Leitsatz (amtlich)
Wer seinen Ehegatten, der den Weg zur Arbeitsstätte mit einem öffentlichen Verkehrsmittel zurücklegen will, von der gemeinsamen Wohnung aus zur Haltestelle fährt, steht auf dem Hin- und Rückweg nicht unter Unfallversicherungsschutz nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO.
Leitsatz (redaktionell)
Unfallversicherungsschutz nach RVO § 539 Abs 2:
Verwandtschaftliche Gefälligkeitshandlungen, die von familiären Beziehungen zwischen Angehörigen geprägt werden, sind üblicherweise nicht mit solchen Tätigkeiten gleichzusetzen, die ihrer Art nach im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses geleistet werden und nach RVO § 539 Abs 2 dem Unfallversicherungsschutz unterliegen.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. Januar 1972 wird wie folgt teilweise geändert: Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 23. Juni 1971 wird als unzulässig verworfen, soweit sie die Gewährung des Sterbegeldes betrifft.
Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger zu 1) ist als Vertriebsingenieur bei der Firma H und B AG in Frankfurt (Main) beschäftigt. Den Weg zwischen seinem Wohnort R und dem Betrieb legt er regelmäßig mit seinem Pkw zurück. Wegen eines Kupplungsschadens, der am 2. April 1970 abends in F aufgetreten war, stand ihm der Wagen am darauffolgenden Tag nicht zur Verfügung. Der Kläger zu 1) ließ sich deshalb am frühen Morgen von seiner Ehefrau in deren Pkw zu einer etwa 4 km von der gemeinsamen Wohnung entfernten Omnibushaltestelle in H fahren; von dort aus benutzte er den um 6.18 Uhr fahrplanmäßig verkehrenden Bus nach F; seine Arbeitszeit begann um 7.30 Uhr. Die Ehefrau des Klägers zu 1) - Mutter der Kläger zu 2) bis 4) - verunglückte auf der Rückfahrt zur Wohnung tödlich.
Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 20. November 1970 eine Hinterbliebenenentschädigung mit der Begründung ab, die Ehefrau des Klägers zu 1) habe nicht unter Unfallversicherungsschutz (UV-Schutz) gestanden, da sie aus rein persönlichen, familiären Gründen und nicht wie ein aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses bei der Arbeitgeberin ihres Ehemannes Versicherter (§ 539 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) tätig geworden sei.
Das Sozialgericht (SG) Frankfurt (Main) hat durch Urteil vom 23. Juni 1971 die Beklagte verurteilt, Sterbegeld und Waisenrente zu gewähren, die Klage jedoch insoweit abgewiesen, als sie die Witwerrente betrifft. Es hat angenommen, die Ehefrau des Klägers zu 1) sei wie eine bei der Firma H und B AG Beschäftigte tätig geworden und habe daher nach § 539 Abs. 2 RVO unter Versicherungsschutz gestanden; der Anspruch auf Witwerrente sei allerdings nicht begründet, da die Ehefrau des Klägers zu 1) nicht den Unterhalt der Familie überwiegend bestritten habe.
Auf die nur von der Beklagten eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 19. Januar 1972 die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Bei der Fahrt zur Omnibushaltestelle habe es sich für die Ehefrau des Klägers zu 1) um eine im Rahmen der persönlichen Beziehungen zwischen Eheleuten ausgeführte reine Gefälligkeitsleistung allein aus familiären Gründen gehandelt. Dem Kläger zu 1) habe die Zurücklegung des Weges erleichtert werden sollen; dies habe jedoch nicht den Interessen der Arbeitgeberin gedient. Abgesehen von der Sonderregelung des § 550 RVO trage das Wegerisiko grundsätzlich der Arbeitnehmer selbst, in dessen eigenem Interesse es liege, daß er - einer Verpflichtung aus dem Arbeitsvertrag entsprechend - seine Arbeit pünktlich aufnehme. Deshalb bestehe auch kein Anhalt dafür, daß die Ehefrau des Klägers zu 1) dem mutmaßlichen Willen der Arbeitgeberin entsprochen habe. Der Kläger zu 1) habe sich auch rechtzeitig darauf einstellen können, daß er nicht mit dem eigenen Pkw zum Betrieb habe fahren können; er sei nicht auf die Hilfe seiner Ehefrau angewiesen gewesen, um pünktlich zum Betrieb zu gelangen; er hätte auch zu Fuß zur Haltestelle gehen können.
Die Kläger haben die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und begehren die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Sie tragen vor: Die Ehefrau des Klägers zu 1) habe eine ernstliche Arbeit verrichtet, die derjenigen eines in einem Beschäftigungsverhältnis stehenden Chauffeurs ähnlich sei; dadurch habe sie eine Leistung erbracht, die über ihre eheliche Beistandsplicht (§§ 1353, 1356 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) hinausgegangen sei. Die Fahrt zur Haltestelle habe - zumindest auch - dem Unternehmen genützt, das an einem pünktlichen Arbeitsbeginn interessiert gewesen sei. Dies treffe besonders für den Unfalltag zu, an welchem der Kläger zu 1) an einer Betriebsbesprechung habe teilnehmen und einen am nächsten Tag fälligen Vortrag habe vorbereiten müssen. Deshalb habe es im besonderen Interesse des Unternehmens gelegen, daß dem Kläger zu 1) ein ermüdender Fußmarsch erspart blieb. Bei ordnungsgemäßer Sachaufklärung hätte das LSG feststellen können, daß das Unternehmen bereit gewesen wäre, den Kläger zu 1) vor Arbeitsbeginn mit einem Firmenwagen von seiner Wohnung abzuholen; hierzu sei es nur deshalb nicht gekommen, weil für eine Verständigung des Unternehmens keine Zeit geblieben sei. Hiernach beruhe auch die Auffassung des LSG, die Tätigkeit der Ehefrau des Klägers zu 1) habe nicht dem mutmaßlichen Willen der Arbeitgeberin ihres Ehemannes entsprochen, auf mangelnder Sachaufklärung.
Die Kläger beantragen,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. Januar 1972 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt vom 23. Juni 1971 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die zugelassene Revision der Kläger führte zwar zur Verwerfung der Berufung als unzulässig, soweit das SG die Beklagte zur Zahlung von Sterbegeld (§ 589 Abs. 1 Nr. 1 RVO) - einer einmaligen Leistung im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG - verurteilt hat. Bei einer zugelassenen Revision ist die Zulässigkeit der Berufung von Amts wegen zu prüfen, da es sich dabei um eine unverzichtbare Prozeßvoraussetzung handelt, von der die Rechtswirksamkeit des Verfahrens als Ganzes abhängt (BSG 1, 227, 230; 2, 225, 226; 3, 124, 126 und 234, 235; 15, 65, 67). Das LSG hat trotz der Unzulässigkeit der Berufung hinsichtlich des Sterbegeldanspruchs ebenfalls in der Sache selbst entschieden. Das angefochtene Urteil war deshalb insoweit zu ändern.
Im übrigen war die Revision der Kläger zurückzuweisen.
Nach Lage des Falles hängt die Entscheidung über die Ansprüche auf Waisenrenten aus der Unfallversicherung (§§ 589 Abs. 1 Nr. 3, 595 Abs. 1 RVO) allein davon ab, ob die Ehefrau des Klägers zu 1) - Mutter der Kläger zu 2) bis 4) - wie ein nach § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO Versicherter tätig geworden ist und daher nach § 539 Abs. 2 RVO unter UV-Schutz gestanden hat, als sie den tödlichen Unfall erlitt. Die Ehefrau des Klägers zu 1) hat dadurch, daß sie ihren Ehemann am frühen Morgen des 3. April 1970 in ihrem Pkw zur Haltestelle des Omnibusses fuhr, mit dem der Ehemann zu seiner Arbeitsstätte gelangen wollte, eine Tätigkeit verrichtet, die ihrer Art nach dem allgemeinen Erwerbsleben insoweit zugänglich ist, als beispielsweise auch ein bei der Arbeitgeberin des Ehemannes beschäftigter Fahrer diese Fahrt hätte ausführen können. Damit ist zwar ein - unerläßliches - Erfordernis für die Anwendbarkeit des § 539 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 Nr. 1 RVO gegeben (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-7. Aufl., S. 476 f mit Nachweisen aus der Rechtsprechung), während es andererseits auf den Beweggrund der Tätigkeit grundsätzlich nicht ankommt (vgl. Brackmann aaO S. 476 c, d mit Nachweisen). Eine ernstliche, mit dem bei der Beklagten versicherten Unternehmen zusammenhängende, wirtschaftlich nützliche Arbeitsleistung, die derjenigen ähnlich ist, die im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses verrichtet wird, liegt aber gleichwohl nicht vor, wenn es sich - wie hier - um eine Gefälligkeit zwischen Eheleuten handelt, die von den durch die Pflicht zur ehelichen Lebensgemeinschaft (§ 1353 BGB) gekennzeichneten Beziehungen ihr Gepräge erhält. Bereits in seinem Urteil vom 22. April 1959 (SozR Nr. 16 zu § 537 RVO aF - am Ende der Entscheidungsgründe -) hat der erkennende Senat allgemein für verwandtschaftliche Gefälligkeitshandlungen, die von familiären Beziehungen zwischen Angehörigen geprägt sind, auf diesen, dem UV-Schutz nach § 537 Nr. 10 i. V. m. Nr. 1 RVO aF (539 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 Nr. 1 RVO) entgegenstehenden Gesichtspunkt hingewiesen. Solche zwar der Art nach dem Erwerbsleben zugängliche Tätigkeiten sind diesem - wie auch z. B. Verrichtungen aufgrund mitgliedschaftlicher, gesellschaftsrechtlicher oder körperschaftlicher Verpflichtung (vgl. Brackmann aaO. S. 476 f II, g) -- üblicherweise nicht zuzurechnen. Es bedarf keiner Entscheidung, ob nach der Lage dieses Falles für die Ehefrau des Klägers zu 1) eine Beistandspflicht bestand, die auf der Verpflichtung zur ehelichen Lebensgemeinschaft (§ 1353 Abs. 1 Satz 1 BGB) beruht und hinsichtlich der Mitarbeit im Beruf durch § 1356 Abs. 2 BGB ausdrücklich geregelt ist (vgl. BGH in JZ 1960, 371). Denn jedenfalls war die Hilfeleistung hier rechtlich wesentlich allein durch die in der Ehe begründeten persönlichen Beziehungen bestimmt und hat von daher ihr Gepräge erhalten.
Die Auffassung, daß die Ehefrau des Klägers zu 1) nicht aufgrund einer arbeitnehmerähnlichen Betätigung nach § 539 Abs. 2 RVO versichert war, steht nicht in Widerspruch zu den Ausführungen im Urteil des erkennenden Senats vom 30. November 1962 (BSG 18, 143). Während im vorliegenden Fall die Hilfeleistung dem Versicherten lediglich das Zurücklegen des Weges zur Arbeitsstätte erleichtern, nicht erst ermöglichen sollte, also seiner Bequemlichkeit diente, ist im Urteil vom 30. November 1962 (aaO) eine für den Versicherungsschutz nach § 537 Nr. 10 aF erforderliche enge Beziehung zwischen der Begleitung eines körperbehinderten Schwerbeschädigten durch seine Ehefrau auf dessen Dienstreise und dem unterstützten Unternehmen für den Fall bejaht worden, daß der Ehemann ohne eine Begleitperson die Dienstreise nicht hätte ausführen können.
Allein die bequemere Gestaltung des Weges nach und von der Arbeitsstätte hat der Senat bereits in früheren Entscheidungen als dem unversicherten persönlichen Lebensbereich des Versicherten zugehörig bezeichnet (vgl. SozR Nr. 33 zu § 543 RVO aF; Nr. 19 zu § 550 RVO mit Nachweisen) und deshalb den ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit eines Beschäftigten und dem während der Zurücklegung des Weges zur Arbeitsstätte eingeschlagenen erheblichen Umweg oder eingeschobenen zusätzlichen Weg nicht schon bejaht, weil die Fahrt dazu diente, einen Arbeitskollegen nach oder von dem gemeinsamen Ort der Tätigkeit mitzunehmen (vgl. Sozialrecht. Nr. 33 zu § 543 RVO aF; Nr. 19 zu § 550 RVO mit Nachweisen). Fehlt es aber - von besonderen Fallgestaltungen abgesehen - an rechtlich wesentlichen Beziehungen zwischen der Tätigkeit im Unternehmen und dem Weg, den ein Beschäftigter zurücklegt, um einen Arbeitskollegen zur gemeinsamen Arbeitsstätte zu fahren, ist es nicht gerechtfertigt, eine gleichartige Tätigkeit, sofern sie die nicht in einem Beschäftigungsverhältnis stehende Ehefrau des Versicherten verrichtet, dem Unternehmen zuzurechnen. Der mittelbare Nutzen, der sich für die Arbeitgeberin des Klägers zu 1) daraus ergab, daß ihr Arbeitnehmer frischer und ausgeruhter zum Betrieb gelangte, tritt als rechtsunerheblich in den Hintergrund gegenüber dem aus den persönlichen Beziehungen begründeten Entschluß der Ehefrau im Interesse ihres Ehemannes ihm das Zurücklegen des Weges nach der Arbeitsstätte zu erleichtern. Die Hilfeleistung ist deshalb als eine rechtlich wesentlich dem Unternehmen dienende - wie aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses ausgeübte - Tätigkeit auch dann nicht zu werten, wenn das Unternehmen, wie die Revision behauptet, sonst den Kläger zu 1) mit einem Firmenwagen von seiner Wohnung hätte abholen lassen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen