Verfahrensgang
LSG Berlin (Urteil vom 19.05.1994) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 19. Mai 1994 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) wegen sog Heilungsbewährung.
Das beklagte Land erkannte mit Bescheid vom 15. Dezember 1987 bei der Klägerin als Behinderungen an: „Zustand nach Bandscheibenoperation L5/S1 1987” und „Bluthochdruck, Übergewicht, Fettleber”. Den Gesamt-GdB bewertete es ohne nähere Begründung mit 50. Dem Bescheid lag eine ärztliche Stellungnahme zugrunde, wonach wegen der durchgeführten Bandscheibenoperation nach den „Anhaltspunkten” bis zum Ablauf von fünf Jahren eine Höherbewertung als nach der tatsächlich vorhandenen Funktionseinbuße geboten sei. Nach einer ärztlichen Untersuchung und Durchführung der Anhörung stellte die Versorgungsverwaltung durch Bescheid vom 8. Juni 1990 den Gesamt-GdB mit 40 fest. Zur Begründung führte sie aus, daß der Zustand nach Bandscheibenoperation mit Ablauf der Heilungsbewährungszeit niedriger zu bewerten sei. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 23. Juli 1992). Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) die Bescheide aufgehoben. Das Landessozialgericht (LSG) hat hingegen die Klage abgewiesen (Urteil vom 19. Mai 1994). Zur Begründung hat es ausgeführt, die Herabsetzung des GdB sei wegen einer Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse gerechtfertigt. Die Änderung liege zwar nicht in einer Verringerung der Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule, wohl aber in der inzwischen eingetretenen Heilungsbewährung. Zur Herabsetzung des GdB habe es keines Hinweises auf den Gesichtspunkt der Heilungsbewährung in dem Ursprungsbescheid bedurft. Die Klägerin hätte durch Einsichtnahme in das ärztliche Gutachten feststellen können, daß allein der Gesichtspunkt der Heilungsbewährung für den hohen GdB von 50 maßgebend gewesen sei.
Dagegen richtet sich die vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassene Revision der Klägerin. Sie rügt eine Verletzung der §§ 3, 4 SchwbG, § 48 Abs 1 Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch – (SGB X) iVm § 35 SGB X. Im Grundsatz beanstandet sie nicht, daß eine Herabsetzung des GdB nach Bandscheibenoperation wegen Heilungsbewährung vorgenommen werden kann. Sie meint jedoch, dieser Gesichtspunkt müsse sich bereits aus dem Inhalt des Ursprungsbescheides entnehmen lassen. Nur dann könne später von einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse iS des § 48 SGB X ausgegangen werden. Der Hinweis des LSG auf die Möglichkeit der Akteneinsicht sei nicht geeignet, die unzureichende Begründung im Erstbescheid zu ersetzen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des LSG Berlin zu ändern und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Berlin zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß der nach der im Jahre 1987 durchgeführten Bandscheibenoperation zunächst mit 50 festgesetzte GdB unter Berücksichtigung weiterer Behinderungen der Klägerin auf 40 herabzusetzen war, weil das Bandscheibenleiden im Jahre 1990 nach komplikationslosem Heilungsverlauf ohne Rückfälle für sich allein nur noch einen GdB von 30 rechtfertigte. Die tatsächlichen Feststellungen des LSG sind von der Klägerin nicht mit Verfahrensrügen angegriffen worden und für den Senat deshalb bindend; auch gegen die Bewertung der tatsächlich vorhandenen Behinderung wendet sich die Klägerin nicht. Ihrer Ansicht, eine Änderung des Ursprungsbescheids zur Anpassung an die tatsächlich vorhandenen Behinderungen habe deshalb zu unterbleiben, weil der Gesichtspunkt der abzuwartenden Heilungsbewährung im Ursprungsbescheid nicht erwähnt worden sei, ist nicht zu folgen.
Für eine Änderung des Bescheids nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X genügt es, daß sich die gesundheitlichen Verhältnisse objektiv geändert haben. Der Ablauf der Heilungsbewährung ist eine Besserung des Gesundheitszustandes. Bei bestandskräftigen Verwaltungsakten mit Dauerwirkung, worunter auch Bescheide nach dem SchwbG zu zählen sind, ist das Vertrauen des Betroffenen auf den Fortbestand nur bei unveränderter objektiver Tatsachen- und Rechtslage geschützt. Es kommt bei einer in der Sache richtigen Entscheidung weder darauf an, was die Verwaltungsbehörde als für den Erstbescheid maßgebend zugrunde gelegt hat, noch was der Betroffene als maßgebend erkannt hat oder zumindest erkennen konnte. Das hat das BSG bereits wiederholt entschieden (BSG SozR 3870 § 4 Nr 3; BSGE 65, 301, 302 = SozR 1300 § 48 Nr 60). Entfällt eine nicht genannte (außer einer bewußt ausgenommenen erheblichen Behinderung, vgl dazu BSGE 60, 11, 15 = SozR 3870 § 3 Nr 21), so ist der GdB entsprechend herabzusetzen (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 10). Entsprechendes gilt für eine nicht besonders genannte besondere Ausprägung einer Erkrankung, die später weggefallen ist.
Der Klägerin war im Erstbescheid allein im Hinblick auf eine abzuwartende Heilungsbewährung ein GdB von 50 zuerkannt worden, der deutlich über dem im allgemeinen für Wirbelsäulenerkrankungen einzuräumenden GdB von 20 bis 30 liegt (vgl Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz ≪AHP≫ S 105). Diese Einschätzung war rechtlich nicht zu beanstanden, obwohl die AHP nach Wirbelsäulenoperationen die Berücksichtigung einer Heilungsbewährung in Abweichung etwa von der Regelung bei bösartigen Erkrankungen und Herzinfarkten nicht ausdrücklich vorschreiben. Sie entsprach aber dem allgemeinen Grundsatz der AHP, wonach bei Gesundheitsstörungen, die mit einer Rezidivgefahr verbunden sind, ein höherer GdB angesetzt werden kann, als es dem reinen Organbefund entspricht (vgl AHP S 26, 37).
Es ist hier nicht zu entscheiden, ob im Fall der Klägerin eine Erhöhung des GdB wegen einer Rezidivgefahr geboten war; im Unterschied zu Krebserkrankungen oder Herzinfarkten dürfte bei Wirbelsäulenerkrankungen die Rezidivgefahr zumindest psychisch weniger belastend sein, weil sie nicht mit einer unmittelbaren Lebensbedrohung verbunden ist. Auch mag eine besondere Schonungsbedürftigkeit nach einer Wirbelsäulenoperation nicht immer gegeben sein und aus diesem Grunde die Erhöhung des GdB nicht zwingend gebieten. Die Entscheidung der Verwaltung stand aber im Einklang mit den AHP und war deshalb vertretbar. Wegen des der Verwaltung zustehenden Einschätzungsspielraums reicht dies aus, um die Feststellung treffen zu können, daß der Erstbescheid mit dem GdB von 50 materiell rechtmäßig war. Er durfte deshalb von der Versorgungsverwaltung nach zweifelsfrei eingetretener Heilungsbewährung geändert werden, auch ohne daß die Klägerin von den maßgebenden Gesichtspunkten wußte oder – was das LSG für entscheidend gehalten hat – diese bei Einsichtnahme in die Verwaltungsakten hätte erfahren können.
Die Heilungsbewährung lag bei der Klägerin in dem rezidivfreien Ablauf von etwa drei Jahren nach der Operation. Nach den ärztlichen Feststellungen, die das Berufungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, konnte nach dieser Zeit mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, daß sich der Zustand der Wirbelsäulenerkrankung verfestigt hatte und die Behinderung der Klägerin allein noch nach den verbliebenen funktionellen Einbußen der Wirbelsäulenbeweglichkeit zu bewerten war. Daß die dem Erstbescheid zugrundeliegende ärztliche Stellungnahme demgegenüber von einer abzuwartenden Frist von fünf Jahren ausgegangen ist, berührt die tatsächliche Entwicklung nicht, sondern beruht anscheinend auf einem Versehen. Ein Vertrauensschutz der Klägerin läßt sich schon deshalb nicht darauf gründen, weil ihr diese Stellungnahme nicht bekannt gegeben worden ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen