Leitsatz (amtlich)

War eine Beschäftigung oder Tätigkeit, als sie ausgeübt wurde, versicherungsfrei, so kann sie auch dann nicht als eine "versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit" im Sinne des AVG § 36 Abs 1 Nr 4 nF angesehen werden, wenn eine entsprechende Beschäftigung oder Tätigkeit nach dem heutigen Recht versicherungspflichtig wäre. Ein Lehrling, der zur Zeit der Lehre in der Rentenversicherung der Angestellten versicherungsfrei war, hat deshalb mit dem Beginn der Lehre keine "versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit" aufgenommen, die eine Anrechnung von Schulzeiten als Ausfallseiten ermöglicht.

 

Normenkette

AVG § 36 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1259 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 17. September 1958 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Rechtsstreit wird um die Anrechnung einer Ausfallzeit bei der Berechnung des Ruhegelds geführt.

Der Kläger wurde im Dezember 1892 geboren. Sein Schulbesuch dauerte bis März 1912. Von April 1912 bis August 1914 war er Banklehrling ohne Entgelt und anschließend bis Januar 1919 Soldat. Im Anschluß an den Wehrdienst nahm er als Bankangestellter eine versicherungspflichtige Beschäftigung auf. Von April 1936 an setzte er das Versicherungsverhältnis freiwillig fort, nachdem sein Gehalt die Verdienstgrenze für die Versicherungspflicht überschritten hatte.

Die Beklagte gewährt dem Kläger von Dezember 1957 an das Altersruhegeld. Sie ging bei der Rentenberechnung von 32,5 anrechnungsfähigen Versicherungsjahren aus. In diese eingeschlossen ist eine pauschal berechnete Ausfallzeit in Höhe eines Zehntel der von 1919 bis 1936 mit Pflichtbeiträgen belegten Zeit (Art. 2 § 14 des "Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Angestellten" vom 23.2.1957 - AnVNG -). Die Anrechnung einer besonderen Ausfallzeit wegen der nach der Vollendung des 15. Lebensjahrs liegenden weiteren Schulausbildung (§ 36 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - n.F.) lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, der Kläger habe nicht innerhalb von zwei Jahren nach der Beendigung dieser Ausbildung eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen (Bescheid vom 26.11.1957).

Das Sozialgericht (SG.) Schleswig bestätigte diese Entscheidung: Eine zusätzliche Ausfallzeit wegen der weiteren Schulausbildung könne nicht berücksichtigt werden; dies sei nur zulässig, wenn innerhalb von zwei Jahren nach der Schulzeit eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden sei (§ 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG n.F.); gemeint sei in dieser Vorschrift eine nach dem zur Zeit der Beschäftigung geltenden Recht versicherungspflichtige Beschäftigung; nach dem damals geltenden Recht seien Lehrlinge aber versicherungsfrei gewesen (§ 1 des "Versicherungsgesetzes für Angestellte" vom 20.12.1911); die Lehrzeit könne auch nicht als Fachschulausbildung aufgefaßt werden (Urteil vom 21.4.1958). Das Landessozialgericht (LSG.) Schleswig wies die Berufung des Klägers aus den gleichen Gründen zurück; es ließ die Revision zu (Urteil vom 17.9.1958).

Der Kläger legte gegen das ihm am 3. Oktober 1958 zugestellte Urteil des LSG. am 31. Oktober 1958 Revision ein mit dem Antrag, die Beklagte unter Aufhebung der Urteile des LSG. und des SG. für verpflichtet zu erklären, ihm einen neuen Rentenbescheid über die Berechnung des Ruhegelds zu erteilen und dabei eine Ausfallzeit von insgesamt vier Jahren anzurechnen. Er begründete die Revision am 26. November 1958 und rügte eine Verletzung des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG n.F.: Das LSG. habe diese Vorschrift zu eng ausgelegt; unter versicherungspflichtiger Beschäftigung sei in diesem Zusammenhang eine Beschäftigung zu verstehen, die nach dem derzeit geltenden Recht versicherungspflichtig sei; Lehrlinge seien aber heute uneingeschränkt versicherungspflichtig (§ 2 Nr. 1 AVG n.F.); § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG n.F. schließe nur solche Beschäftigungen aus, die von jeher außerhalb der Versicherungspflicht gestanden hätten und noch heute stehen, also im eigentlichen Sinn versicherungsfremde Zeiten; diese Auslegung entspreche dem Zweck der Neuregelung der Rentenversicherung der Angestellten; das Ergebnis, zu dem das LSG. gelangt sei, sei unbillig; die Anrechnung von Ausfallzeiten dürfe nicht von Zufälligkeiten abhängen.

Die Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen:

Der Wortlaut und der Sinn des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG n.F. sprächen gegen die vom Kläger gewollte Auslegung; es gehöre zu den althergebrachten Grundsätzen des Versicherungsrechts, die Versicherungspflicht nach dem jeweils gültigen Recht zu beurteilen; die Ausfallzeiten sollten zwar für die Versicherten eine unverschuldete Verkürzung ihrer Versicherungsdauer ausgleichen, doch gelte dies nicht uneingeschränkt; die beitragslosen Zeiten seien in eine Beziehung zum Versicherungsverhältnis gesetzt; bei den Zeiten der Arbeitsunfähigkeit, der Schwangerschaft und der Arbeitslosigkeit (§ 36 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 AVG n.F.) müsse das Versicherungsverhältnis unterbrochen worden sein; weil dies bei den Schulzeiten (§ 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG n.F.) naturgemäß nicht möglich sei, habe der Gesetzgeber dafür die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung innerhalb einer Zweijahresfrist gefordert.

Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.

Der Versicherungsfall ist im Dezember 1957 eingetreten; mithin ist das Ruhegeld nach dem seit dem 1. Januar 1957 geltenden Recht des AnVNG zu berechnen. Nach diesem richtet sich die Höhe der Rente u.a. nach der Zahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre. Bei der Ermittlung der Versicherungsjahre werden die Versicherungszeiten, die Ausfallzeiten und die Zurechnungszeit zusammengerechnet, soweit sie nicht auf dieselbe Zeit entfallen (§ 35 AVG n.F.). Als Ausfallzeit wird für die Zeit vor dem Inkrafttreten des AnVNG (1.1.1957) zunächst pauschal - ohne jeden Nachweis - ein Zehntel der bis dahin mit Pflichtbeiträgen belegten Zeit angerechnet (Art. 2 § 14 AnVNG). Das ist bei der Berechnung des Ruhegelds des Klägers auch geschehen. Der Berechtigte hat jedoch einen Anspruch auf die Anrechnung längerer Ausfallzeiten, wenn er sie nachweist, der Zeitraum zwischen dem ersten und dem letzten Beitrag nicht schon mit Versicherungszeiten belegt ist und bestimmte - im vorliegenden Fall vom Kläger erfüllte - versicherungstechnische Voraussetzungen (§ 36 Abs. 3 AVG n.F.) gegeben sind. Die nach dem 15. Lebensjahr liegende Schulzeit von vier Jahren, die der Kläger als Ausfallzeit berücksichtigt haben möchte, ist nach den Feststellungen des LSG. nachgewiesen (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist auch länger als die pauschal berechnete Ausfallzeit, weil diese nur ein Zehntel der mit Pflichtbeiträgen belegten Zeit - beim Kläger ein Zehntel der Zeit von 1919 bis 1936 - beträgt und sie ist kürzer als die nicht mit Versicherungszeiten belegten Zeiträume - beim Kläger 147 Monate -. Die Zeiten einer nach der Vollendung des 15. Lebensjahrs liegenden Schulausbildung sind jedoch nur dann Ausfallzeiten, wenn im Anschluß an die Schulzeit oder nach Beendigung einer sich daran anschließenden Ersatzzeit "innerhalb von zwei Jahren eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden ist" (§§ 36 Abs. 1 Nr. 4, 28 AVG n.F.). Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt.

Der Kläger hat innerhalb der sich an seine Schulzeit anschließenden Zweijahresfrist weder eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder versicherungspflichtige Tätigkeit aufgenommen noch fällt in diesen Zeitraum eine Ersatzzeit. Er war während dieser Zeit Banklehrling. Als Lehrling, der kein Entgelt erhielt, war er damals in der Rentenversicherung versicherungsfrei (§ 1 des "Versicherungsgesetzes für Angestellte" vom 20.12.1911). Der Umstand, daß Lehrlinge heute allgemein versicherungspflichtig sind (§ 2 Nr. 1 AVG n.F.), kann nicht dazu führen, eine ehemals versicherungsfreie Lehrzeit nunmehr als eine Zeit versicherungspflichtiger Beschäftigung zu werten. Im Bereich der Sozialversicherung wird grundsätzlich jeder Sachverhalt nach dem Recht beurteilt, das zur Zeit des Eintritts der rechtserheblichen Tatsachen gilt. Diesen Grundsatz hat auch das AnVNG aufrechterhalten (vgl. Art. 2 § 6 AnVNG). Ausnahmen davon müssen sich aus dem Gesetz selbst herleiten lassen. Das AnVNG bietet dafür aber keinen Anhalt. Der Wortlaut und der Sinn der hier anzuwendenden gesetzlichen Vorschriften erlauben kein Abweichen von der Grundregel; sie bestätigen vielmehr das von den Vorinstanzen gewonnene Ergebnis. Die in die Vergangenheit weisende Wortfassung "wenn innerhalb von zwei Jahren eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden ist" drängt auf die Beurteilung der Versicherungspflicht nach dem früher geltenden Recht hin und nicht auf eine Beurteilung des damaligen Sachverhalts nach der augenblicklichen Gesetzeslage. Gefordert wird die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung, nicht einer Beschäftigung, die nach jetzigem Recht versicherungspflichtig wäre. Der Sinn des Gesetzes, die Schulausbildung und die versicherungspflichtige Beschäftigung - das heißt den Beginn der Beitragsentrichtung - in eine zeitliche Nähe zu rücken, um auch bei der Anrechnung einer beitragslosen Zeit das Versicherungsprinzip nicht völlig aufzuheben, verlangt gleichfalls, daß die gewählte Beschäftigung oder Tätigkeit sogleich die Verbindung zur Rentenversicherung mit allen Folgen herstellt. Es ist also wesentlich, daß der Schulzeit alsbald, das heißt innerhalb von zwei Jahren eine Beitrags- oder anrechenbare Ersatzzeit folgt. Die Wahrung des Versicherungsgedankens, die ein Grundzug der Neuordnung der Rentenversicherungen ist und die auch in diesem gesetzlichen Erfordernis liegt, läßt es sinnwidrig erscheinen, rückblickend eine tatsächlich versicherungs- und beitragsfreie Lehre als eine versicherungspflichtige Beschäftigung anzusehen. Für die Auffassung des Klägers, daß nur die Aufnahme solcher Beschäftigungen oder Tätigkeiten, die zu keiner Zeit versicherungspflichtig waren - der Kläger nennt sie "im eigentlichen Sinn versicherungsfremde Zeiten" -, die versicherungsmäßige Erfassung der Schulzeit verhindere, findet sich im Gesetz keine Stütze. Die Schulzeit ist für den Kläger keine Ausfallzeit.

Das Ergebnis ist auch nicht, wie der Kläger meint, unbillig. Für ihn sind während seiner Lehrjahre tatsächlich keine Beiträge entrichtet worden. Er konnte bis zur Neuregelung der Rentenversicherung im Jahre 1957 nie damit rechnen, daß seine Schul- und Lehrzeiten jemals zur Rentensteigerung beitragen könnten. Erst die Neuregelungsgesetze haben die Möglichkeit einer Rentenerhöhung durch die Anrechnung von Ausbildungszeiten als Ausfallzeiten gebracht. Der Kläger nimmt an dieser Vergünstigung dadurch teil, daß ihm Ausfallzeiten pauschal angerechnet werden (Art. 2 § 14 AnVNG). Die Pauschalberechnung ergibt allerdings keine Ausfallzeit von vier Jahren, wie sie der Kläger bei einer Einzelberechnung erreichen könnte. Daß dies so ist, liegt jedoch im wesentlichen daran, daß der Kläger nur von 1919 bis 1936 pflichtversichert und in dem längeren Abschnitt seines Versicherungslebens, nämlich von 1936 bis 1957 freiwillig versichert war. Wäre er bis zur Vollendung seines 65. Lebensjahrs pflichtversichert geblieben, so erreichte er auch bei der Pauschalberechnung annähernd eine Ausfallzeit von vier Jahren. Es gehört mit zu den Grundauffassungen des Gesetzgebers über die Rentenversicherung, in erster Linie dem Sicherungsbedürfnis der Pflichtversicherten zu entsprechen und folgerichtig je nach der Interessenlage zwischen Pflichtversicherten und freiwillig Versicherten zu unterscheiden (vgl. Jantz-Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, S. 386).

Das Gesetz sieht die Zeit einer Schulausbildung nur dann als Ausfallzeit an, wenn u.a. die Zweijahresfrist gewahrt ist. Der Kläger hat nun darauf hingewiesen, daß dadurch im Einzelfall - wie bei ihm - die Anrechnung solcher Zeiten von Zufälligkeiten - etwa von der Dauer der Lehrzeit - abhängen kann. Das Einhalten einer eng begrenzten Frist ist aber notwendig, um die Verbindung zwischen Ausfallzeit und Versicherungszeit herzustellen. Der Gesetzgeber, der Leistungsverbesserungen anordnet, darf die Voraussetzungen dafür allgemein festlegen. Jede allgemein bestimmte Frist oder sonstige Voraussetzung birgt nun die Möglichkeit in sich, daß nicht jede Eigenart des Einzelfalls, etwa jede Besonderheit im Berufs- oder Lebensweg des Einzelnen berücksichtigt und ausgeglichen werden kann. Danach darf sich jedoch die Auslegung einer gesetzlichen Vorschrift - ihrem Wortlaut und Sinn zuwider - nicht richten. Deshalb führen Überlegungen dieser Art gleichfalls nicht zu dem vom Kläger gewünschten Ergebnis.

Das Urteil des LSG. ist also im Ergebnis richtig, die Revision daher zurückzuweisen (§§ 170 Abs. 1, 193 SGG).

 

Fundstellen

BSGE, 274

NJW 1960, 1077

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