, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden (Peters-Sautter-Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, § 124 Anm. 1 S. II/105-106). Der Vortrag eines Beteiligten in der mündlichen Verhandlung kann dazu führen, daß das Gericht entgegen seiner bisherigen, aus dem Akteninhalt gewonnenen Auffassung neue Gesichtspunkte für wesentlich erachtet. Um an der mündlichen Verhandlung teilnehmen zu können, haben die Parteien nach § 110 SGG ein Recht darauf, Ort und Zeit der mündlichen Verhandlung zu erfahren. Dabei ist es wesentlich, daß ihnen die richtige Zeit mitgeteilt wird. Da hier dem Kläger nicht die auf dem Terminzettel vermerkte richtige Uhrzeit mitgeteilt worden ist, ist es ihm nicht möglich gewesen, in der mündlichen Verhandlung zu erscheinen und Ausführungen zu machen. Infolgedessen liegt ein Verstoß gegen die Vorschrift des § 110 Satz 1 SGG vor. Diese Gesetzesverletzung ist als ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG anzusehen, denn es handelt sich hierbei um eine Verfahrensvorschrift, die aus rechtsstaatlichen Gründen ergangen ist. Sie dient dazu, den Grundsatz der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Verhandlung vor dem erkennenden Gericht in jedem Einzelfalle zu verwirklichen. Der vom Kläger gerügte wesentliche Mangel des Verfahrens liegt hiernach vor. Die Revision ist auch begründet, weil die Möglichkeit besteht, daß das Urteil anders ausgefallen wäre, wenn der Kläger seine Ausführungen vor dem LSG. hätte machen können.
Da hier bereits die vom Kläger gerügte Verletzung der Vorschrift des § 110 Satz 1 SGG gegeben ist, brauchte nicht mehr darauf eingegangen zu werden, ob auch eine Verletzung des § 62 SGG, welche der Kläger ebenfalls geltend gemacht hat, vorliegt.
Der Senat hat gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG eine Entscheidung in der Sache nicht für tunlich gehalten, sondern hat den Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG. zurückverwiesen, damit dieses dem Kläger durch eine ordnungsmäßige Ladung Gelegenheit gibt, in der mündlichen Verhandlung zu erscheinen und seine Ausführungen zu machen.
Da die Voraussetzungen der §§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG erfüllt sind, konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen