Orientierungssatz
Wird eine Neufeststellung nach RVO § 1300 begehrt, handelt es sich nicht um eine Leistungsklage, sondern um eine zusammengefaßte Aufhebungs- und Verpflichtungsklage iS von SGG § 54 Abs 1 S 1.
Für die auf RVO § 1300 gestützte Verpflichtungsklage bedarf es nach SGG § 79 Nr 2 eines Vorverfahrens.
Normenkette
RVO § 1300 Fassung: 1957-02-23; SGG § 54 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 79 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. Februar 1960 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Rente, die der Kläger seit 1954 aus der Angestelltenversicherung erhält, neu zu berechnen ist (§ 79 Angestelltenversicherungsgesetz - AVG -).
Der Kläger beantragte im August 1957 bei der Beklagten, ihm weitere Versicherungszeiten anzurechnen. Diese überprüfte seine Angaben unter Einschaltung der zuständigen Knappschaft. Mit Schreiben vom 19. Mai 1959 teilte sie dann dem Kläger mit, daß weitere Versicherungszeiten nicht berücksichtigt werden könnten, weil diese nicht als glaubhaft gemacht anzusehen seien. Abschließend hieß es in dieser Mitteilung: "Die vorgelegte Bescheinigung vom 14. Mai 1958 ist nicht geeignet, uns von der Fehlerhaftigkeit unseres Bescheides vom 9. Januar 1956 zu überzeugen. Ein Rechtsmittel gegen diese Mitteilung ist nicht gegeben."
Das Sozialgericht (SG) wies die auf Neufeststellung der Rente gerichtete Klage als unzulässig ab, weil der Klage das nach § 79 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erforderliche Vorverfahren nicht vorausgegangen sei. Auf die Berufung des Klägers hob das Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil auf und verwies den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das SG zurück. Nach der Meinung des LSG betrifft der angefochtene Verwaltungsakt eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht; mit der Klage könne daher neben der Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts auch gleichzeitig die Leistung verlangt werden (Urteil vom 19. Februar 1960).
Die Beklagte legte Revision ein mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen. Sie rügte die unrichtige Auslegung des § 79 AVG.
Der Kläger ist vor dem Bundessozialgericht (BSG) nicht vertreten.
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet. Dem angefochtenen Urteil ist im Ergebnis beizutreten.
Die Beschwerde der Beklagten - diese ist auch im sozialgerichtlichen Verfahren eine Voraussetzung für die Zulässigkeit der Revision (BSG 6, 180, 182) - ist gegeben. Die Beklagte ist durch das angefochtene Urteil insofern beschwert, als das Urteil des SG, durch das ihrem Antrag auf Abweisung der Klage entsprochen wurde, aufgehoben worden ist.
Der Kläger begehrt die Neufeststellung seiner Rente nach § 79 AVG. Hiernach hat der Versicherungsträger die Rente "neu festzustellen", wenn er sich von der Unrichtigkeit des früheren Bescheids überzeugt. Der Versicherungsträger ist in solchen Fällen zur Neufeststellung nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet. Es entfällt dann die Bindungswirkung des früheren Bescheids (§ 77 SGG), und der neue Bescheid tritt an die Stelle des früheren. Nur wenn und soweit sich der Versicherungsträger nicht von der Unrichtigkeit des früheren Bescheids überzeugt und deshalb eine Neufeststellung abgelehnt hat, können die Gerichte prüfen, ob der Versicherungsträger bei der Bildung seiner Überzeugung offensichtlich fehlerhaft gehandelt hat (BSG 19, 38, 93).
Nach der Meinung des Klägers hat die Beklagte die begehrte Neufeststellung zu Unrecht abgelehnt und hätte ein Neufeststellungsbescheid erteilt werden müssen. Sein Klagebegehren geht also dahin, den ablehnenden Bescheid vom 19. Mai 1959 als rechtswidrig aufzuheben und die Beklagte durch Urteil zu verpflichten, einen neuen bisher abgelehnten Bescheid über die Gewährung der Rente unter Berücksichtigung von weiteren Versicherungszeiten zu erteilen. Es handelt sich somit um eine zusammengefaßte Aufhebungs- und Verpflichtungsklage im Sinne von § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG. Wenn auch im Ergebnis eine höhere Rente erstrebt wird, so ändert das nichts daran, daß das prozessuale Ziel des klägerischen Begehrens nach § 79 AVG eindeutig auf eine Neufeststellung der Rente, also auf die Erteilung eines Bescheids gerichtet ist. Das liegt begründet in dem begrenzten Inhalt des § 79 AVG. Deshalb aber kommt eine Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG nicht in Betracht. Diese Ansicht vertritt auch der 11. Senat des BSG in seinem Urteil vom 18. Februar 1964 - 11/1 RA 90/61. Der erkennende Senat schließt sich nach eigener Prüfung der Rechtslage dieser Auffassung an. Solange also der Versicherungsträger den früheren Bescheid nicht aufhebt und durch einen neuen ersetzt, bleibt dem Rentenberechtigten nur die Möglichkeit der zusammengefaßten Aufhebungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG). Dies setzt allerdings voraus, daß ihm der Versicherungsträger einen entsprechenden Bescheid - wenn auch in formloser Mitteilung - zukommen läßt. Sieht der Versicherungsträger hiervon ab, so steht dem Rentenberechtigten gegebenenfalls die Untätigkeitsklage offen (§ 54 Abs. 1, § 88 SGG). Im vorliegenden Falle ist - entgegen der Meinung der Beklagten - in ihrer Mitteilung vom 19. Mai 1959 ein das klägerische Begehren ablehnender Verwaltungsakt zu erblicken, den der Kläger mit dem Rechtsbehelf des Widerspruchs anfechten konnte.
Für die auf § 79 AVG gestützte Verpflichtungsklage, die auf Verurteilung zur Neufeststellung, also zum Erlaß eines abgelehnten Verwaltungsakts gerichtet ist, bedarf es nach § 79 Nr. 2 SGG eines Vorverfahrens. Es ist auch nicht deshalb entbehrlich, weil die Beklagte während des Rechtsstreits auf ihrem ablehnenden Standpunkt beharrte (BSG 8, 3, 8). Würde allein ein solches Verhalten das Vorverfahren entbehrlich machen, wären die Vorschriften über die Notwendigkeit eines Vorverfahrens (§§ 78 ff SGG) weitgehend entwertet. Das LSG hat die Notwendigkeit eines Vorverfahrens im vorliegenden Falle verkannt; es hat das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen, weil das SG die Klage abwies, ohne in der Sache selbst zu entscheiden (§ 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Der Senat billigt nicht die Begründung dieser Entscheidung. Gleichwohl ist er dem Ergebnis des LSG-Urteils aus prozeßökonomischen Gründen beigetreten. Die Revision der Beklagten war deshalb zurückzuweisen.
Das SG wird nunmehr unter Nachholung des Vorverfahrens über die zusammengefaßte Aufhebungs- und Verpflichtungsklage zu entscheiden haben. Dabei wird es berücksichtigen müssen, daß in der am 26. Mai 1959 erhobenen bzw. fortgeführten Klage zugleich auch ein rechtzeitig erhobener Widerspruch gegen den Bescheid vom 19. Mai 1959 zu erblicken ist. Bei der Prüfung des Widerspruchsbescheides wird zu beachten sein, daß das Gericht befugt ist, aus von ihm nachprüfbaren objektiven Umständen zu folgern, daß die Beklagte als "überzeugt" im Sinne von § 79 AVG anzusehen ist. Das wiederum wird davon abhängig sein, ob auf Grund der vorliegenden Umstände die Rechtswidrigkeit des früheren Bescheids so offensichtlich ist, daß dies die Beklagte bei erneuter Prüfung hätte erkennen müssen. Das Gericht darf jedoch nicht seine Überzeugung an die Stelle derjenigen des Versicherungsträgers setzen. Der Senat schließt sich insoweit der Auffassung des 2. Senats (BSG 19, 38, 43) und der ihr folgenden Rechtsprechung des 11. Senats (vgl. das genannte Urteil vom 18. Februar 1964) an.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen