Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosenhilfe. Anrechnung von Vermögen. Kapitalvermögen. Zumutbarkeit der Verwertung. Anzahl der Wochen fiktiv fehlender Bedürftigkeit. Sozialrechtlicher Herstellungsanspruch
Leitsatz (redaktionell)
- Zur Klärung der Zumutbarkeit der Verwertung von Kapitalvermögen bei hohen jährlichen Mieteinnahmen ist im Einzelnen zu ermitteln, welche Belastungen im Zusammenhang mit dem Vermögen vorhanden bzw. zu erwarten waren, sowie, wie hoch die Einnahmen genau sind.
- Die Anzahl der Wochen fiktiv fehlender Bedürftigkeit ist im Einzelnen zu klären.
- Die Agentur für Arbeit ist nicht verpflichtet, einen Arbeitslosen darüber zu beraten, wie er am günstigsten Bedürftigkeit herbeiführen kann, um Arbeitslosenhilfe zu erhalten.
Normenkette
SGB III § 193; AlhiV 1998 § 6 Abs. 1, 3 S. 1; AlhiV 1974 § 9
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. Juni 2004 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Im Streit ist (nur) die Zahlung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit von 76 Wochen, beginnend mit dem 7. August 1998.
Der 1952 geborene Kläger bezog bis 6. August 1998 (Erschöpfung des Anspruchs) Arbeitslosengeld (Alg). Die Gewährung von Anschluss-Alhi ab 7. August 1998 lehnte die Beklagte für 76 Wochen im Hinblick auf zum Zeitpunkt der Antragstellung vorhandenes Kapitalvermögen ab (Bescheid vom 21. Juni 1999; Widerspruchsbescheid vom 26. Januar 2000). Zum Zeitpunkt der Antragstellung besaß der Kläger bei verschiedenen Kreditinstituten Geldguthaben in Höhe von insgesamt 107.768,04 DM; zusätzlich war er Inhaber dreier Lebensversicherungen in Höhe von jeweils 50.000,00 DM (zuteilungsreif in den Jahren 2018, 2023 und 2028); außerdem war er Eigentümer zweier bebauter Grundstücke. Ein Haus mit einer Wohnfläche von 126 qm bewohnte er zur Hälfte selbst; die zweite Hälfte dieses Hauses und das andere Haus waren vermietet.
Gegen den Bescheid der Beklagten, der ausdrücklich nur das Kapitalvermögen bei den Kreditinstituten berücksichtigte und die Prüfung des übrigen Vermögens erst nach einer erneuten Antragstellung für die Zeit nach Ablauf der 76 Wochen ankündigte, hat der Kläger Klage erhoben, die sowohl beim Sozialgericht (SG) als auch beim Landessozialgericht (LSG) erfolglos blieb (Urteil des SG vom 4. April 2002; Urteil des LSG vom 17. Juni 2004). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG gemäß § 153 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf das Urteil des SG verwiesen. Dieses hatte die Klage mit der Begründung abgewiesen, der Kläger sei allein im Hinblick auf das vorhandene Kapitalvermögen für 76 Wochen nicht bedürftig iS des § 193 Abs 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) gewesen. Die Verwertung des Vermögens sei dem Kläger auch zumutbar. Selbst wenn – wie von ihm vorgetragen – Reparaturen an beiden Wohnhäusern durchzuführen seien bzw Kredite zurückgezahlt werden müssten, ändere dies hieran nichts. Denn Reparaturkosten würden im Allgemeinen aus den Mieteinnahmen bestritten, die beim Kläger nach eigenen Angaben für das nicht von ihm bewohnte Mehrfamilienhaus 76.000,00 DM jährlich und für das von ihm bewohnte Haus 4.000,00 DM jährlich betrügen. Falls die Mieteinnahmen für die erforderlichen Reparaturen nicht ausreichen sollten, müsse das Mehrfamilienhaus ggf durch Verkauf verwertet werden. Ziehe man vom Kapitalvermögen des Klägers in Höhe von 107.780,04 DM einen vom Kläger als nicht verfügbar geltend gemachten Betrag von 893,21 DM und den in der Arbeitslosenhilfeverordnung (AlhiV) vorgesehenen Freibetrag von 8.000,00 DM ab, verbleibe immer noch ein Betrag, der nach § 9 AlhiV bei einem Bemessungsentgelt von 1.300,00 DM für 76 Wochen Bedürftigkeit des Klägers ausschlösse.
Der Kläger rügt eine Verletzung des § 193 Abs 2 SGB III iVm § 6 Abs 3 Satz 1 AlhiV. Er ist der Ansicht, die Bedürftigkeitsprüfung dürfe sich nicht auf die Berücksichtigung eines Teilvermögens beschränken. Vielmehr sei eine Saldierung des gesamten Vermögens insbesondere in Hinblick auf den Sanierungsbedarf des Mietshauses und die Verpflichtung zur Rückzahlung von Verbindlichkeiten erforderlich. Bei der Berücksichtigung nur von Teilvermögen bleibe im Unklaren, welche Vermögensbestandteile später noch berücksichtigt werden könnten. Das LSG habe im Übrigen seine Amtsermittlungspflicht (§§ 103, 106 SGG) und sein (des Klägers) rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 Grundgesetz) verletzt; in der Entscheidung sei es mit keinem Wort auf die von ihm geforderte Saldierung eingegangen. Schließlich macht er geltend, Alhi sei ihm zumindest unter Anwendung der Grundsätze des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zu bewilligen. Er habe im Antragsverfahren mehrfach um verbindliche Auskünfte nachgesucht, wie hinsichtlich der vorhandenen Vermögenswerte in der Verwaltungspraxis der Bundesagentur für Arbeit verfahren werde. Hätte man ihn entsprechend beraten, so hätte er ggf den Antrag auf Bewilligung von Alhi zu einem späteren Zeitpunkt gestellt, insbesondere dann, wenn er bereits die erforderlichen Investitionen zur Erhaltung seiner Immobilien getätigt hätte.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid der Beklagten vom 21. Juni 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Januar 2000 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Alhi ab 7. August 1998 für 76 Wochen zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, das LSG habe zu Recht ihren Bescheid bestätigt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist im Sinne der Aufhebung der Entscheidung des LSG und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Es fehlen tatsächliche Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG dazu, inwieweit das Kapitalvermögen des Klägers iS des § 6 Abs 1 und 3 Satz 1 AlhiV vom 7. August 1974 (AlhiV 1974; BGBl I 1929) idF der Fünften Verordnung zur Änderung der AlhiV vom 25. September 1998 (BGBl I 3112) verwertbar und eine Verwertung zumutbar war, sowie zur Berechnung der Anzahl der Wochen fiktiv fehlender Bedürftigkeit nach § 9 AlhiV 1974.
Gegenstand des Rechtsstreits und des Revisionsverfahrens ist auf Grund des ausdrücklichen Antrags nur die Gewährung von Alhi für 76 Wochen, beginnend mit dem 7. August 1998. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 21. Juni 1999, der den ursprünglichen Ablehnungsbescheid vom 4. Januar 1999 ersetzt hat (§ 39 Abs 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – ≪SGB X≫), hat die Beklagte (im Verfügungssatz) nur eine Entscheidung über diese 76 Wochen getroffen. Den Antrag des Klägers für die danach liegende Zeit hat die Beklagte mit Bescheid vom 26. Februar 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. Mai 2003 wegen fehlender Mitwirkung des Klägers (§ 66 Abs 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch -Allgemeiner Teil- ≪SGB I≫) abgelehnt. Hiergegen hat der Kläger gesondert Klage erhoben (Az des SG Münster: S 3 AL 88/03). Ob der Bescheid vom 26. Februar 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. Mai 2003 gemäß §§ 153 Abs 1, 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden ist, ist zweifelhaft, bedarf aber wegen der ausdrücklichen Beschränkung des Klageantrags keiner Entscheidung. Allenfalls wäre dies in analoger Anwendung der bezeichneten Vorschriften denkbar gewesen. Dann aber wäre die Rechtshängigkeit ohnedies mit der gesonderten Klageerhebung wieder entfallen (BSG SozR 1500 § 96 Nr 13 und 18; BSG, Beschluss vom 16. August 1989 – 11 BAr 53/89 –, unveröffentlicht).
Ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Alhi für den streitigen Zeitraum vorliegen, beurteilt sich nach § 190 Abs 1 SGB III (hier idF des Arbeitsförderungs-Reformgesetzes vom 24. März 1997 – BGBl I 594). Insoweit ist für den Senat nicht nachprüfbar, ob der Kläger im streitigen Zeitraum bedürftig (Nr 5) und arbeitslos war (Nr 1); letzteres hat das LSG, weil es bereits Bedürftigkeit abgelehnt hat, nicht festgestellt. Nach § 193 Abs 1 SGB III (hier idF, die § 193 durch das 1. SGB III-Änderungsgesetz vom 16. Dezember 1997 – BGBl I 2970 – erhalten hat) ist bedürftig ein Arbeitsloser, soweit er seinen Lebensunterhalt nicht auf andere Weise als durch Alhi bestreitet oder bestreiten kann und das zu berücksichtigende Einkommen die Alhi nicht erreicht. Hierzu fehlen Feststellungen des LSG, das die Alhi alleine wegen Vorhandenseins von Vermögen für den streitigen Zeitraum abgelehnt hat. Dies ist zwar unter Geltung der AlhiV 1974 im Hinblick auf die Regelung des § 9 AlhiV nicht zulässig, wie der Senat bereits entschieden hat (BSG SozR 4-4300 § 193 Nr 4 RdNr 7); denn die fehlende Bedürftigkeit wegen Erzielung von Einkommen ist nach der AlhiV 1974 vor der fehlenden Bedürftigkeit wegen zu berücksichtigenden Vermögens zu prüfen (BSG aaO). Dies wirkt sich jedoch für den Kläger im streitigen Zeitraum nicht aus. Allenfalls ergäbe sich hieraus eine dem Kläger günstigere Rechtsfolge für die Zeit nach Ablauf der 76 Wochen, worüber im vorliegenden Verfahren jedoch nicht zu befinden ist (vgl zum Problem der Bindungswirkung BSG, Urteil vom 17. März 2005 – B 7a/7 AL 38/04 R).
Nach § 193 Abs 2 SGB III ist nicht bedürftig ein Arbeitsloser, solange mit Rücksicht auf sein Vermögen, das Vermögen seines nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten oder das Vermögen einer Person, die mit dem Arbeitslosen in eheähnlicher Gemeinschaft lebt, die Erbringung von Alhi nicht gerechtfertigt ist. Zur Konkretisierung des § 193 SGB III ist die AlhiV 1974 ergangen. Vorliegend ist nicht zu beanstanden, dass die Beklagte bei der Beurteilung der Bedürftigkeit die Prüfung zunächst für den Kläger erkennbar auf das Kapitalvermögen beschränkt hat (BSG SozR 4-4300 § 193 Nr 4 RdNr 12). Die Bedürftigkeitsprüfung erfordert auch keine Saldierung aller Aktiva und Passiva (BSGE 87, 143, 145 f = SozR 3-4220 § 6 Nr 8); allerdings sind Schulden und sonstige vorhandene oder noch entstehende Belastungen im Rahmen des § 6 Abs 3 Satz 1 AlhiV zu berücksichtigen, wenn sie bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise mit Vermögensgegenständen des Arbeitslosen eine Einheit bilden (BSG aaO).
Danach ist die Verwertung von Vermögen (Abs 1) nur zumutbar, wenn sie nicht offensichtlich unwirtschaftlich ist und wenn sie unter Berücksichtigung einer angemessenen Lebenshaltung des Inhabers des Vermögens und seiner Angehörigen billigerweise erwartet werden kann. Zwar sind die Erwägungen des SG in seinem Urteil, auf die das LSG Bezug genommen hat (§ 153 Abs 2 SGG), bei vom Kläger angegebenen Mieteinnahmen von 74.000,00 DM im Jahr könne davon ausgegangen werden, dass diese Einnahmen der Annahme einer Unzumutbarkeit zur Verwertung des Kapitalvermögens entgegenstehen, nicht von der Hand zu weisen. Jedoch sind die Ausführungen des LSG hierzu zu pauschal, um dem Senat eine Überprüfung zu ermöglichen (vgl zum Verbot pauschaler Betrachtung BSG SozR 4-4220 § 1 Nr 4). Das LSG hätte ermitteln müssen, welche Belastungen beim Kläger im Einzelnen vorhanden bzw zu erwarten waren. Weiterhin hätte es auch die Höhe der Einnahmen selbst feststellen müssen, um eine rechtliche Beurteilung der Zumutbarkeit der Verwertung des Kapitalvermögens durch den Senat zu ermöglichen. Abgesehen davon fehlen bereits genaue Feststellungen zur Verwertbarkeit des vorhandenen Kapitalvermögens iS des § 6 Abs 1 Satz 1, Abs 2 AlhiV 1974.
Selbst wenn man dem Kläger folgen wollte, dass eine Berücksichtigung nur von Teilvermögen unzulässig sei, würde dies im Übrigen nicht dazu führen, dass ihm für den streitigen Zeitraum Alhi zu bewilligen wäre, sondern lediglich dazu, dass dieser Umstand ggf bei der Bewilligung von Alhi für die Zeit nach Ablauf der 76 Wochen zu berücksichtigen wäre (vgl dazu BSG, Urteil vom 17. März 2005 – B 7a/7 AL 38/04 R). Wäre andererseits das Kapitalvermögen des Klägers nicht zumutbar verwertbar, würde sich daraus nicht bereits die Begründetheit der Klage ergeben. Vielmehr müsste dann alternativ im Einzelnen geprüft werden, ob die restlichen Vermögenswerte einer Bewilligung von Alhi für den streitigen Zeitraum entgegen stehen.
Soweit Vermögen vorhanden ist, besteht gemäß § 9 AlhiV 1974 Bedürftigkeit nicht für die Zahl voller Wochen, die sich aus der Teilung des zu berücksichtigenden Vermögens durch das Arbeitsentgelt ergibt, nach dem sich die Alhi richtet. Auch hierzu fehlen die erforderlichen Feststellungen des LSG. Weder das LSG- noch das SG-Urteil enthalten Ausführungen, die es ermöglichen, die Höhe des der Alhi zu Grunde zu legenden Bemessungsentgelts zu errechnen.
Zutreffend hat das LSG jedoch bei der Beurteilung des Teilvermögens als maßgeblichen Stichtag den ersten Tag angenommen, für den Alhi beantragt ist (7. August 1998) und an dem die übrigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Alhi erfüllt wären. Dieser Tag ist zugleich der Ausgangspunkt für die Berechnung des Zeitraums, für den nach § 9 AlhiV Bedürftigkeit nach dem zu berücksichtigenden Vermögen nicht besteht. Eine Änderung der Vermögensverhältnisse, die eine weitere Prüfung der Vermögensberücksichtigung unter Zugrundelegung eines anderen Bezugszeitraums erforderlich machen könnten, ist jedenfalls nicht erkennbar bzw vorgetragen (vgl dazu BSGE 87, 143, 145 = SozR 3-4220 § 6 Nr 8).
Über den vom Kläger geltend gemachten Herstellungsanspruch ist erst zu befinden, wenn feststeht, dass ihm Alhi unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen für den streitigen Zeitraum nicht zustünde. Allerdings muss der Kläger schon jetzt darauf hingewiesen werden, dass, nimmt man die Zumutbarkeit der Verwertung des vorhandenen Vermögens an, die Beklagte nicht verpflichtet sein kann, ihn darüber zu beraten, wie er am günstigsten Bedürftigkeit herbeiführen kann, um Alhi zu erhalten.
Einer Entscheidung über die vom Kläger erhobenen Verfahrensrügen bedarf es nicht. Die Sache ist ohnedies an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Das LSG wird ggf den Zeitpunkt der Antragstellung unter Beachtung der §§ 323 Abs 1, 324 Abs 1 SGB III zu beachten und über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen