Leitsatz (amtlich)
1. Mit den Worten "Anschluß" und "anschließend" in AVG § 36 Abs 1 Nr 4 ist kein lückenloser zeitlicher Zusammenhang zwischen Schulausbildung und versicherungspflichtiger Beschäftigung oder Ersatzzeit gemeint, es genügt vielmehr, daß die versicherungspflichtige Beschäftigung oder die Ersatzzeit der Schulzeit innerhalb eines Zeitraums von 2 Jahren nachgefolgt ist.
2. Bei der Berechnung der Rente werden längere als die nach AnVNG Art 2 § 14 pauschal festgesetzten Ausfallzeiten nur dann angerechnet, wenn sowohl die Zeiten selbst nachgewiesen sind, als auch ihre Anrechenbarkeit nach AVG § 36 Abs 3 feststeht.
Leitsatz (redaktionell)
1. Zur Frage der Anrechnung von Zeiten der Schulausbildung als Ausfallzeiten bei der Ermittlung der Versicherungsjahre.
2. Ob eine Beschäftigung oder Tätigkeit versicherungspflichtig iS des AVG § 36 Abs 1 Nr 4 war, richtet sich nach dem zur Zeit der Beschäftigung oder Tätigkeit geltenden Recht.
Normenkette
AVG § 36 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23, Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; AnVNG Art. 2 § 14 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1259 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23, Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 14 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 11. Mai 1960 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Rechtsstreit wird um die Höhe der Rente des Klägers geführt, insbesondere um die Frage, ob Zeiten seiner Schulausbildung als Ausfallzeiten nach §§ 35 Abs. 1, 36 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) angerechnet werden können.
Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) hat der im Jahre 1893 geborene Kläger bis Juli 1913 die Oberrealschule besucht und war vom 1. August 1913 an als Banklehrling ohne Entgelt tätig. Von Oktober 1914 bis November 1918 befand er sich im Wehrdienst. Er beendete die Banklehre am 31. Juli 1919. Beiträge zur Rentenversicherung sind für ihn erstmals im Dezember 1918 entrichtet worden. Die Beklagte bewilligte dem Kläger vom 1. Juni 1957 an eine Rente aus der Rentenversicherung der Angestellten (AnV) wegen Erwerbsunfähigkeit. In dem Bescheid hierüber lehnte sie es ab, die nach der Vollendung des 15. Lebensjahres zurückgelegte Schulzeit (1908 bis 1913) des Klägers als Ausfallzeit anzurechnen, weil im Anschluß an die Schulausbildung keine Beiträge zur Rentenversicherung geleistet worden seien; bei der Berechnung der Versicherungsjahre legte sie nur die (kürzere) pauschale Ausfallzeit nach Art. 2§ 14 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - AnVNG - (1/10 der mit Pflichtbeiträgen belegten Zeit) zugrunde (Bescheid vom 2.5.1958).
Das Sozialgericht (SG) wies die Klage ab (Urteil vom 26.2.1959); das LSG wies - unter Zulassung der Revision - die Berufung des Klägers zurück: Der Kläger habe im Anschluß an die Schulausbildung keine versicherungspflichtige Tätigkeit aufgenommen, auch habe sich der als Ersatzzeit geltende Wehrdienst des Klägers nicht an die Schulausbildung, sondern an eine versicherungsfreie Tätigkeit angeschlossen; nach dem Wortlaut des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG könnten daher Zeiten der Schulausbildung des Klägers nicht als Ausfallzeiten angerechnet werden. Selbst wenn man die Zweijahresfrist, innerhalb derer nach dem Gesetz eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen worden sein muß, nicht nur bei der Ersatzzeit - also im Anschluß an diese - berücksichtigen wolle, sondern auch bei der Schulausbildung selbst, käme die Anrechnung der Ausfallzeiten nicht in Betracht, weil die Versicherungspflicht des Klägers erst im Dezember 1918 begonnen habe und das Gesetz eine Unterbrechung der Zweijahresfrist durch eine Ersatzzeit nicht vorsehe (Urteil vom 11.5.1960).
Mit der Revision verfolgt der Kläger den Anspruch auf die Anrechnung der Schulzeit (von 1908 bis 1913) als Ausfallzeit weiter. Er beantragte in diesem Sinne zu erkennen und machte zur Begründung geltend, die Auslegung des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG durch das LSG werde dem Gesetzeswillen nicht gerecht. Wenn dem Schulabsolventen von 1914 oder jedem anderen, der von der Schulbank weg in das Wehrdienstverhältnis eintrat, oder dem Freiwilligen oder Einberufenen des Jahrganges 1913, der bis 1918 im Wehrdienstverhältnis verblieb, die Schulzeit als Ausfallzeit anzurechnen sei, nicht aber dem Schulabsolventen von 1913, der aus irgendwelchen Gründen nicht unmittelbar im Anschluß an die Schulzeit in das Wehrdienstverhältnis eintrat, so müsse eine so ungleiche Behandlung wesentlich gleicher Sachverhalte unbillig erscheinen. Aus der gleichen Situation heraus müsse eine Hemmung des Ablaufs der “Karenzzeit„ durch die dazwischen liegende Ersatzzeit anerkannt werden.
Die Beklagte beantragte die Zurückweisung der Revision.
Die Revision ist zulässig und begründet. Für den Kläger sind Beiträge zur AnV in der Zeit von Dezember 1918 bis Juni 1957 entrichtet worden. Nach Art. 2 § 14 AnVNG ist bei der Berechnung der Rente für die Zeit vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes 1/10 der bis dahin mit Pflichtbeiträgen belegten Zeit als Ausfallzeit anzurechnen, wenn der Berechtigte nicht längere Ausfallzeiten nachweist. Der Kläger will den Nachweis längerer Ausfallzeiten mit dem Hinweis auf seine nach der Vollendung des 15. Lebensjahres liegenden Schulausbildung (1908 - 1913) erbringen. Der Annahme des LSG, daß insoweit nicht die besonderen Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG erfüllt seien, kann der Senat nicht beitreten.
Das Gesetz macht die Anrechnung einer nach der Vollendung des 15. Lebensjahres liegenden weiteren Schulausbildung als Ausfallzeit in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG davon abhängig, daß im Anschluß an die Schulzeit oder nach Beendigung einer hieran anschließenden Ersatzzeit innerhalb von zwei Jahren eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden ist.
Der Kläger hat eine versicherungspflichtige, d.h. mit der Verpflichtung zur Leistung von Rentenversicherungsbeiträgen verbundene Beschäftigung zum ersten Mal im Dezember 1918 aufgenommen. Die Tätigkeit als Banklehrling, die er am 1. August 1913 begonnen hatte, unterlag nach damaligem Recht nicht der Versicherungspflicht, weil für diese Tätigkeit kein Entgelt gewährt wurde. Ob eine Beschäftigung oder Tätigkeit versicherungspflichtig i.S. des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG war, richtet sich - wie der Senat bereits entschieden hat (BSG 11, 274) - nach dem zur Zeit der Beschäftigung oder Tätigkeit geltenden Recht. Anders als etwa in § 16 des Fremdrentengesetzes (FRG) kann weder eine dem deutschen Versicherungsrecht überhaupt nicht unterliegende Beschäftigung im Ausland berücksichtigt noch die Versicherungspflicht einer in der Vergangenheit liegenden Beschäftigung nach dem jetzt geltenden Bundesrecht beurteilt werden. Diese Vorschrift, die zudem noch weitgehende Einschränkungen der Versicherungspflicht außer Betracht läßt, stellt den von ihr erfaßten Personenkreis zweifellos günstiger als die übrigen Versicherten, worauf Farnsteiner in “Die Sozialversicherung„ 1961, 297 hinweist. Auch die Lehrlingszeit des Klägers wäre danach als versicherungspflichtige Beschäftigung anzuerkennen. Die in § 16 FRG geregelten Tatbestände unterscheiden sich aber so wesentlich von den den allgemeinen Vorschriften unterliegenden, daß weder die Regelung des § 16 FRG zu ihrer Auslegung herangezogen werden kann noch Zweifel an der Vereinbarkeit dieser unterschiedlichen Regelung mit dem Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG) bestehen.
Die Schulzeit des Klägers von 1908 bis 1913 ist daher nur dann als Ausfallzeit anzuerkennen, wenn die Aufnahme der Beschäftigung im Dezember 1918 die Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG erfüllt und § 36 Abs. 3 AVG ihre Anrechnung nicht ausschließt.
Da der Kläger die versicherungspflichtige Beschäftigung innerhalb von zwei Jahren nach der Beendigung der Ersatzzeit, nämlich seines Wehrdienstes, aufgenommen hat, kommt es darauf an, ob diese Ersatzzeit sich an die Schulausbildung “angeschlossen„ hat (§ 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG). Die Worte “Anschluß„ und “anschließend„ sind im Gesetz zweimal für den Zusammenhang mit der - vorausgehenden - Schulausbildung verwendet worden: einmal für den Anschluß der versicherungspflichtigen Beschäftigung und zum zweiten für den Anschluß der Ersatzzeit. Dafür, daß es sich hierbei nur um einen zeitlichen Zusammenhang handelt, sprechen sowohl der Wortlaut der Vorschrift selbst als auch ein Vergleich mit § 28 Abs. 2 Buchst. a AVG. Dort ist nämlich ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Aufschub oder der Unterbrechung der Ausbildung und der anzurechnenden Ersatzzeit verlangt, während § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG keine solche Verknüpfung kennt. Es lassen sich aus dieser Vorschrift auch keinerlei Gesichtspunkte entnehmen, nach denen ein mehr oder minder großer zeitlicher Abstand wegen der besonderen Umstände des Einzelfalles “gerechtfertigt„ wäre und darum den Zusammenhang - Anschluß - zwischen Schulausbildung und versicherungspflichtiger Beschäftigung oder zwischen Schulausbildung und Ersatzzeit nicht unterbrechen. Die in dem Rundschreiben des Verbandes der Rentenversicherungsträger vom 18. Juli 1961 (Mitteilungen der LVA Oberfranken 1961 S. 234) vertretene Auffassung, es sei nach den Umständen des Einzelfalles zu beurteilen, ob eine Ersatzzeit sich an die Schulausbildung “anschließe„, findet daher im Gesetz keine ausreichende Stütze. Diese Auffassung führte auch zu einer mit dem Zweck der Vorschrift kaum zu vereinbarenden Kasuistik und damit zu einer beträchtlichen Unsicherheit für die Berechtigten und zu einer außerordentlichen Belastung der Verwaltung und der Rechtsprechung, die sich nur zum Nachteil sowohl der Berechtigten als auch der Versichertengemeinschaft auswirkte.
Daß mit den Worten “Anschluß„ und “anschließend„ in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG aber auch kein lückenloser zeitlicher Zusammenhang zwischen Schulausbildung und versicherungspflichtiger Beschäftigung oder Ersatzzeit gemeint ist, ergibt sich schon daraus, daß zwischen den üblichen Terminen für das Ende der Schulausbildung und für die Aufnahme einer Beschäftigung (z.B. Lehrverhältnis) oder für den Beginn der wohl häufigsten Ersatzzeit (Militärdienst auf Grund der Dienst- und der Wehrpflicht) ein zeitlicher Abstand besteht, der sicher die Anrechnung der Ausfallzeit nicht hindern soll. Der Senat hat deshalb geprüft, ob das Gesetz selbst einen Anhalt dafür bietet, welcher zeitlicher Abstand zwischen den nachfolgenden Versicherungszeiten und vorausgehenden nicht versicherten Zeiten noch einen Zusammenhang wahrt und die Anrechnung dieser Zeiten rechtfertigt. Für eine solche rein zeitliche Begrenzung bietet nach seiner Auffassung der in § 36 Abs. 1 Nr. 4 und in § 28 Abs. 2 Buchst. a AVG ausdrücklich festgelegte Zeitraum von zwei Jahren einen sinnvollen Anhalt. Der Senat befindet sich hierbei im Ergebnis in Übereinstimmung mit der in der Literatur vertretenen Auffassung zu dem zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Ende der Schulausbildung und der Aufnahme der versicherungspflichtigen Beschäftigung (vgl. Jantz/Zweng, Anm. II 4 b zu § 1259 der Reichsversicherungsordnung - RVO -; Brockhoff, Anm. 5 zu § 1259 RVO). Von der gleichen Auslegung ist der Senat bereits in seinem früheren Urteil (BSG 11, 274, 276) ausgegangen, in dem er es als für die Anrechnung der Ausfallzeit wesentlich bezeichnet hat, “daß der Schulzeit alsbald, d.h. innerhalb von zwei Jahren eine Beitrags- oder anrechenbare Ersatzzeit folgt„. An dieser - damals nur beiläufig geäußerten - Auffassung hält der Senat fest. Weder der Wortlaut noch der Sinnzusammenhang der Vorschrift bietet irgendeinen Anhalt dafür, daß für den zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Ende der Schulausbildung und dem Beginn der “anschließenden„ Ersatzzeit andere Gesichtspunkte maßgebend sein sollten. Auch der Umstand, daß in manchen Fällen sowohl zwischen Schulausbildung und Ersatzzeit als auch zwischen dieser und der Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung jeweils volle zwei Jahre liegen können, kann keine andere, etwa von den näheren Umständen des Einzelfalles abhängige Bemessung des zeitlichen Zusammenhangs rechtfertigen, die ja die einzige andere denkbare Lösung wäre. Jede durch die Zielsetzung der Vorschrift des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG nicht gerechtfertigte Anrechnung von Ausfallzeiten wird aber vermieden durch ihre Begrenzung in § 36 Abs. 1 Nr. 4 selbst und vor allem durch die Vorschrift des § 36 Abs. 3 AVG, wonach die Zeit vom Eintritt in die Versicherung bis zum Eintritt des Versicherungsfalls mindestens zur Hälfte, jedoch nicht unter 60 Monaten mit Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit oder gleichstehenden freiwilligen Beiträgen belegt sein muß.
Da der Kläger etwa dreizehn Monate nach dem Ende der Schulausbildung den als Ersatzzeit anzurechnenden Wehrdienst begonnen und in dem auf das Ende dieses Wehrdienstes folgenden Monaten die versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen hat, erfüllt er die Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG für die Anrechnung der nach Vollendung des 15. Lebensjahres liegenden weiteren Schulausbildung bis zur Höchstdauer von vier Jahren. Diese Zeit ist länger als die von der Beklagten fest gesetzte pauschale Ausfallzeit von 15 Monaten. Die Anrechnung der weitergehenden 33 Monate Ausfallzeit auf die Rente ist aber nur dann möglich, wenn für den Kläger auch die bereits genannten Voraussetzungen in § 36 Abs. 3 AVG erfüllt sind. Zwischen dem Eintritt des Klägers in die Versicherung am 1. Dezember 1918 und dem Eintritt des Versicherungsfalls im Juni 1957 liegen 462 Monate. Die Hälfte hiervon sind 231 Monate. Für den Kläger sind aber nach den Aktenunterlagen nur 152 Beitragsmonate auf Grund der Versicherungspflicht nachgewiesen. Es kommt deshalb darauf an, ob die Voraussetzungen nach § 36 Abs. 3 Satz 2 AVG für die Gleichstellung der freiwilligen Beiträge mit den Pflichtbeiträgen gegeben sind. Hierüber sind bisher keine Feststellungen getroffen worden. Es fehlt ein Nachweis darüber, daß der Kläger nur wegen Überschreitens der Jahresarbeitsverdienstgrenze versicherungsfrei wurde und die bis dahin bestehende Pflichtversicherung freiwillig fortgesetzt hat. Der Senat kann deshalb den Rechtsstreit nicht selbst abschließend entscheiden. Die Sache muß vielmehr nach Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden (§ 170 Abs.2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen