Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 12. Mai 1997 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über den Anspruch des Klägers auf Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Der Kläger wurde am 22. Februar 1992 von seiner damaligen Ehefrau (S.) durch vier Messerstiche lebensgefährlich verletzt. S. wurde deshalb wegen gefährlicher Körperverletzung (§§ 223, 223a Strafgesetzbuch ≪StGB≫) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt.
Der Beklagte lehnte es ab, dem Kläger – auf dessen im September 1993 gestellten Antrag – wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung Versorgung zu gewähren (Bescheid vom 26. Juli 1994; Widerspruchsbescheid vom 12. April 1995). Klage und Berufung blieben ohne Erfolg (Urteile des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 24. April 1996 und des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 12. Mai 1997). Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Der Kläger sei zwar Opfer einer Gewalttat geworden und die dabei erlittene Schädigung habe eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 vH zur Folge. Leistungen nach dem OEG seien aber zu versagen. Dabei könne offenbleiben, ob der Kläger durch die der Tat unmittelbar vorangegangenen Beleidigungen und Tätlichkeiten gegenüber S. seine Schädigung mitverursacht habe und Leistungen deshalb nach § 2 Abs 1, 1. Alternative OEG ausgeschlossen seien. Jedenfalls folge der Leistungsausschluß aus § 2 Abs 1, 2. Alternative (Unbilligkeit), weil der Kläger in seiner durch latente Gewalt geprägten Lebensgemeinschaft mit S. verblieben sei und sich deren zahlreiche vorangegangene Gewaltreaktionen – auch unter Zuhilfenahme gefährlicher Gegenstände – nicht zur Warnung habe dienen lassen.
Mit der Revision macht der Kläger geltend, das LSG habe § 2 Abs 1 OEG verletzt. Es sei nicht unbillig, ihm Versorgung zu gewähren. Er habe sich seinerzeit in einer ausweglosen Situation befunden. Eine Trennung von S. sei praktisch undurchführbar gewesen, weil er seine kleinen Kinder nicht bei ihrer gewalttätigen Mutter habe zurücklassen können, andererseits aber auch – anders als Frauen, die mit ihren Kindern vor gewalttätigen Ehemännern in „Frauenhäuser” flüchten könnten – keine Mittel oder Möglichkeiten gehabt habe, um sich gemeinsam mit den Kindern von S. abzusetzen. Unter diesen Umständen verstoße die vom LSG angenommene Leistungsversagung gegen Art 6 Abs 1, Art 3 Abs 2 und Art 2 Abs 1 des Grundgesetzes.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 12. Mai 1997 und des Sozialgerichts Lübeck vom 24. April 1996 sowie den Bescheid des Beklagten vom 26. Juli 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. April 1995 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger ab 1. September 1993 Beschädigtenversorgung zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Der Beklagte und die Instanzgerichte haben es zu Recht abgelehnt, dem Kläger als Opfer einer Gewalttat wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der dabei erlittenen Schädigung Versorgungsleistungen in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes zu gewähren. Denn es liegt ein Versagungsgrund nach § 2 Abs 1 OEG vor.
Das LSG durfte allerdings nicht offenlassen, ob die Voraussetzungen des ersten der in dieser Vorschrift genannten Versagungsgründe (Mitverursachung) erfüllt sind. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats handelt es sich dabei um einen Sonderfall des an zweiter Stelle genannten Versagungsgrundes (Unbilligkeit), der abschließend regelt, wann die unmittelbare Tatbeteiligung des Geschädigten Leistungen ausschließt (BSGE 66, 115, 117 f = SozR 3800 § 2 Nr 7; BSGE 77, 18, 20 = SozR 3-3800 § 2 Nr 3; BSGE 79, 87, 88 = SozR 3-3800 § 2 Nr 5). In das System der sozialen Entschädigung fügt sich ein Leistungsausschluß wegen Mitverursachung durch den Geschädigten eher ein und läßt sich im allgemeinen leichter und berechenbarer entscheiden, als eine Unbilligkeit iS des § 2 Abs 1, 2. Alternative OEG (BSG SozR 3800 § 2 Nr 4). Gleichwohl ist es dem Revisionsgericht gestattet, hier ohne weitere Ermittlungen allein aufgrund der – ausreichenden – Tatsachenfeststellungen des LSG die Handlungsweise des Klägers als wesentliche Mitursache und damit als Ursache im Rechtssinne zu werten (vgl BSG aaO).
Für die Schädigung des Klägers hatte sein der Tat unmittelbar vorangehender Angriff auf S. in etwa die gleiche Bedeutung wie deren Messerstiche. Nach den vom LSG in Bezug genommenen Feststellungen des SG hat der Kläger seine Ehefrau, als sie nach auswärts verbrachter Nacht am Morgen des Tattages in die eheliche Wohnung zurückkehrte, als „Hure” und „Schlampe” bezeichnet, sie nicht unerheblich an den Haaren gerissen und ihr durch Schläge leichte Verletzungen an Armen und Beinen zugefügt. Wenig später stach S. mit dem Messer auf ihn ein.
Der Kläger dürfte sich mit seinem Ursachenbeitrag zwar nicht in ähnlich schwerwiegender Weise gegen die Rechtsordnung vergangen haben wie die vorsätzlich handelnde S. Denn die im Strafrecht vorgezeichnete Bewertung der beiderseitigen Tatbeiträge, an die sich für das Opferentschädigungsrecht anknüpfen läßt (BSGE 79, 87, 90 f = SozR 3-3800 § 2 Nr 5), mißt der gefährlichen Körperverletzung ein deutlich höheres Gewicht bei als den vom Kläger begangenen Straftaten: Beleidigung (§ 185 StGB) und Körperverletzung (§ 223 StGB). Diese sind nur auf Antrag zu verfolgen (§§ 194, 230 StGB) und mit zeitiger Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bedroht. Die – jetzt in § 224 StGB geregelte – gefährliche Körperverletzung dagegen führt im Regelfall zu einer Mindestfreiheitsstrafe von sechs Monaten und kann mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren bestraft werden.
Das Verhalten des Klägers zwingt aber – wie bereits das SG angenommen hat – zur Versagung von Leistungen unter dem Gesichtspunkt der vermeidbaren Selbstgefährdung. Der Senat hat bereits entschieden, daß ein Opfer seine Schädigung mitverursacht, wenn es sich, ohne sozial nützlich (BSGE 52, 281, 288 = SozR 3800 § 2 Nr 3) oder sogar von der Rechtsordnung erwünscht (BSGE 66, 115, 118 f = SozR 3800 § 2 Nr 7) zu handeln, bewußt (BSGE 77, 18, 20 f = SozR 3-3800 § 2 Nr 3) oder leichtfertig (BSG SozR 3800 § 2 Nr 4; BSGE 79, 87, 88 f = SozR 3-3800 § 2 Nr 5) der Gefahr einer Schädigung ausgesetzt hat. Leichtfertiges Handeln ist durch einen erhöhten Grad von Fahrlässigkeit gekennzeichnet, der etwa der groben Fahrlässigkeit des bürgerlichen Rechts entspricht. Im Gegensatz zu letzterem gilt aber nicht der auf die allgemeinen Verkehrsbedürfnisse ausgerichtete objektive Sorgfaltsmaßstab des § 276 Abs 1 Satz 2 Bürgerliches Gesetzbuch, sondern ein individueller, der auf die persönlichen Fähigkeiten des Opfers abstellt (vgl Senatsurteil vom 21. Oktober 1998 – B 9 VG 6/97 R –, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR bestimmt). Der Kläger hat sich jedenfalls in diesem Sinne leichtfertig der Gefahr einer Körperverletzung ausgesetzt, als er seine Ehefrau bei deren Rückkehr in die eheliche Wohnung beleidigte und körperlich verletzte. Denn er wußte, daß S. in Situationen wie der am Morgen des Tattages zu Gewaltreaktionen neigte. Wie das LSG festgestellt hat, kam es eigentlich jedes Wochenende zu ähnlichen Szenen. Da S. meistens spät und oft betrunken nach Hause kam, kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den Eheleuten, die von S. auch mit einem Feuerhaken oder einer Flasche geführt wurden. Häufig hat S. dabei auch zum Messer gegriffen. Die Gefährlichkeit ihrer Mutter in derartigen Situationen wurde von ihrer Tochter so hoch eingeschätzt, daß sie schon vorsorglich Messer versteckte, weil S. immer als erstes in die Küche lief, um sich ein Messer zu holen. Es hätte deshalb einem Mindestmaß an Selbstverantwortung entsprochen, die bekannt gewaltbereite S. nicht durch Beleidigungen und Tätlichkeiten herauszufordern. Dies hätte der Kläger gerade als verantwortungsbewußter Familienvater tun müssen, der nach seinem Vorbringen keine Möglichkeit hatte, sich – zB durch Übersiedlung in ein „Männerhaus” – gemeinsam mit seinen Kindern der situativ gesteigerten Aggressivität seiner Ehefrau zu entziehen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen