Leitsatz (amtlich)

1. Die Versorgungsverwaltung ist nicht deshalb gehindert, rechtsverbindliche Bescheide über wehrdienstbedingte Schädigungsfolgen gemäß VerwVG § 41 zu berichtigen, weil zu dem Versorgungsrechtsverhältnis eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung lediglich über die Erhöhung der Minderung der Erwerbsfähigkeit ergangen ist.

2. Zum Begriff "außer Zweifel stehen" iS von VerwVG § 41 Abs 1 S 1 (vergleiche BSG 1957-11-15 9 RV 212/57 = BSGE 6, 106; BSG 1971-07-06 9 RV 346/70 = SozR Nr 30 zu § 41 VerwVG); Umfang der Sachaufklärung auf medizinischem Gebiet (vergleiche BSG 1958-02-26 10 RV 996/57 = BSGE 6, 113).

3. Zur Verwirkung der Befugnis, zweifelsfrei unrichtige Versorgungsbescheide gemäß VerwVG § 41 zu berichtigen und zur Verwirkung der Rückforderung gemäß VerwVG § 47 Abs 3 (vergleiche BSG 1972-12-05 10 RV 441/71 = BSGE 35, 91 = SozR Nr 31 zu § 41 VerwVG).

 

Normenkette

KOVVfG § 41 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1960-06-27, § 47 Abs. 3 Fassung: 1960-06-27; SGG § 103 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 12. Juni 1974 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Mit Bescheiden vom 15. und 16. April 1952 waren gegenüber dem Kläger als Schädigungen, die durch militärischen Dienst herbeigeführt worden seien, anerkannt worden: 1. Narben und Darmverwachsungen nach Bauchsteckschußverletzung, Verdacht auf Leberschädigung; 2. Beugekontraktur des 2. bis 5. Finger der linken Hand; 3. reizlose Kopfschwartennarbe in der rechten Scheitelbeingegend. Hierfür hatte der Kläger wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) zunächst von 70 v. H. und später von 60 v. H. Versorgungsbezüge erhalten. Diese Bescheide und zwischenzeitlich erlassene Rentenneufeststellungen hob das Versorgungsamt (VersorgA) B durch Bescheid vom 1. Dezember 1972 - bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 24. Januar 1973 - in bezug auf die Bauchsteckschußverletzung und die Beugekontraktur von vier Fingern der linken Hand sowie hinsichtlich der hierfür zugestandenen Beschädigtenversorgung auf; die Versorgungszahlungen für die Zeit von September 1948 bis Dezember 1972 im Betrage von 21.734,- DM forderte es zurück. Das VersorgA folgerte aus einem - den Kläger betreffenden - Wehrmacht-Gesundheitsbuch, welches dem Amt im Oktober 1959 aus dem Krankenbuchlager B übermittelt worden war, daß die Verletzungen im Bauch und an der linken Hand des Klägers zu Unrecht als Schädigungsfolgen angesehen worden waren. Die Narben im Unterbauch und die Darmverwachsungen rührten ausweislich dieses Gesundheitsbuches von drei Operationen nach einer Blinddarmentzündung im Jahre 1924 her, und die Fingerverkrümmungen der linken Hand seien Erscheinungen einer 1937 aufgetretenen Dupuytrenschen Kontraktur. Die Operationen und Erkrankungen aus der Vorkriegszeit habe - so das VersorgA - der Kläger verschwiegen. Diese Erkenntnis war durch mehrere ärztliche Stellungsnahmen, so durch ein Gutachten des Facharztes für Chirurgie Dr. D (1967) erhärtet worden. Die Berichtigung war nicht schon früher vorgenommen worden, weil die Verwaltung sich wegen eines rechtskräftigen sozialgerichtlichen Urteils an einer Änderung der voraufgegangenen Entscheidungen gehindert gesehen hatte (Verwaltungsvorschrift Nr. 7 zu § 41 VerwVG). In dem erwähnten Gerichtsverfahren war allerdings die Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Militärdienst und Gesundheitsstörung nicht Verhandlungsgegenstand gewesen; vielmehr war über das Ausmaß der Schädigungsfolgen und die Höhe der MdE gestritten worden. - Am 20. Juli 1971 hatte das VersorgA dem Kläger sogar rückwirkend vom 1. Januar 1964 an Berufsschadensausgleich zugestanden.

Die Klage, mit welcher der Kläger den Berichtigungsbescheid anficht und die Gewährung eines höheren Berufsschadensausgleichs anstrebt, hat das Sozialgericht (SG) Bayreuth durch Urteil vom 10. Juli 1973 abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 12. Juni 1974 zurückgewiesen. Die Vorinstanzen haben, nachdem sie ein weiteres Gutachten von dem Chirurgen Dr. G eingeholt hatten, keinen Zweifel gehabt, daß ein Kausalzusammenhang zwischen den erwähnten Befunden und dem Wehrdienst nicht bestehe, der Kläger vielmehr die ihn begünstigenden Bescheide vom 15. und 16. April 1952 erschlichen habe. Infolgedessen sei die Berichtigung bzw. Rücknahme dieser Verwaltungsakte und die Rückforderung gerechtfertigt. Für die Berichtigung sei keine Frist gesetzt; sie könne also auch noch nach Ablauf einer längeren Zeit geschehen. Dieser Maßnahme habe auch nicht im Wege gestanden, daß das VersorgA dem Kläger noch im Juli 1971 Berufsschadensausgleich zugesprochen habe; denn solange ihm die Schwerbeschädigteneigenschaft nicht aberkannt worden sei, habe man auch die weiteren Folgerungen aus dieser rechtlichen Gegebenheit ziehen müssen.

Der Kläger hat die - nicht zugelassene - Revision eingelegt. Er beanstandet die Beweiswürdigung, mit der das Berufungsgericht zu der Überzeugung gelangt ist, daß die Narben an seinem Unterleib nicht auf eine Bauchsteckschußverletzung und die Fingerkontrakturen der linken Hand nicht auf Splitterverletzungen hindeuten. Die Meinung des LSG, dieses Resultat stehe außer Zweifel fest, sei angesichts widersprechender ärztlicher Gutachten unhaltbar. - So hätten die Ärzte, die 1954 die Bauchnarben als wahrscheinliche Folgen einer Kriegsverletzung angesehen hätten, Verwachsungen, Muskelverspannungen und mechanische Bewegungsstörungen beschrieben (Dr. F und die Gutachterstelle der Chirurgischen Universitätsklinik M). Demgegenüber habe Dr. G. 1973 erklärt, daß die Unterbauchnarben gut verschieblich und fest seien. Andererseits enthalte das Gesundheitsbuch nur die Eintragung über drei Blinddarmoperationen; von nachteiligen Folgen verlaute darin aber nichts. - In bezug auf den Befund der linken Hand hält die Revision den Gründen des Berufungsurteils die Erklärung des Sachverständigen Dr. D entgegen, daß eine wesentliche Narbenbildung einer Dupuytrenschen Kontraktur der Palmarfascie entsprechend nicht bestehe. Aufkommende Zweifel sieht die Revision auch nicht durch die Ansicht des Dr. G behoben, der zwar die Beugekontraktur von vier Fingern der linken Hand "einwandfrei" auf eine anlagebedingte Verkrümmung zurückführe, aber auch von einer allmählichen Fortentwicklung dieses Leidens gesprochen habe. Letzteres stimme aber wieder mit der Schilderung anderer Ärzte, so der des Dr. D und der des Dr. I, nicht überein. Nach Ansicht der Revision hat das LSG die Darstellung des Dr. D auch im übrigen nicht korrekt gewertet.

Es habe aus dem Gutachten herausgelesen, daß nichts für eine kriegsbedingte Verwundung spreche. Dem stehe entgegen, daß Dr. D für den Fall einer Schußverwundung lediglich "im allgemeinen" eine breitere Öffnung des Bauchraumes durch Mittelschnitt annehme. Er räume aber einen von dieser Erfahrung abweichenden Sachverhalt als möglich ein. - Die Revision vermißt ein Eingehen des Berufungsgerichts darauf, daß die Bauchnarben und Verwachsungsbeschwerden nicht hinreichend mit denjenigen Operationen zu erklären seien, die der Kläger im Alter von 9 Jahren durchgemacht habe. Es sei immerhin zu bedenken gewesen, daß der Kläger vor seinem Eintritt in den Infanteriedienst der Reichswehr im Jahre 1934 mit Sicherheit gründlich untersucht worden sei. Eine Untersuchung mit den hohen Anforderungen, wie sie damals üblich gewesen seien, erwähne das LSG gar nicht. Statt dessen argumentiere es mit Unterstellungen wie der, daß der Kläger seinerzeit etwaige Beschwerden und Behinderungen nicht angegeben habe, um sein Ziel, Offizier zu werden, nicht zu gefährden. - Die Revision erblickt eine Verletzung der Aufklärungspflicht darin, daß das LSG die von dem Kläger für die Behauptung seiner Kriegsverwundung benannten Zeugen G und A nicht gehört, den Wert ihrer möglichen Aussagen vielmehr mit der Bemerkung heruntergespielt habe, die Zeugen wüßten nicht zu berichten, daß der Kläger verwundet in Gefangenschaft geraten sei.

Der Kläger beantragt,

die angefochtenen Urteile sowie die Bescheide des Versorgungsamtes B vom 1. Dezember 1972 und 20. Juli 1971 und die Widerspruchsbescheide vom 24. Januar 1973 und 27. August 1971 aufzuheben, ferner den Beklagten zur Gewährung des Berufsschadensausgleichs unter Berücksichtigung der Stellung eines Berufsoffiziers zu verurteilen;

hilfsweise:

die Rückforderung aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist statthaft, weil wenigstens ein Teil der Verfahrensrügen durchgreift (§ 162 Abs. 1 Nr. 2, § 164 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - in der bis zum 31. Dezember 1974 geltenden Fassung - Art. III, VI des Änderungsgesetzes vom 30. Juli 1974, BGBl I, 1625 -; BSG 1, 150).

Der Revision ist darin beizupflichten, daß die Befundbeschreibungen in den Gutachten des Internisten Dr. F (1. Mai 1954) und des Dr. G teilweise voneinander abweichen oder abzuweichen scheinen. Der Erstgenannte nahm nach Darstellung "nachgewiesener Veränderungen" der Verdauungsorgane und der "beiden großen Narben des rechten Unterbauches ... mit großer Wahrscheinlichkeit" an, daß diese Körperschädigungen in ursächlichem Zusammenhang mit der Bauchverletzung stünden. Er sprach im Anschluß an diese Erklärung von dem "durch Verwachsungen fixierten colon ascend." und in Verbindung hiermit von "mechanischen Bewegungsstörungen". Dagegen heißt es in dem Gutachten des Dr. G vom 21. Juni 1973, die Unterbauchnarben seien reizlos, gut verschieblich und fest. Ob die hier wiedergegebenen ärztlichen Äußerungen einander widersprechen oder wie die eine mit der anderen zu vereinbaren ist, hat das LSG nicht aufgehellt. Es hätte auch beachtet werden müssen, daß in dem Gutachten der Chirurgischen Universitätsklinik München vom 30. September 1954 mitgeteilt wurde, die Narben seien mit der Unterlage verwachsen und spannten sich mit der Muskulatur an; bei der Palpation der rechten Bauchnarbe werde ein leichter ziehender Schmerz angegeben. Mögliche Divergenzen der genannten Art hätten durch Fragen an Dr. G oder einen anderen Mediziner behoben werden müssen. Von dem Erfordernis zusätzlicher Beweisermittlung war das LSG nicht durch die Stellungnahme des Chirurgen Dr. D vom 21. November 1967 entbunden. Als dieser Sachverständige sein Gutachten erstattete, waren zwar die Bedenken gegen die Ursächlichkeit der Bauch- und Handverletzungen mit wehrdienstbedingten Schädigungen bekannt. Gleichwohl war jedoch der Sachverständige ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht worden, daß diese Ursächlichkeit seinerzeit nicht in Frage gestellt werden sollte und zu unterstellen war. Weil dieser Sachverständige sonach sich zu dem hier streitigen Thema nicht zu äußern hatte, ist es fragwürdig, daß das Berufungsgericht aus seinen Darlegungen eine Erklärung zum strittigen Punkt folgert und meint, Dr. ... lasse deutlich die Ansicht erkennen, für eine kriegsbedingte Verwundung des Unterbauches "spreche nichts". Tatsächlich ist die Beurteilung dieses Arztes auch nicht so eindeutig ausgefallen. Vielmehr bemerkt er zu dem Erscheinungsbild der Bauchnarben, daß sie mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als Operationsnarben zu bezeichnen seien; aber er räumt auch die Möglichkeit der "früher vom Kläger behaupteten und jetzt nicht mit Sicherheit auszuschließenden Schußverwundung" ein. Gegenüber der Annahme einer Granatsplitterverletzung der linken Hand notiert dieser Sachverständige bloß, daß der "jetzige gute Narbenbefund auffallend" sei. - Aus allem folgt, daß das LSG die älteren Begutachtungen aus 1954 und vorher nicht deshalb hätte abtun dürfen, weil jene Ärzte in Unkenntnis der operativen Eingriffe aus den Jahren 1924 und 1937 auf die Angaben des Klägers vertraut hätten. Da es auf die zweifelsfreie Unrichtigkeit früherer Anerkenntnisse ankam, war ein genauer medizinisch kritischer Vergleich derjenigen Gutachten, welche diesen älteren Verwaltungsentscheidungen zugrunde lagen oder sie bestätigten, mit dem gegenwärtig zu erhebenden Befund und den daraus herzuleitenden medizinischen Schlüssen unentbehrlich. Vor allem oblag es dem Gutachten des Dr. G, den Gutachten von 1952 und 1954 die Beweiskraft zu nehmen. Dieser Aufgabe wird das Gutachten des Dr. G nicht hinreichend gerecht. Er hielt die Kopfschwartennarben "allenfalls" für eine Schädigungsfolge im versorgungsrechtlichen Sinne. Diese Folgerungen verneinte er aber "mit der gleichen Gewißheit" in bezug auf die Narben im Unterbauch, die Darmverwachsungen und die Beugekontraktur von vier Fingern der linken Hand. Für diese Beurteilung gab er eine medizinische Erklärung nur insoweit, als er ausführte, die Narben in der linken Hohlhand sowie im Bereich des Unterbauchs entsprächen der Schnittführung und der Lage nach typischen operativen Eingriffen. Diese Erfahrungslehre hätte näher ausgeführt und belegt werden sollen. Ohne eine weitere konkrete Verdeutlichung blieb die Frage unbeantwortet, ob damit die Möglichkeit von Schuß- oder Splitterverletzungen überhaupt und in welchem Maße ausgeschlossen ist. Es ist nicht - aus medizinischen Gründen - dargelegt, wieso die früheren Gutachten mit einem hohen Grad von Gewißheit als unzutreffend zu bewerten sind. Diese Antwort folgte ferner nicht ohne weiteres schon aus dem Hinweis des Dr. G auf die Beschreibung des Befundes, der sich bei Einstellung des Klägers in die Wehrmacht gezeigt hatte. Im übrigen bezog sich Dr. G auf den Inhalt des Gesundheitsbuches, also auf ein Beweisstück, das - auch nach Auffassung des Berufungsgerichts- durch die Stellungnahme des Mediziners erst noch zusätzlich abgestützt werden sollte. Es fehlt die Auseinandersetzung mit den früheren ärztlichen Beurteilungen und Einschätzungen, die ein gegenteiliges Ergebnis hatten und zur Bewilligung des Versorgungsanspruchs führten. Dr. G erwähnte zwar die früheren Gutachten in Verbindung mit hier weniger interessierenden Punkten, z. B. im Zusammenhang mit einem Leberschaden oder Gedächtnisverlust des Klägers. Insgesamt unterblieb aber eine kritische Würdigung der vor 1954 vorgefundenen und beschriebenen Verhältnisse und der daraus abzuleitenden ärztlichen Erkenntnisse.

Diese Aufklärungsrüge hat die Revision noch hinreichend deutlich vorgetragen, indem sie Unterschiede in den Befundschilderungen der in Betracht kommenden Gutachten angeführt und beanstandet hat, daß das Berufungsgericht diese Abweichungen nicht zum Gegenstand weiterer Beweiserhebung gemacht hat. Das Berufungsgericht mußte um so mehr alle sich anbietenden einschlägigen Beweisquellen ausschöpfen, als jeder Zweifel an den von ihm zu treffenden tatsächlichen Feststellungen auszuschließen war. Nur wenn die Möglichkeit schlechthin entfiel, daß der Kläger, wie ursprünglich angenommen, in dem hier streitigen Umfang kriegsdienstbeschädigt sei, durfte das LSG die Voraussetzungen für eine Berichtigung nach § 41 Abs. 1 Satz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) für erfüllt halten (ständ. BSG-Rspr. SozR Nr. 30 zu Verw-VG § 41).

Nach dem Vorhergesagten vermögen die getroffenen Feststellungen die Berufungsentscheidung nicht mit der gebotenen Gewißheit zu tragen. Darin ist ein wesentlicher Verfahrensmangel zu erblicken. Zwar wird der Umfang des zu erforschenden Sachverhalts grundsätzlich danach bestimmt, was nach materiell-rechtlicher Auffassung des LSG für die von ihm zu treffende Entscheidung erheblich ist. In dieser Beziehung lassen aber die Gründe des Berufungsurteils erkennen, daß das LSG den Begriff "außer Zweifel stehen" im Sinne des § 41 VerwVG nicht verkannt und nicht abweichend von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hierzu verstanden hat (BSG 6, 106). Im übrigen hat man es bei diesem Begriff, mit einem "verfahrensrechtlichen Hilfsmittel" (vgl. BSG 6, 109) zu tun, das wohl dem materiellen Recht zugerechnet wird, zugleich aber auch Objekt einer Verfahrensrüge sein kann (vgl. SozR Nr. 45 zu § 162 SGG). Davon ist in diesem Streitfalle auszugehen. Freilich ergibt nicht jeder Irrtum in der Auslegung verfahrensrechtlicher Vorschriften einen Verfahrensmangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG aF. Dies ist zu verneinen, wenn die rechtlich falsche Beurteilung einer Verfahrensnorm den Inhalt der angefochtenen Entscheidung selbst bildet. Anders ist es hingegen, wenn der Irrtum das Verfahren des Gerichts bei der Urteilsfindung beeinflußt hat (BFH, NJW 1971, 168). Im Falle des Klägers hätte sich dieser Irrtum, wenn er vorläge, auf die Urteilsfindung darüber ausgewirkt, ob die Voraussetzungen einer Berichtigung gegeben waren. Die Revision, die dies mit Verfahrensrügen hinreichend geltend gemacht hat, ist deshalb begründet. Danach muß das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das LSG zurückverwiesen werden.

Diese Entscheidung steht mit den Ausführungen des 10. Senats im Beschluß vom 26. Februar 1958 (BSG 6, 113, 114, 115) in Einklang, wonach das Gericht, wenn es sich von der Unrichtigkeit des alten Bescheids (noch) nicht völlig sicher überzeugen kann, der Aufhebungsklage gegen die Berichtigung jedenfalls dann nicht ohne weiteres stattzugeben hat, wenn durch weitere Ermittlungen die bestehenden Zweifel schließlich doch noch vollständig ausgeräumt werden können. So verhält es sich hier, wenn man den bislang noch bei weitem nicht als erschöpfend anzusehenden Stand der Ermittlungen berücksichtigt. Infolgedessen entfällt derzeit auch nicht die Pflicht des Gerichts zur Fortsetzung der Sachaufklärung. Erst nach weiterer Beweiserhebung werden künftige Zweifel an der Unrichtigkeit früherer Bewilligungen als behoben oder als bestätigt angesehen werden können.

Im übrigen stimmt der Senat mit dem LSG darin überein, daß die Berichtigung nach § 41 VerwVG durch die Versorgungsbehörde nicht infolge vorangegangener Gerichtsentscheidungen unzulässig war (vgl. Verwaltungsvorschrift Nr. 7 zu § 41 VerwVG). Allerdings ist über das Versorgungsrechtsverhältnis des Klägers am 24. Januar 1956 ein - rechtskräftig gewordenes - Urteil des SG München ergangen. In diesem Urteil wurde indessen lediglich über den Grad der durch Schädigungsfolgen hervorgerufenen MdE befunden. Die Schädigungsfolgen als solche sowie der Rentenanspruch schlechthin und die Schwerbeschädigteneigenschaft waren - wie das Urteil mit deutlichen Worten hervorhebt - bereits vorher von der Versorgungsbehörde verbindlich anerkannt worden. Mithin wurde in dem Urteil die Basis des Versorgungsrechtsverhältnisses, welche jetzt im Wege der Berichtigung rückwirkend beseitigt werden soll, als zugesichert vorausgesetzt und als gegeben hingenommen. Diese Grundlage ist nicht Gegenstand des Urteils gewesen; an ihr sollte und konnte das richterliche Erkenntnis nichts ändern. Folglich vermochte die Versorgungsverwaltung über diese Anspruchselemente im Rahmen des § 41 VerwVG zu verfügen (vgl. dazu ferner BSG, Beschluß vom 16.5.1975 - 9 RV 320/74 -).

Für die neue Verhandlung und Entscheidung ist zu bemerken: Das LSG hat den Gedanken, daß die Berichtigung der Anerkennungsbescheide verwirkt sein könnte, mit unzureichender Begründung verworfen. Es hat sich im wesentlichen mit einer Abwägung der einander gegenüberzustellenden Belange begnügt und das Interesse des Klägers an der Aufrechterhaltung seiner "formalen Rechtsstellung" zurückstehen lassen hinter dem Bestreben, die Allgemeinheit vor sachlich nicht gerechtfertigten Aufwendungen zu bewahren. Die Urteilsüberlegungen lassen jedoch ein genaueres Eingehen auf diejenigen Kriterien vermissen, welche die Norm der Verwirkung bilden (zusammenfassend: BSG 35, 91, 94 ff. m. w. N.; siehe auch BSG vom 25. Januar 1972 - 9 RV 238/71 BVBl 1972, 73 -). Für das Rechtsinstitut der Verwirkung ist kennzeichnend, daß das Handeln dessen, der ein Recht außerordentlich spät ausübt, als illoyal zu charakterisieren ist. Die Illoyalität folgt regelmäßig daraus, daß der Berechtigte sich zu seinem eigenen früheren Verhalten in Widerspruch setzt. Das frühere Verhalten muß geeignet gewesen sein in dem anderen das Vertrauen in den endgültigen Bestand seiner Rechtsposition zu wecken und zu festigen. So kann es hier gewesen sein. Im Jahre 1959 erhielt die Versorgungsbehörde Kenntnis von den Umständen, welche den starken Verdacht wachriefen, der Kläger habe die Verwaltung über die wahren Ursachen seiner Bauchnarben, Darmverwachsungen und Funktionsstörungen der linken Hand irregeführt. Die Tatsache, daß die Versorgungsbehörde von der "Täuschung" inzwischen erfahren hatte, erfuhr der Kläger während eines früheren Rechtsstreits. Dazu gab er am 18. Mai 1961 die - in den Augen der Verwaltung unglaubhafte - Erklärung ab, er könne sich an die in die Jahre 1924 und 1937 zurückreichenden Gesundheitsstörungen nicht erinnern. Der Kläger mußte nunmehr nachteilige Folgerungen erwarten. Diese blieben aber aus. Statt dessen besserte die Versorgungsbehörde in einer Reihe von Rentenneufestsetzungen die dem Kläger gewährten Leistungen auf und gestand ihm sogar vom 1. Januar 1964 an Berufsschadensausgleich zu. Damit konnte in dem Kläger die Zuversicht aufkommen, er habe einen Verlust seiner Berechtigung nicht mehr zu befürchten. Ob dies zutrifft, hängt freilich wiederum davon ab, ob und in welchem Grade dem Kläger ein fortwährend unredliches Verhalten vorzuwerfen ist. Hierüber werden nicht zuletzt die noch anzustellenden Ermittlungen zur Unrichtigkeit der Rentenbewilligung näheren Aufschluß geben. Sollte sich aber der Kläger auf die Fortdauer seiner Bezüge haben verlassen dürfen, so wäre zu erörtern, ob er sich darauf eingerichtet hat (hierzu vgl. BSG 35, 91, 96 f.; SozR Nr. 48 zu § 77 SGG). Ob und wie er sich in seiner Lebensplanung auf die Weitergewährung der Versorgung eingestellt hat und welche besonderen Nachteile für ihn mit ihrer nachträglichen Beseitigung verbunden wären, ist bei dem gegenwärtigen Stand der Tatsachenermittlungen ebenfalls noch nicht abschließend zu beurteilen. Dazu wird sich das LSG durch zusätzliche Nachforschungen ein genaueres Bild zu verschaffen haben.

Sollte sich dann herausstellen, daß die Versorgungsverwaltung die rechtliche Möglichkeit behalten hatte, die ursprünglichen Bewilligungsbescheide rückgängig zu machen, dann wird das LSG zu erwägen haben, ob der Erstattungsanspruch des Beklagten in vollem Umfang gerechtfertigt ist. Dazu hat das Berufungsgericht ausgeführt, dieser Anspruch habe erst geltend gemacht werden können, nachdem die Unrechtmäßigkeit der früheren Leistungsbescheide festgestanden habe und ausgesprochen worden sei. Der Anspruch könne sonach nicht verwirkt sein, da er gemeinsam mit dem Berichtigungsbescheid bekanntgemacht worden sei und der Kläger Tatsachen, welche für die Leistungsgewährung bedeutsam gewesen seien, teils wissentlich falsch angegeben und teils verschwiegen habe. Mit dieser Argumentation allein ist die Pflicht zur Rückzahlung für die ganze Bezugszeit von 1948 bis 1972 nicht zu begründen. Auch in diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, daß die Behörde von 1959 bis 1972 aus dem Argwohn gegen die Versorgungsberechtigung des Klägers nicht nur nichts herleitete, sondern dieses Recht sogar durch weitere Verwaltungsentschließungen bestätigte. Zwar wirkte die Berichtigung gemäß § 41 VerwVG - und für die Zeit vor dem 1.4.1955 nach allgemeinem Verwaltungsrecht - auf den Zeitpunkt zurück, in dem die rechtswidrigen Bescheide erlassen worden waren (SozR Nr. 22 zu VerwVG § 41). Dennoch kann die Rückforderung aber wegen Zeitablaufs und weiterer damit zusammenhängender Umstände zeitlich begrenzt sein. Für diese Rechtsfolge ist es gleichgültig, ob der Empfänger die ungerechtfertigten Bezüge sich redlich verschafft hatte oder nicht. Also auch dann, wenn die Bewilligungsbescheide nach § 41 VerwVG aufgehoben worden sind und eine Erstattungspflicht gemäß § 47 Abs. 3 VerwVG deshalb besteht, weil der Empfänger die Behörde hintergangen hat, vermag die Versorgungsverwaltung die Rückzahlung nur innerhalb angemessener Frist zu verlangen (BSG 26. November 1968 - 8 RV 503/66 = KOV 1969, 60, 62, insoweit nicht abgedruckt in SozR Nr. 25 zu § 47 VerwVG; hierzu die zusammenfassende Darstellung der Rechtsprechung in Rdschr. BMA vom 2. Juni 1969 - BVBl 1969, 71 -). Darüber, welcher Rechtsnorm diese Frist zu entnehmen ist, besteht allerdings in der Rechtsprechung eine Meinungsverschiedenheit. Nach BSG, Urteil vom 18. August 1966 - 8 RV 917/64 = KOV 1967, 46 - unterliegt die Rückforderung von Leistungen, die auf wissentlich falsches Erklären oder Verschweigen von Tatsachen zurückgehen, den entsprechend anzuwendenden Vorschriften über unerlaubte Handlungen: Sobald die Versorgungsbehörde von dem ihr entstandenen Schaden Kenntnis erlangt, beginnt somit nach dem entsprechend geltenden § 852 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) der Lauf der Verjährungsfrist von drei Jahren. Abweichend hiervon hat das BSG in dem Urteil vom 26. November 1968 = KOV 1969, 60 es abgelehnt, die Rechtsfolge aus den Vorschriften über Schadensersatz zu entnehmen, und ist von einer Verwirkung ausgegangen, die regelmäßig in vier Jahren vor Beginn des Jahres eintrete, in dem die Rückforderung angeordnet werde (im Anschluß an die zu § 47 Abs. 2 VerwVG ergangene Entsch. BSG 21, 27, 33 f.; ferner BSG in KOV 1967, 124; 1968, 93; BSG Urt. vom 14.3.1975 - 10 RV 341/74). Welcher Auffassung zu folgen ist oder ob sowohl eine Verjährung als auch eine Verwirkung in einem Falle wie diesem in Betracht kommen kann, ist gegenwärtig in diesem Rechtszuge nicht zu klären.

Schließlich ist für den Fall, daß das Berufungsgericht in seinem künftigen Urteil die Berichtigungsbefugnis der Versorgungsverwaltung für verwirkt halten sollte, wegen der Forderung des Klägers nach erhöhtem Berufsschadensausgleich folgendes zu bedenken: Streitig ist der Betrag des Durchschnittseinkommens, das der Berechnung des Berufsschadensausgleichs zugrunde zu legen ist. Das VersorgA war davon ausgegangen, der Kläger sei ohne die gesundheitliche Schädigung als kaufmännisch-technischer Angestellter in der Industrie tätig gewesen und in die Leistungsgruppe IV einzustufen; für eine gehobenere Berufsstellung im Zivilleben oder für eine Verwendung des Klägers als Berufsoffizier in der Bundeswehr fehlten jedoch die Voraussetzungen. - Das LSG wird gegebenenfalls diejenigen Grenzen der Bindungswirkung zu beachten haben, die der Senat für einen vergleichbaren Sachverhalt in dem Urteil vom 17. Dezember 1974 - 9 RV 76/74 - aufgezeigt hat. Außerdem wird das Berufungsgericht in Rechnung zu stellen haben, daß die Ermächtigung der Versorgungsbehörde, das Rechtsverhältnis zum Kläger entsprechend der wahren Rechts- und Sachlage zu gestalten, nur soweit eingeschränkt ist, wie der erworbene "Besitzstand" des Klägers reicht (vgl. Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2. Halbband, 15. Aufl. 1960, § 228 IV 4 S. 1396; Soergel/Siebert/Knopp, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 10. Aufl. 1967, Randnummern 322 und 324 zu § 242 BGB). Die Verwirkung bezieht sich allein und nur auf die Zulässigkeit der Berichtigung rechtsverbindlicher Bewilligungsbescheide.

Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648974

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