Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 26.03.1992) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. März 1992 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Rechtsstreit betrifft einen Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg) für einen Zeitraum, in dem die Klägerin ihren Wohnsitz in den Niederlanden hatte.
Die Klägerin war in Deutschland beschäftigt. Nachdem ihr Ehemann – ein Soldat der Bundeswehr – aus Deutschland in die Niederlande versetzt worden war, verlegte sie im April 1987 ihren Wohnsitz grenznah nach S. … (Niederlande). Zu dieser Zeit befand sich die Klägerin im Erziehungsurlaub, der am 9. August 1987 endete. Zum Ende des Erziehungsurlaubs kündigte die Klägerin ihr Arbeitsverhältnis in Deutschland. Da sie die Absicht hatte, in Deutschland zu arbeiten, wandte sie sich erstmals am 26. August 1987 an die von S. … rund 15 Kilometer entfernt liegende Dienststelle Geilenkirchen des Arbeitsamts Aachen. Wegen ihres Wohnsitzes in den Niederlanden wurde sie an die niederländische Arbeitsverwaltung verwiesen, bei der sie am folgenden Tag vorsprach. Die niederländische Arbeitsverwaltung lehnte die Zahlung von Alg mit Bescheid vom 6. April 1988 ab, weil die Klägerin in den Niederlanden nicht arbeitslosenversichert beschäftigt gewesen sei. Daraufhin beantragte die Klägerin mit Schreiben vom 6. April 1988 Alg beim Arbeitsamt Bonn. Dieses lehnte den Antrag mit Bescheid vom 14. April 1988 ab, weil sich die Klägerin nicht persönlich beim zuständigen Arbeitsamt arbeitslos gemeldet habe und vor ihrer Ausreise aus Deutschland nicht arbeitslos gewesen sei. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 30. Mai 1988).
Die auf Zahlung von Alg ab August 1987 gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) Nürnberg mit Urteil vom 19. Juli 1990 abgewiesen. Die dagegen gerichtete Berufung der Klägerin, die sie mit Hinweis auf Art 71 Abs 1 Buchst b) Ziff i) der Verordnung Nr 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (EWGV Nr 1408/71) vom 14. Juni 1971 begründet hat, hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 26. März 1992 zurückgewiesen. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, wegen des Territorialprinzips des § 30 Abs 1 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I) kämen Ansprüche nur nach der EWGV Nr 1408/71 in Betracht. Im Falle der Klägerin treffe dies aber nicht zu. Die Klägerin sei nicht Grenzgängerin iS des Art 71 Abs 1 Buchst a) EWGV Nr 1408/71, weil sie nach Verlegung ihres Wohnsitzes in die Niederlande nicht mehr nach Deutschland zurückgekehrt sei, um dort ihrer Beschäftigung weiter nachzugehen. Die Klägerin gehöre auch nicht zu den Arbeitnehmern, die iS des Art 71 Abs 1 Buchst b) EWGV Nr 1408/71 nicht Grenzgänger seien. Stelle sie sich nämlich der Arbeitsverwaltung in Deutschland zur Verfügung oder nehme sie eine Beschäftigung auf, so wäre sie Grenzgängerin und hätte Ansprüche gegen die Arbeitsverwaltung der Niederlande. In keinem Falle seien Ansprüche gegen die beklagte Bundesanstalt (BA) begründet.
Die Klägerin hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt die Verletzung des § 30 Abs 2 SGB I und des Art 71 Abs 1 Buchst b) Ziff i) EWGV Nr 1408/71. Sie beruft sich dazu auf Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), wonach Wanderarbeitnehmern Leistungen zu den Bedingungen garantiert seien, die für die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz am günstigsten seien. Dementsprechend räume Art 71 Abs 1 Buchst b) EWGV Nr 1408/71 Arbeitnehmern, die nicht Grenzgänger seien, ein Wahlrecht ein. Sie könnten sich entweder nach Ziff i) der Vorschrift der Arbeitsverwaltung ihres letzten Beschäftigungsstaates oder nach Ziff ii) der Arbeitsverwaltung des Wohnstaates zur Verfügung stellen. Die Klägerin sei nicht Grenzgängerin iS dieser Vorschriften, denn sie habe trotz des Bestehens ihres Arbeitsverhältnisses in Deutschland die Grenze nicht mehr überquert, um ihren Arbeitsplatz aufzusuchen. Entgegen der Ansicht des LSG werde die Klägerin nicht dadurch Grenzgängerin, daß sie sich der Arbeitsvermittlung in Deutschland – ihres letzten Beschäftigungsstaates – zur Verfügung stelle. Mit Rücksicht auf die befristete Versetzung ihres Ehemannes und die Absicht, eine Beschäftigung in Deutschland von ihrem grenznahen Wohnsitz in den Niederlanden aus aufzunehmen, beständen auch enge Beziehungen zwischen der Klägerin und Deutschland. Das Fehlen einer persönlichen Arbeitslosmeldung könne der Klägerin nicht entgegengehalten werden, weil Dienststellen der BA die verständnisvolle Förderung der Klägerin versäumt hätten. Schließlich sei das LSG nicht gesetzlicher Richter iS des Art 101 Grundgesetz (GG) gewesen, weil es die Vorabentscheidung des EuGH hätte einholen müssen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. März 1992, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 19. Juli 1990 und den Bescheid des Arbeitsamts Bonn vom 14. April 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. Mai 1988 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 26. August 1987 Arbeitslosengeld zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält an ihrer Ansicht fest, der Klägerin stehe ein Wahlrecht nicht zu. Dieses sei nach der Rechtsprechung des EuGH nur gegeben, wenn der Arbeitnehmer während der letzten Beschäftigung im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates als des zuständigen Staates gewohnt habe.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist iS der Aufhebung und Zurückverweisung begründet. Das Urteil des LSG verletzt Art 71 Abs 1 Buchst b) Ziff i) EWGV Nr 1408/71. Danach kommen die europarechtlichen Voraussetzungen entgegen der Ansicht des LSG für die Inanspruchnahme der BA in Betracht. Für eine abschließende Entscheidung reichen die tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht aus.
1. Ein Anspruch der Klägerin auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit läßt sich nicht unmittelbar auf Vorschriften des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) stützen, denn § 30 Abs 1 SGB I beschränkt den Geltungsbereich des SGB, zu dem nach Art II § 1 Nr 2 SGB I auch das AFG gehört, auf Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im räumlichen Geltungsbereich des SGB – Deutschland -haben (dazu näher: BSG Urteil vom 8. Juli 1993 – 7 RAr 44/92 – unveröffentlicht). Zu diesem Personenkreis gehört die Klägerin nicht. Sie hat ihren Wohnsitz am 1. April 1987 nach S. … (Niederlande) verlegt und hatte damit weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des SGB.
Die Zuständigkeit der beklagten BA für Leistungen bei Arbeitslosigkeit kann sich jedoch entsprechend dem Vorbehalt des § 30 Abs 2 SGB I zugunsten des überstaatlichen Rechts unmittelbar aus Art 71 Abs 1 Buchst b) Ziff i) EWGV Nr 1408/71 ergeben:
1.1 Art 71 Abs 1 EWGV Nr 1408/71 betrifft die Gewährung von Leistungen an einen arbeitslosen Arbeitnehmer, der während seiner letzten Beschäftigung im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates als des zuständigen Staates wohnte. Diese Merkmale treffen auf die Klägerin zu. Sie ist Arbeitnehmer iS der Begriffsbestimmung des Art 1 Buchst a) Ziff i) EWGV Nr 1408/71, denn sie war unstreitig gegen Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer erfaßt werden, pflichtversichert. Die Klägerin war auch während ihrer letzten Beschäftigung im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates als des zuständigen Staates wohnhaft. Ihre Beschäftigung in Deutschland dauerte bis zur Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses durch Kündigung zum 9. August 1987 an. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, an die der Senat nach § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gebunden ist, befand die Klägerin sich in dieser Zeit durchgehend im Erziehungsurlaub und suchte deshalb ihren Arbeitsplatz in Deutschland nicht mehr auf. Der Umstand, daß die Klägerin nach der Verlegung ihres Wohnsitzes in die Niederlande ihre Beschäftigung tatsächlich nicht mehr ausgeübt hat, läßt eine abweichende Beurteilung gemeinschaftsrechtlich nicht zu. Der Rechtsprechung des EuGH ist zu entnehmen, daß die Unterscheidung des deutschen Sozialversicherungsrechts zwischen Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis (dazu: Urteil des Senats vom 28. September 1993 – 11 RAr 69/92 – zur Veröffentlichung vorgesehen) für das Gemeinschaftsrecht nicht vorzunehmen ist. So hat der EuGH die Anwendbarkeit des Art 71 Abs 1 EWGV Nr 1408/71 bereits in einem Fall angenommen, in dem ein Arbeitnehmer seinen Wohnsitz während eines das Arbeitsverhältnis abschließenden Mutterschutzurlaubs in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hat (EuGHE 1988, 5125 = SozR 6050 Art 71 Nr 10 ≪Bergemann≫). Für den hier zu beurteilenden Fall der Verlegung des Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat während des das Arbeitsverhältnis abschließenden Erziehungsurlaubs kann nichts anderes gelten.
Zuständiger Staat ist nach Art 1 Buchst q) EWGV Nr 1408/71 derjenige Mitgliedstaat, in dessen Gebiet der zuständige Träger seinen Sitz hat. Das ist hier die beklagte BA, denn die Klägerin hätte aufgrund ihrer Beschäftigung in Deutschland gegen die BA einen Anspruch auf Leistungen, wenn sie im Bundesgebiet gewohnt hätte (Art 1 Buchst o) Ziff i) EWGV Nr 1408/71). Deutschland ist damit im vorliegenden Zusammenhang zuständiger Staat.
1.2 Leistungsansprüche gegen die BA als zuständigen Leistungsträger begründet Art 71 Abs 1 Buchst b) Ziff i) EWGV Nr 1408/71 nach den Vorschriften des AFG (Rechtsvorschriften des zuständigenn Staates) ua bei Arbeitslosigkeit für Arbeitnehmer, die nicht Grenzgänger sind und weiterhin der Arbeitsverwaltung des zuständigen Staates zur Verfügung stehen. Die Klägerin war nicht Grenzgänger. Als Grenzgänger bezeichnet Art 1 Buchst b) EWGV Nr 1408/71 jeden Arbeitnehmer oder Selbständigen, der seine Berufstätigkeit im Gebiet eines Mitgliedstaates ausübt und im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates wohnt, in das er in der Regel täglich, mindestens aber einmal wöchentlich zurückkehrt. Diese Merkmale waren bei der Klägerin in dem Zeitraum zwischen der Übersiedlung in die Niederlande im April 1987 und der Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses im August 1987 nicht gegeben. Sie war aber Arbeitnehmer iS des Art 1 Buchst a) Ziff i) EWGV Nr 1408/71. Im übrigen ruhten während des Erziehungsurlaubs die Hauptpflichten aus dem Arbeitsverhältnis (vgl Begründung des Regierungsentwurfs zu § 15 Bundeserziehungsgeldgesetz ≪BErzGG≫ BT-Drucks 10/3792, S 19; BAG AP Nr 1 zu § 15 BErzGG). Das Arbeitsverhältnis bestand also auch nach Verlegung des Wohnsitzes in die Niederlande. Die Klägerin erfüllte mithin die Voraussetzungen für die Anwendung des Art 71 Abs 1 Buchst b) Ziff i) EWGV Nr 1408/71, denn sie war nicht Grenzgänger nach Art 1 Buchst b) EWGV Nr 1408/71 (EuGHE 1988, 5125 = SozR 6050 Art 71 Nr 10 ≪Bergemann≫). Auch insoweit folgt der Senat der Rechtsprechung des EuGH, der für das Merkmal des Grenzgängers iS des Art 71 Abs 1 EWGV Nr 1408/71 ausdrücklich den Rückgriff auf die erwähnte Begriffsbestimmung des Art 1 Buchst b EWGV Nr 1408/71 ausreichen läßt. Konkret hat der EuGH aaO die Anwendbarkeit des Art 71 Abs 1 Buchst b) ii) EWGV Nr 1408/71 für Arbeitnehmer bejaht, die während eines das Arbeitsverhältnis abschließenden Urlaubs den Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union verlegen. Im entschiedenen Fall hat der EuGH einen Leistungsanspruch gegen Deutschland als Wohnstaat begründet, obwohl Beiträge ausschließlich an den Träger des Beschäftigungsstaates erbracht worden waren. Der Senat verkennt nicht, daß der EuGH seine Rechtsansicht zu einer vom hier zu beurteilenden Sachverhalt abweichenden Fallgestaltung und zu der hier nicht einschlägigen Ziff ii) des Art 71 Abs 1 Buchst b) EWGV Nr 1408/71 entwickelt hat. Anhaltspunkte für eine abweichende Auslegung des Merkmals „Arbeitnehmer, der nicht Grenzgänger ist” im vorliegenden Zusammenhang sind nicht ersichtlich. Insbesondere ist diese im Hinblick auf den Ausnahmecharakter des Art 71 Abs 1 Buchst b) EWGV Nr 1408/71 nicht angezeigt. Erwägungen in dieser Richtung betreffen Ziff ii) der Vorschrift, die zu einer Inanspruchnahme des Wohnstaates anstelle des Mitgliedstaates der letzten Beschäftigung führen kann. Die Begründung von Ansprüchen gegenüber dem Wohnstaat durchbricht damit die Konkordanz von Beitragsentrichtung und Leistungsanspruch nach Art 13 Abs 2 Buchst a) EWGV Nr 1408/71, so daß der EuGH zur Wahrung des angedeuteten Grundsatzes eine enge Auslegung des Art 71 Abs 1 Buchst b) Ziff ii) EWGV Nr 1408/71 für geboten hält. Dieser Gedanke ist hier nicht tragfähig, denn die Anwendung des Art 71 Abs 1 Buchst b) Ziff i) EWGV Nr 1408/71 begründet gerade die Inanspruchnahme des Trägers des Beschäftigungsstaates. Zu dem Sicherungssystem des Beschäftigungsstaates aber hat der Arbeitnehmer durch Beitragsleistung eine Anwartschaft begründet. Die Feststellung enger persönlicher oder beruflicher Bindungen der Klägerin zu diesem Staat erübrigt sich, weil sie weder Grenzgängerin ist (vgl EuGHE 1986, 1837 = SozR 6050 Art 71 Nr 8 ≪Miethe≫) noch ihren Wohnstaat in Anspruch nimmt (EuGHE 1988, 5125 = SozR 6050 Art 71 Nr 10 ≪Bergemann≫). Der vom EuGH herausgestellte Sinn der Ausnahmeregelung des Art 71 Abs 1 Buchst b) EWGV Nr 1408/71, „Wanderarbeitnehmern Leistungen bei Arbeitslosigkeit zu den Bedingungen zu garantieren, die für die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz am günstigsten sind” (EuGH, aaO, 5147), fordert gerade hier, ein Wahlrecht der Klägerin zwischen der Inanspruchnahme des Trägers des Beschäftigungsstaates und des Wohnstaates anzunehmen. Die Klägerin hatte ihren Wohnsitz zwar in den Niederlanden, aber grenznah zu Deutschland im Nahbereich (vgl § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG; § 2 Satz 2 Aufenthalts-Anordnung ≪ANBA 1990, 600≫) des Arbeitsamts Aachen. Eine Arbeitssuche in Deutschland lag auch aus sprachlichen Gründen nahe, zumal die Klägerin wegen der befristeten Versetzung ihres Ehemannes sich nicht auf einen dauernden Aufenthalt in den Niederlanden einrichten mußte. Trotz ihres Wohnsitzes in den Niederlanden erscheint eine Arbeitssuche in Deutschland unter diesen Umständen naheliegend und sinnvoll.
1.3 Der Inanspruchnahme der BA steht auch nicht entgegen, daß die Klägerin bei dem niederländischen Träger einen abschlägig beschiedenen Leistungsantrag gestellt hat. Nach Art 71 Abs 2 EWGV Nr 1408/71 ist der Anspruch gegen den Träger des Wohnstaates gegenüber dem Anspruch aus Art 71 Abs 1 Buchst b) Ziff i) EWGV Nr 1408/71 gegen den Beschäftigungsstaat subsidiär.
2. Die Anwendung dieser Vorschrift läßt sich nicht mit der Erwägung des LSG ausschließen, im Falle der Arbeitsaufnahme werde die Klägerin zum Grenzgänger. Die Begriffsbestimmung des Art 1 Buchst b) EWGV Nr 1408/71 knüpft ausdrücklich an tatsächliche Gegebenheiten, nicht aber an hypothetische Tatsachen an. Allein dieses Verständnis entspricht dem Regelungskonzept der verschiedenen, aufeinander bezogenen Bestimmungen des Art 71 Abs 1 EWGV Nr 1408/71. In anderem Zusammenhang hat der EuGH bereits entschieden, daß ein Arbeitnehmer die Grenzgängereigenschaft nicht deshalb verliert, weil er arbeitslos wird (EuGHE 1991, 4875 ≪Faux≫; vgl auch den Hinweis des Generalanwalts in seinen Schlußanträgen EuGHE 1988, 5125 zu Nr 21). Die abweichenden Überlegungen des LSG sind insofern nicht widerspruchsfrei, als das LSG einerseits die Klägerin im Anschluß an Rechtsprechung des EuGH „Arbeitnehmern, die nicht Grenzgänger sind” zuordnet, andererseits aber die sich daraus ergebende Rechtsfolge des Wahlrechts zwischen der Inanspruchnahme des Trägers des Beschäftigungsstaates oder des Wohnstaates wegen der bloßen Möglichkeit einer Arbeitsaufnahme im Beschäftigungsstaat verneint.
2.1 Auch die Bedenken der BA gegen ihre Leistungspflicht gegenüber Arbeitslosen, die ihren Wohnsitz nicht in Deutschland haben, greifen angesichts der Regelung des Art 71 Abs 1 Buchst b) Ziff i) EWGV Nr 1408/71 nicht durch. Diese Leistungspflicht besteht auch gegenüber Arbeitnehmern, die nicht Grenzgänger sind, nur, wenn sie wie Arbeitsuchende in Deutschland der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehen. Wegen der auch durch diese Vorschrift gewährleisteten Freizügigkeit von Arbeitnehmern in der Europäischen Union ist es Aufgabe der zuständigen Träger, eine wirksame Kontrolle dieser Leistungsvoraussetzung in Zusammenarbeit mit dem Träger des Wohnstaates – möglicherweise durch Inanspruchnahme der Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Arbeitnehmer (Art 80, 81 Buchst d) EWGV Nr 1408/71) – zu organisieren.
2.2 Der Senat ist durch Art 177 Abs 3 des Vertrages zur Gründung der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. März 1957 nicht gehindert, ohne Vorabentscheidung des EuGH zu entscheiden. Zwar ist die Entscheidung des Senats von der Auslegung des Art 71 Abs 1 Buchst b) Ziff i) EWGV Nr 1408/71 abhängig. Entsprechend der Aufgabe des EuGH, eine einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu sichern, besteht eine Vorlagepflicht nicht, wenn die Auslegung entscheidungserheblicher Normen durch die bisherige Rechtsprechung des EuGH bereits geklärt ist (BSGE 70, 206, 215 = SozR 3-4100 § 4 Nr 3 mwN). Dies trifft hier zu, denn die entscheidungserhebliche Frage, wer als „Arbeitnehmer, der nicht Grenzgänger ist”, zu behandeln ist, hat der EuGH – wie ausgeführt – bereits beantwortet. Die abweichende Fallkonstellation macht eine erneute Vorlage nicht erforderlich, denn Vorabentscheidungen des EuGH beziehen sich auf die Auslegung, nicht die Anwendung des Gemeinschaftsrechts im Einzelfall. Diese ist den Gerichten der Mitgliedstaaten aufgegeben (vgl EuGHE 1986, 1937 = SozR 6050 Art 71 Nr 8 ≪Miethe≫).
3. Schließlich scheitert die Inanspruchnahme der BA nicht daran, daß die Regelungen der örtlichen Zuständigkeit in § 129 Abs 1 und 2 AFG einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt des Leistungsbeziehers im Bundesgebiet voraussetzen. Der Gesetzgeber des AFG hat die hier nach Art 71 Abs 1 Buchst b) Ziff i) EWGV Nr 1408/71 eingetretene Möglichkeit einer Leistungspflicht der BA gegenüber Arbeitslosen, die ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt außerhalb Deutschlands haben, nicht bedacht. Diese planwidrige Unvollständigkeit der Zuständigkeitsregelungen kann nicht dazu führen, daß möglicherweise materiell begründete Leistungsansprüche von Dienststellen der BA mit dem Hinweis auf fehlende örtliche Zuständigkeit abgelehnt werden. Solange eine ausdrückliche Zuständigkeitsregelung fehlt, folgt aus der erörterten gemeinschaftsrechtlichen Regelung und aus verwaltungspraktischen Gesichtspunkten, daß die Klägerin mit der ihrem Wohnsitz nächstgelegenen Dienststelle Geilenkirchen des Arbeitsamts Aachen das für ihre Arbeitslosmeldung zuständige Arbeitsamt in Anspruch genommen hat.
4. Da das Urteil des LSG auf einer Verletzung des Art 71 Abs 1 Buchst b) Ziff i) EWGV Nr 1408/71 beruht, ist es mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben. Die Sache ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, weil die tatsächlichen Feststellungen für eine abschließende Entscheidung des Senats nicht ausreichen (§ 170 Abs 2 SGG).
Nach Art 71 Abs 1 Buchst b) Ziff i) EWGV Nr 1408/71 richten sich Leistungen der Klägerin nach §§ 100 ff AFG. Zu den danach maßgeblichen Anspruchsvoraussetzungen hat das LSG – nach der von ihm vertretenen Rechtsansicht folgerichtig – tatsächliche Feststellungen nicht getroffen. Die fehlenden Feststellungen wird das LSG nachzuholen haben. Dazu wird zu klären sein, ob die Klägerin sich bei ihrer Vorsprache in der Dienststelle Geilenkirchen des Arbeitsamts Aachen am 26. August 1987 – was naheliegt – arbeitslos gemeldet hat. Gegebenenfalls wird in der Arbeitslosmeldung zugleich ein Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Alg zu sehen sein, sofern Umstände während der Vorsprache nicht darauf hindeuten, daß die Klägerin nicht den Willen zum Ausdruck bringen wollte, während der Arbeitslosigkeit Leistungen zu beziehen (BSGE 42, 199, 200 f = SozR 4100 § 151 Nr 5; Gagel/Steinmeyer, AFG § 100 RdNr 6 – Stand: Januar 1985). Sollte diese Prüfung zu einem negativen Ergebnis führen, wird zu prüfen sein, ob die Klägerin durch unrichtige Belehrung von Bediensteten der BA daran gehindert worden ist, sich arbeitslos zu melden und einen Leistungsantrag zu stellen. In diesem Falle wird das LSG die Voraussetzungen für einen Herstellungsanspruch zu prüfen haben (dazu: BSGE 71, 17, 22 = SozR 3-4100 § 103 Nr 8 mwN). Außer der Erfüllung der Anwartschaftszeit (§ 104 AFG) wird zu klären sein, ob familiäre Bindungen (Kinderbetreuung) der Verfügbarkeit der Klägerin für die Arbeitsvermittlung entgegenstehen.
Bei einer erneuten Entscheidung wird das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen