Entscheidungsstichwort (Thema)
Kannversorgung. Ermessen
Orientierungssatz
Steht bindend fest, daß die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen für das Ermessenshandeln der Versorgungsbehörde nach § 1 Abs 3 S 2 BVG nicht vorliegen, weil die zur Anerkennung der Endangiitis obliterans des Klägers als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs nicht nur wegen der in der medizinischen Wissenschaft über die Ursache dieses Leidens bestehenden Ungewißheit nicht gegeben ist, sondern weil die angeschuldigten schädigenden Einwirkungen nach den Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft nicht geeignet sind, das beim Kläger vorhandene generalisierte Gefäßleiden hervorzurufen, so kommt es auf ein Ermessenshandeln der Versorgungsbehörde nicht mehr an.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 3 S. 2
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 09.01.1969) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. Januar 1969 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der im Jahre 1905 geborene Kläger begehrt Versorgung wegen einer Endangiitis obliterans gem. § 1 Abs. 3 Satz 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Er leistete von 1924 bis 1936 auf Grund einer freiwilligen Dienstverpflichtung Wehrdienst. 1930 und 1932 bemerkte er krampfartige Beschwerden in den Beinen und nahm deshalb 1937 erstmals ärztliche Hilfe in Anspruch. Bei der Einberufung des Klägers zum Wehrdienst im Jahre 1939 stellten die Ärzte eine Endangiitis obliterans fest. Er wurde deshalb am 28. Oktober 1939 wieder aus dem Wehrdienst entlassen. Im Jahre 1943 wurde das linke Bein im Oberschenkel und das rechte Bein im Unterschenkel amputiert. Die zuständigen Versorgungsbehörden lehnten die vom Kläger wegen dieser Gesundheitsstörung gestellten Versorgungsanträge vom 24. Juni 1944, 12. September 1945 und vom 30. Oktober 1950 ab, weil weder ein zeitlicher noch ein ursächlicher Zusammenhang des festgestellten Leidens mit dem Wehrdienst bestehe. Die ablehnenden Bescheide sind bindend geworden. Am 20. November 1964 stellte der Kläger den Antrag, die Endangiitis obliterans im Wege des Härteausgleichs als Schädigungsfolge anzuerkennen. Das Versorgungsamt (VersorgA) A holte ein versorgungsärztliches Gutachten ein und lehnte den Antrag durch Bescheid vom 2. April 1965 ab. Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde vom Landesversorgungsamt (LVersorgA) auf Grund der Stellungnahme des Regierungsmedizinalrates Dr. M zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 16. August 1965).
Das Sozialgericht (SG) hat nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Gutachten und eine ergänzende Stellungnahme von Prof. Dr. H und Dozent Dr. Sch eingeholt und mit Urteil vom 2. Dezember 1966 den Beklagten unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verurteilt, dem Kläger erneut einen rechtsmittelfähigen Bescheid unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu erteilen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat nach § 106 SGG ein Gutachten von Prof. Dr. A und nach § 109 ein Gutachten von Prof. Dr. S eingeholt. Es hat sodann mit Urteil vom 9. Januar 1969 auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG Aachen vom 2. Dezember 1966 abgeändert und die Klage abgewiesen.
In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, daß der Kläger keinen Rechtsanspruch auf Versorgung habe. Zu diesem Ergebnis ist das LSG aufgrund der Würdigung der Gutachten von Prof. Dr. H und Dozent Dr. Sch sowie der Professoren Dr. A und Dr. St gelangt.
Ebenso stehe dem Kläger eine Versorgung im Wege des Härteausgleichs nicht zu. Dies sei nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG nur dann möglich, wenn die zur Anerkennung der Endangiitis obliterans als Folge einer Schädigung im Sinne des § 1 BVG erforderliche Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs nur deshalb nicht gegeben sei, weil über die Ursache dieser Erkrankung in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit bestehe. Der Sachverständige Prof. Dr. A sei in seinem Gutachten vom 20. Februar 1968 zu dem Ergebnis gelangt, daß die zur Anerkennung der Endangiitis obliterans des Klägers als Folge einer Schädigung i.S. des § 1 BVG erforderliche Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs nicht nur deshalb nicht gegeben sei, weil über die Ursache des Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit bestehe, sondern weil die vom Kläger angeschuldigten Schädigungen (banale Erkältungskrankheiten bei oftmals nassen Füßen) nach den Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft nicht geeignet seien, das beim Kläger bestehende generalisierte Gefäßleiden hervorzurufen. Wenn Prof. Dr. St einen zeitlichen Zusammenhang des Beginns des Leidens des Klägers mit Einflüssen des Wehrdienstes annehme und daraus die Folgerung ziehe, daß dem Kläger deshalb eine Versorgung im Wege des Härteausgleichs gewährt werden müsse, so verkenne er schon, daß ein rein zeitlicher Zusammenhang insoweit nicht genüge.
Auch bei Anwendung der vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) bekanntgegebenen Grundsätze über die Gewährung von Härteausgleich bei der Erkrankung an einem generalisierten Gefäßleiden könne dem Kläger ein Härteausgleich nicht zuerkannt werden. Der BMA habe in seinen Richtlinien die Anerkennung der Endangiitis obliterans nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG davon abhängig gemacht, daß ein schweres lokales Trauma (entweder durch Gewebsdefekte oder durch mehrwöchige Lazarettbehandlung nachgewiesen) und eine gefäßaktive Infektionskrankheit zeitlich kombiniert als Schädigungstatbestand vorgelegen haben und die ersten Erscheinungen der Endangiitis obliterans innerhalb von 3 Jahren danach in Erscheinung getreten seien. Beim Kläger sei aber weder ein schweres lokales Trauma nachgewiesen noch habe er eine gefäßaktive Infektionskrankheit wie Typhus oder Malaria durchgemacht. Die Voraussetzungen für die Anerkennung als Versorgungsleiden im Wege des Härteausgleichs seien daher nicht gegeben.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat gegen das ihm am 12. Februar 1969 zugestellte Urteil mit Schriftsatz vom 14. Februar 1969, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG) am 19. Februar 1969, Revision eingelegt und diese nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 12. Mai 1969 mit Schriftsatz vom 28. April 1969, eingegangen beim BSG am 30. April 1969, begründet.
Er beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.
In seiner Revisionsbegründung, auf die Bezug genommen wird, rügt der Kläger eine Verletzung des § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG und des § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG durch das LSG. Er führt hierzu insbesondere aus, daß die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, entgegen der Auffassung des LSG, in Fällen der vorliegenden Art nicht an die Richtlinien des BMA gebunden seien. Diese Richtlinien enthielten nur Rahmenbestimmungen, die dann zurücktreten müßten, wenn namhafte ärztliche Gutachter die Gewährung der Kann-Versorgung trotz Nichtvorliegens der vom BMA geforderten Voraussetzungen befürwortet hätten. Der Gutachter Prof. Dr. St habe angenommen, daß eine Versorgung im Wege des Härteausgleichs gerechtfertigt sei, weil die Endangiitis obliterans in der Zeit des militärischen Dienstes entstanden sei.
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers gegen das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 9. Januar 1969 als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Im übrigen wird zur Darstellung seines Vorbringens auf die Revisionserwiderung vom 9. Juni 1969 verwiesen.
Die durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist daher zulässig. Die Revision ist jedoch nicht begründet.
Das LSG hat zutreffend entschieden, daß dem Kläger keine Versorgung gemäß § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG zusteht. Nach dieser Vorschrift in der hier anzuwendenden Fassung des Zweiten und Dritten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Kriegsopferrechts vom 21. Februar 1964 und 20. Januar 1967 (BGBl 1964, 85 und BGBl 1967 I, 141) kann mit Zustimmung des BMA Versorgung (in gleicher Weise) wie für Schädigungsfolgen gewährt werden, wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht. Aus dem Wort "kann" ergibt sich, daß es sich bei dem Versorgungsanspruch nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG um eine Ermessensleistung der Versorgungsbehörde handelt, die nur daraufhin geprüft werden kann, ob die Versorgungsbehörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten hat oder ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Jedoch ist - wie auch in anderen Fällen einer Ermessensleistung - bei einer solchen Ermessensentscheidung das Ermessenshandeln der Behörde von dem Vorliegen gewisser Voraussetzungen abhängig gemacht (BSG 29, 278, 282). Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist aber nicht unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des Ermessens (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG) zu prüfen, vielmehr sind die tatbestandsmäßigen (materiell-rechtlichen) Leistungsvoraussetzungen, an die die Gewährung einer Versorgung als "Kannleistung" geknüpft ist, von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ebenso nachzuprüfen wie die Voraussetzungen bei anderen Leistungen, also unter allen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten (BSG aaO; Urteil des 9. Senats des BSG vom 26.11.1968 - 9 RV 610/66 - und vom 6.5.1969 - 9 RV 434/67 -; Urteile des erkennenden Senats vom 23.5.1969 - 10 RV 150/66 und vom 9. Oktober 1969 - 10 RV 480/67 -). Liegen bereits die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG für das Ermessenshandeln der Versorgungsbehörde nicht vor, dann ist die Ablehnung des Versorgungsanspruchs immer rechtmäßig, weil in einem solchen Fall für die Ausübung des Ermessens die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen fehlen und eine Leistung unter keinen Umständen nach dem Ermessen der Versorgungsbehörde gewährt werden darf.
Zu den tatbestandsmäßigen Voraussetzungen, die vorliegen müssen, damit dem Kläger die begehrte Versorgung gewährt werden kann, gehört im vorliegenden Fall, daß die zur Anerkennung der vom Kläger geltend gemachten Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit "nur deshalb" nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht. Das LSG hat hierzu ausgeführt (s. dazu Seite 8 des Urteilsabdrucks), Prof. Dr. A komme in seinem Gutachten vom 20. Februar 1968 zu dem Ergebnis, "die zur Anerkennung der Endangiitis obliterans des Klägers als Folge einer Schädigung i.S. des § 1 BVG erforderliche Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs sei nicht nur deshalb nicht gegeben, weil über die Ursache des Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit bestehe, sondern weil die eben angeschuldigten Schädigungen (banale Erkältungskrankheiten bei oftmals nassen Füßen) nach den Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft nicht geeignet seien, ein generalisiertes Gefäßleiden, wie es beim Kläger vorliege, hervorzurufen". Aus diesen Ausführungen des LSG, die es mit dem Satz eingeleitet hat, daß beim Kläger die Voraussetzungen für die Gewährung eines Härteausgleichs nicht vorliegen, muß die Feststellung entnommen werden, daß zwar die Endangiitis obliterans des Klägers zu denjenigen Leiden gehört, über deren Ursache in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht, daß jedoch die zur Anerkennung dieser Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nicht "nur deshalb" nicht gegeben ist, weil jene Ungewißheit über die Ursache des Leidens in der ärztlichen Wissenschaft besteht. Vielmehr fehlt es nach den Feststellungen des LSG an der für einen Rechtsanspruch des Klägers auf Versorgung erforderlichen Wahrscheinlichkeit i.S. des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG, weil die "angeschuldigten Schädigungen (banale Erkältungskrankheiten bei oftmals nassen Füßen) nach den Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft nicht geeignet" sind, ein generalisiertes Gefäßleiden, wie es beim Kläger vorliegt, hervorzurufen. Diese vom LSG getroffenen Feststellungen hat der Kläger mit begründeten Revisionsrügen (§ 163 SGG) nicht angegriffen, so daß sie für den Senat bindend sind. Sein Vorbringen bezieht sich allein auf die Frage, ob das LSG das Ermessenshandeln der Versorgungsbehörde im Rahmen des § 54 Abs. 2 Satz 2 BVG insoweit unbeschränkt nachzuprüfen verpflichtet ist, als es hierbei nicht an Richtlinien des BMA gebunden ist, die dieser im Rahmen seiner Zustimmungskompetenz nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG für die Versorgungsbehörden gegeben hat. Aus diesem Vorbringen des Klägers ist aber die Rüge eines Verfahrensmangels in Bezug auf die oben gekennzeichneten Feststellungen des LSG nicht zu entnehmen. Auf die von dem Kläger hervorgehobene Rechtsfrage, deretwegen das LSG auch die Revision zugelassen hat, nämlich ob das Gericht bei der Überprüfung einer Ermessensentscheidung nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG an Richtlinien des BMA gebunden ist oder nicht, kommt es im vorliegenden Fall nicht mehr an. Steht nämlich bindend fest, daß die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen für das Ermessenshandeln der Versorgungsbehörde nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG nicht vorliegen, weil die zur Anerkennung der Endangiitis obliterans des Klägers als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs nicht nur wegen der in der medizinischen Wissenschaft über die Ursache dieses Leidens bestehenden Ungewißheit nicht gegeben ist, sondern weil die angeschuldigten schädigenden Einwirkungen nach den Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft nicht geeignet sind, das beim Kläger vorhandene generalisierte Gefäßleiden hervorzurufen, so kommt es auf ein Ermessenshandeln der Versorgungsbehörde nicht mehr an.
Da es somit an den tatbestandsmäßigen Voraussetzungen eines Versorgungsanspruchs nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG fehlt, hat der Kläger somit auch keinen Anspruch auf diese Versorgung.
Die Revision des Klägers gegen das im Ergebnis zutreffende Urteil des LSG war somit als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen